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Die Wiederkehr des Mythos
von Siegfried Buddeberg

LeerMythos ist Ur- und Endgeschichte, erlebt in den Bildern des Unbewußten. Mythos hat also einen besonderen Bezug zur Zeit und zur Tiefenschicht des Menschen und der Menschheit. Zur Zeit: Er beschäftigt sich nicht mit jenem kleinen Ausschnitt der Geschichte, der durch vorwiegend schriftliche Dokumente klar wie ein historisches Objekt vor uns liegt. Mythos steht daher eigentlich gar nicht im Gegensatz zur Historie, sondern ist etwas ganz und gar anderes, denn auf dem Grunde seines Erlebens wirken jene schier unermeßlichen Zeiträume des vorgeschichtlichen Anfangs und des nachgeschichtlichen Endes. Mythos ist das erste Wort der Menschheit, das nach einem langen Schweigen, dem Schweigen der Vorzeit, aus dem Menschen hervorbrach, und zwar mit einer merkwürdigen Urgewalt. Denn Mythos ist immer groß und gewaltig, er wird nicht erfunden, sondern er findet sich vor, indem er den Menschen überwältigt. Dadurch steht er im Gegensatz zur Legende und zum Märchen, die keine Beziehung zur Urzeit haben, die erfunden sind, um eine Erfahrung auszudrücken, doch nehmen sie in ihren großen Erscheinungsformen auch mythisches Material mit auf. Das haben sie gemeinsam mit der Sage, die sich zwar nicht mit Vor- oder Endgeschichte, aber mit der Frühgeschichte befaßt und oft in mythische Dimensionen übergeht.

LeerDer Mythos also beschäftigt sich mit jenen der Historie unzugänglichen Randgebieten der Geschichte. Man muß annehmen, daß Umfang und Wirkkraft dieser schier unermeßlichen Zeiträume viel nachhaltiger auf das menschliche Bewußtsein eingewirkt haben als der begrenzte Ausschnitt der historisch faßbaren Geschichte, schon einfach weil die Menschheit viel länger im mythischen als im historischen Bewußtsein gelebt hat. Auch die Struktur des mythischen Zeiterlebens ist vom historischen Zeitbegriff grundsätzlich unterschieden. Der Mythos kennt überall nur unbegrenzte und nirgendwo begrenzte Zeit. Die mythischen Ereignisse liegen auch nicht im logischen Nacheinander, sondern im vorlogisch-aperspektivischen Ineinander. Das heißt, die Ereignisse, von denen der Mythos berichtet, werden nicht nacheinander erzählt, sondern die Schichten der logischen Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, überlagern sich und durchdringen sich gegenseitig intensiv.

LeerNur so kann man annähernd verstehen, daß in der absolut vorgeschichtlichen Zeit das Ganze am Ende ebenso ist, wie es im Anfang war: Paradies und neue Welt sind sich ähnlich. Dabei hat man den Eindruck, daß der Übergang vom Mythos zur Historie nicht ein Fortschreiten vom Kleinen zum Großen, sondern umgekehrt vom gigantischen Anfang der Riesen und Helden (1. Mose 6, 1-4) in die historische Enge des bewußten Menschen bedeutet. Das merkwürdige Phänomen der Zeitintegration, das ja auch der modernen Kernphysik nicht unbekannt ist, kommt vor allen Dingen im Kultus zum Ausdruck. Kultus nämlich ist die Vergegenwärtigung der mythischen Vor- und Endgeschichte. Dem mythischen Erleben bedeutet die kultische Feier etwa der Geburt, des Todes und der Auferstehung eines im Kult verehrten und gefeierten Gottes nicht nur dieses alles, sondern sie ist ihm reale, umfassende Wirklichkeit. Denn Mythos und Kultus sind faszinierende Ausdrucksweisen eines vorrationalen Raum- und Zeiterlebens. In diesem Sinne hat sich auch Luther 1529 in Marburg gegen das historische Zeitverständnis Zwinglis für ein mythisch-kultisches entschieden.

