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Liturgische Nacht
von Jürgen Boeckh

LeerDarüber, daß unser ganzes Leben Gottesdienst sein soll, sind wir uns alle einig. Eine Schwierigkeit liegt darin, daß wir den Begriff „Gottesdienst” auch als Bezeichnung für sehr verschiedene Versammlungen weniger Christen oder einer großen Gemeinde verbinden, in denen man sich bewußt Gott zuwendet und auf ihn hören will. Wer sich scheut, die „Liturgische Nacht” als Gottesdienst zu bezeichnen, sollte erkennen, daß in dieser Nacht auch Elemente des „besonderen Gottesdienstes” enthalten waren.

LeerIch kam erst gegen 22 Uhr, weil ich vorher noch den Vortrag von Ernst Benz über Evangelium und Parapsychologie gehört hatte - auch dies ein Novum auf dem Kirchentag! Zunächst blieb ich als Beobachter am Rande. Ich sah einen jungen Mann auf dem Boden sitzen, der sich seinen Oberkörper bunt bemalte. Daß Mädchen „oben ohne” tanzten, wie ein empörtes Küster-Ehepaar nachträglich verkündete, habe ich nicht bemerkt. Vielleicht handelte es sich um eine Verwechslung, an der die langen Haare der Tänzer schuld waren. „Das Volk blies mit Flöten und war sehr fröhlich, so daß die Erde von ihrem Geschrei erbebte”, heißt es im 1. Buch der Könige (1. 40). Sicher ist in dieser Nacht manches aufgebrochen, was verschüttet war. An uns Berneuchener stellt diese Nacht die Frage, ob wir nicht nach mehr als einem Menschenalter bei der Feierlichkeit gelandet sind, wo es um das Fest gehen sollte. Zu Beginn der 20er Jahre hat Karl Bernhard Ritter in der Neuen Kirche - dem „Deutschen Dom” - zu Berlin Mädchen in weißen Kleidern um den Taufstein tanzen lassen! Ist die „Liturgische Nacht” nicht ein echter Kontrapunkt zum „Politischen Nachtgebet”, in dem protestantischer Ernst und Intellektualismus ihren bisherigen Höhepunkt erreicht haben?

LeerSolche liturgischen Nacht-Feste wird man allerdings nicht sehr oft begehen können. Sie setzen eine Initiativgruppe voraus, die durch kein gedrucktes Formular ersetzt werden kann, und hier wohl auch die „große Zahl”. Ob man jedoch, im Blick auf diese Nacht, von „Meditationsstille” sprechen kann, bleibt mir zweifelhaft. Die zweite Stille dieser Art, bei der ich anwesend war, habe ich jedenfalls nicht als solche empfunden. In meiner Umgebung wurde recht lebhaft weitergesprochen. Um so mehr kam das ekstatische Element, das aus unseren Gottesdiensten verschwunden ist, zur Geltung. Was bei uns nur noch - oder wieder - ritualisiert geübt wird, das Erheben der Hände (wenigstens des Pastors) beim Gebet, hier geschah es wie von selbst, als die vieltausendköpfige Menge das „Herr erbarme dich” sang. Vielleicht haben die Christen in Rom oder Korinth vor bald zwei Jahrtausenden auch so ihr Kyrie gesungen. Die Frage, die manchem Besucher unserer Gottesdienste in alter Form immer wieder vorgelegt wird, ob er denn mit dem Herzen dabei sei, kann man natürlich hier ebenso stellen, wie auch die heute so oft kritisierte liturgische „Wiederholung” gerade in dieser Nacht fröhliche Urständ feierte.

LeerEin Bild am Rande, das zu denken gab: Eine ältere Dame bückte sich mühsam und hob eine Brotkrume auf. Sie wußte offenbar noch, was Hunger ist. Die Analogie zur „Speisung der 5000” hatte auch in der „Liturgischen Nacht” ihre Grenzen.

Quatember 1973, S. 236-237

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-08
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