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LeerDamit kommen wir zu dem anderen charakteristischen Bezugspunkt des Mythos: Er ist nicht eine vorlogische Denkform, sondern ein Überwältigtwerden von den Mächten des Unbewußten. Darin ist er dem Traum, der Vision und ebenso dem psychotischen und neurotischen Erleben verwandt. „Völker wie Individuen erscheinen daher nur wie Werkzeuge eines mythischen Prozesses, den sie nicht überschauen, dem sie nur dienen können, ohne ihn zu begreifen. Es steht nicht bei ihnen, sich diesen Vorstellungen zu entziehen, sie aufzunehmen oder sie nicht aufzunehmen, denn sie kommen ihnen nicht von außen, sie sind in ihnen, ohne daß sie sich bewußt sind, wie” (Schelling). Mit andern Worten: Jeder Mythos hat etwas Zwanghaftes, er kommt mit überwältigender Kraft über den Ergriffenen. Nur so kann man sich die Grausamkeiten an Tieren und Menschen erklären, die mit urzeitlichen Kulten und mit endzeitlichen Revolutionen verbunden sind: Sie haben ekstatischen Zwangscharakter.

LeerAber haben wir das alles nicht längst hinter uns? Leben wir doch im aufgeklärten zwanzigsten Jahrhundert, in dem solche mythische Erlebnisweisen höchstens für die Entwicklungspsychologie, für Psychosen- und Neurosenlehre noch interessant sein können. Dem steht aber einmal die Tatsache entgegen, daß in der ganzen Breite der Entwicklungsbiologie und der Entwicklungspsychologie Vergangenheit in jeder Gegenwart als ungemein wirksam erkannt worden ist, also auch der scheinbar vergangene Mythos, und daß wir zum andern nach einem vielhundertjährigen Entmythisierungsprozeß in unserem Jahrhundert Ur- und Endzeitmythen von ekstatischer Brisanz erleben, sodaß Beschäftigung mit dem Mythos nicht einem philologisch-psychologischen Sonderinteresse dient, sondern Erhellung unseres eigenen Lebens und unserer Gegenwart werden kann. Um das verstehen zu können, müssen wir dem Prozeß der Verdrängung des Mythos und seiner Wiederkehr in unseren Tagen Zug um Zug nachgehen.

LeerWenn auch der Mythos ein weltweites Phänomen ist, so tritt er uns Abendländern doch am deutlichsten bei den Griechen entgegen, die ja auch Wort und Begriff Mythos geschaffen haben. Im homerischen Griechisch hat der Begriff Wort drei Aussageweisen: Mythos, Logos und Epos. Mythos ist das offenbarende Wort des verborgenen Seins, Logos ist das bedachte, überlegte, der Überzeugung und Überredung dienende Wort, und Epos ist das Wort als Verlautbarung der Stimme. Im Vollzug der griechischen Geistesgeschichte hat nun das Wort Mythos einen schicksalhaften Bedeutungswandel durchgemacht, indem der Logos an die Stelle des Mythos trat. Schon bei Homer treten die Mythen an die Stelle des Mythos, jene Vielheit von erfundenen Göttergeschichten - und Geschichtchen, von denen dann später niemand mehr überwältigt und ergriffen wurde (1. Timoth. 4, 7), während sich die Kraft des griechischen Geistes vom eigentlichen Mythos fort dem Logos der Philosophie zuwandte. Wäre der Prolog des Johannesevangeliums etwa siebenhundert Jahre vor seiner tatsächlichen Abfassung geschrieben worden, hätte er gelautet: Im Anfang war der Mythos, das heißt: Das offenbarende Wort des verborgenen Gottes.

LeerWährend in Griechenland schon relativ früh der Mythos durch den Logos der Philosophie verdrängt wurde, verlief in der Welt des Alten und des Neuen Testamentes die Entwicklung ganz anders. Hier verschmolzen von Anfang an Mythos und Geschichte zu einer unzertrennlichen Einheit. Die Urgeschichte der Schöpfung und der Stammväter wurde geschichtlich verstanden, und geschichtliche Ereignisse, wie der Auszug der Juden aus Ägypten, wurden in mythischer Weise erzählt. Natürlich ist das Geschichtsverständnis des Alten Testamentes nicht mit dem gleichzusetzen, was den Griechen der Logos, der vernünftige Sinn des Seins, bedeutete, aber sie haben doch insofern eine tiefgehende Verwandtschaft, als beide, Logos und Geschichte, rationale Erfahrungen aussprechen; Logos die Erfahrung der Welt, Geschichte die Erfahrung der Zeit.

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LeerDie Verschmelzung von Mythos und Geschichte wird besonders im altisraelitischen Kultus und in zahlreichen Psalmen deutlich, in denen Ur- und Heilsgeschichte als eine umfassende Tat des heilbringenden Gottes gefeiert werden (z. B. Psalm 77, 15-21). Diese Integration von Mythos und Geschichte hat allerdings auch beide tiefgehend verändert: Der geschichtlich gewordene Mythos verlor vom Schöpfungsglauben her seinen eigentümlichen Zwangscharakter, und insofern hat auch im Alten Testament schon sehr früh ein spezifischer Entmythisierungsprozeß angefangen. Doch behielt die Geschichte ebenso vom Schöpfungsglauben her ihre mythische Dimension, ihren bildhaften Horizont.

LeerZwar wurde diese Integration von den kultkritischen Propheten immer wieder in Frage gestellt, doch von den großen visionär-kultischen Propheten Jesaja und Hesekiel bis in das Judentum zur Zeit Jesu hinübergerettet, so daß die Verschmelzung von Mythos und Geschichte auch den neutestamentlichen Schriften zugrunde liegt, wobei allerdings der vom Spätjudentum aufgenommene iranisch-persische Mythos vom Ende der Geschichte gegenüber dem altisraelitischen Schöpfungsmythos in den Vordergrund trat. Nur so kann man verstehen, daß in den synoptischen Apokalypsen (Matth. 24 und Paral.) die Zerstörung Jerusalems mit dem Mythos vom Weltende zu einer Einheit verschmolzen ist. Von dieser Position aus läßt sich auch nur jene „unbefangene und unreflektierte Sicherheit der urchristlichen Gemeinde verstehen, mit der sie in der Nachfolge Jesu einerseits zwischen der jüdischen Apokalyptik und andererseits zwischen der hellenistischen Gnosis hindurchgegangen ist” (Käsemann). Das oben angedeutete integrierende Zeitverständnis des Mythos kam hier der urchristlichen Gemeinde zustatten. Die palästinensische Urgemeinde bremste das apokalyptisch-jüdische Element, was wie gebannt in die Zukunft des Gottesreiches starrte (Apostelgeschichte 1, 6.) mit dem Hinweis, daß mit dem Kommen und Auferstehen Jesu ja die endzeitlich-mythische Zukunft schon Gegenwart geworden sei; während die hellenistische Urgemeinde die gnostische Sicherheit, daß das Heil in der Erkenntnis des Glaubens ja schon voll gegenwärtig sei, durch den Hinweis auf die mythisch-apokalyptische Zukunft in Frage stellte.

LeerReligionsgeschichtlich gesehen liegt im Christentum also eine einmalige Synthese von Mythos und Geschichte vor, die mythische Vergangenheit, geschichtliche Gegenwart und mythische Zukunft zu einer die Zeiten überdauernden Ganzheit zusammengefaßt hat. Erst im Christentum wurde die Gegenwart zu jener von den mythischen Zwängen der Ur- und Endgeschichte befreiten Zeit, die doch zugleich für die anderen zeitlichen Dimensionen offen war. Ja, darüber hinaus brachte die christliche Offenbarung das eigentliche Ende des Mythos und setzte an seine Stelle den Glauben an Christus als den Herrn über Zeiten und Räume, doch geschah das so, daß der Glaube den Mythos aufhob, ihn also beendete, doch in verwandelter Gestalt ihn auch bewahrte. Dabei hat sich das Neue Testament vor allem in den visionären Berichten über den auferstandenen Christus in souveräner Weise mythischer Bilder bedient, um die in Christus erfahrene Freiheit verständlicher zu machen.

LeerDoch wurde diese Mitte von Mythos und Geschichte, von Ur- und Endzeit immer wieder in Frage gestellt und zwar nicht nur von Bewegungen schwärmerischen Charakters (z. B. Donatisten, Chiliasten und Wiedertäufern), sondern auch vom Selbstverständnis der katholischen Kirchen als dem bereits in der Geschichte verwirklichten Heil der Endzeit wie auch von dem fortlaufenden Entmythologisierungsprozeß des Protestantismus. Mit diesem nimmt er teil an dem schon Jahrtausende währenden Versuch, den Mythos durch den Logos zu verdrängen.

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LeerDieser Prozeß beginnt in der griechischen Welt schon mit Aristoteles, der das Denken in Bildern scheinbar endgültig durch ein Denken in Begriffen ersetzt hat. Mit der Aufnahme seines Denkstils in die scholastische Theologie war ein erster Schritt zur Entmythologisierung im Raum der christlichen Kirche getan. Es folgte der theologische und tatsächliche Bildersturm des Protestantismus, der im neuzeitlichen Rationalismus und Positivismus seinen Höhepunkt erreichte. Wie aber alles Verdrängte unfehlbar und mit krankmachender Dynamik wieder hervorbrechen muß, so erleben wir in den letzten zweihundert Jahren einen sich steigernden Durch- und Aufbruch mythischer Kräfte. Der Deutsche Idealismus und die Romantik des vorigen Jahrhunderts sind die ersten Vorboten einer Wiederkehr des Mythos.

LeerIch denke dabei nicht nur an das engagierte Interesse der Romantik an allem Ursprungsmythischen und an die große spekulative Philosophie der Mythologie von Schelling, sondern vor allem an die viel wirksamer gewordene Geschichtsphilosophie Hegels, welcher der uralte mythische Dreischritt von Urzustand, Abfall und Wiederherstellung des Urzustandes zugrunde liegt. Hegels Denkmodell wurde darum so faszinierend, weil sich in ihm der alte griechische Glaube an den Logos mit christlichem Geschichtsdenken so genial verband, daß der mythische Untergrund seiner dialektischen Logik von These, Antithese und Synthese, logische Abbilder von Urzustand, Abfall und Vollendung des Geistes, kaum noch zu erkennen war. Daß jedoch in Hegels Geschichtsphilosophie und Dialektik sich ein erster Durchbruch mythischer Dynamik ereignet hatte, zeigt die weitere Entwicklung bis in unsere Gegenwart. Was nämlich seither geschichtsmächtig geworden ist, sind Ursprungs- und Endzeitmythen von ekstatischer Brisanz: Der Biologismus des Faschismus und der Glaube an die Urgewalt der Triebe, wie ihn Siegmund Freud verkündet hat, ebenso wie der apokalyptische Mythos des Marxismus und schließlich die Verbindung beider Mythen in der neomarxistischen Romantik.

LeerDem Faschismus und Nationalsozialismus mit allen seinen verheerenden Folgen liegt der uralte mythische Glaube an Blut und Boden zugrunde. Aber auch die Psychoanalyse gründet sich auf einen Ursprungsmythos, wenn sie sich auch noch so kritisch-rational in ihrer Seelenmechanik ausgibt. Das, was Freud entdeckt und entfesselt hat, sind verdrängte mythische Urgewalten. Dieser Zusammenhang ist Freud selbst erstmalig 1913 aufgegangen, als er die merkwürdige Ähnlichkeit des Seelenlebens von Zwangsneurotikern mit dem mythischen Verhalten primitiver Völker in Totem und Tabu entdeckte. Der alte, immer pessimistischer werdende Freud hat schließlich seine Trieblehre selbst als neue Mythologie verstanden: „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.” In dieser Formulierung ist das Wesen des Mythos genial erfaßt: Sein Überwältigungscharakter, seine Verwandlungsfähigkeit und seine Irrationalität. Während der Tiefenpsychologie ein Überwältigtwerden des Menschen von ursprungsmythischen Triebkräften zugrunde liegt, erleben wir im Marxismus ein Ergriffensein von endzeitmythischen Gewalten. Daß die in unserem Jahrhundert wiederkehrenden Mythen sich mit dem Gewand pseudowissenschaftlicher Analysen umgeben, also als Ideologien auftreten, muß uns nicht daran hindern, ihren genuin mythischen Charakter zu erkennen. Wenn säkularisierte Mythen auch ihres religiösen Charakters scheinbar entkleidet sind, so bricht ihre mythische Dynamik doch ungehemmt hervor. Daß nicht nur die individuelle und kollektive Vergangenheit, sondern auch die Zukunft mit Träumen und Gesichten das Unbewußte erfüllt, wie zum Beispiel im Phänomen des zweiten Gesichtes und der prophetischen Vision, hat die vorwiegend ursprungsmythisch orientierte Tiefenpsychologie noch gar nicht recht in den Blick bekommen.

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LeerVon daher könnte sich eine grundlegende Korrektur des tiefenpsychologischen Denkmodells ergeben. Endzeitmythen haben in der Religionsgeschichte ihren klassischen Ausdruck in der Apokalyptik gefunden. Diese im Spätjudentum zwischen Altem und Neuem Testament aufbrechende Bewegung hat religionsgeschichtlich drei Wurzeln: Den persischen Mythos vom Verbrennen der Welt (2. Petr. 3,10), einer der Verfinsterung verfallenen Welt, mit dem das Exiljudentum bekannt geworden war, die griechisch-hellenistische Kosmologie und die jüdisch-prophetische Hoffnung auf den Messias-Menschensohn mit seiner neuen Welt. Es ist wichtig zu wissen, daß der apokalyptische Mythos nicht auf das Judentum beschränkt, sondern ein weit verbreiteter mythischer Ausbruch ist, der ja auch in der germanischen Mythologie als Weltenbrand vorkommt, und sich immer dann zu ereignen scheint, wenn die Menschheitsgeschichte an kritischen Punkten angelangt ist. Drei Grundüberzeugungen liegen der Apokalyptik zugrunde: Ein tiefer Geschichtspessimismus. Die gegenwärtige Zeit und Gesellschaft sind so heillos verdorben, daß keine Möglichkeit abzusehen ist, sie wieder menschlich zu machen. Dieser Pessimismus steigert sich oft zum ekstatischen Haß gegen alles Bestehende, gegen jedes Establishment. Deswegen ist der einzige Ausweg die Vernichtung der bestehenden Welt und Gesellschaft durch ein Gericht von kosmischen Ausmaßen oder eine die ganze Weltgesellschaft umfassende Revolution. Danach erst kommt die neue Welt und Gesellschaft, in der endlich Gerechtigkeit wohnen wird. In mythischen Bildern wird auch bei Marx und Marcuse diese neue Welt als Wiederkehr eines paradiesischen Anfangs ausgemalt.

LeerAuch die urchristliche Gemeinde war mit Jesus von diesem Mythos aufs tiefste ergriffen, hat ihn aber vom Schöpfungsglauben und von der Erfahrung her umgestaltet, daß ja mit dem Leben und Auferstehen Jesu die neue Welt i n dieser Zeit schon angebrochen sei. Sie hat damit der Apokalyptik ihren tiefen Pessimismus und den darin begründeten Haß gegen die bestehende Welt genommen, denn die neue Welt ist im Kommen schon gegenwärtig. Auch das rabbinische Judentum hat sich vom Schöpfungsglauben her von der Apokalyptik distanziert. Doch blieb in beiden Religionen das apokalyptische Lebensgefühl latent wirksam.

LeerOb der junge Marx, der aus einer alten Rabbinerfamilie stammte, die Apokalyptik genau gekannt hat, spielt für seinen apokalyptischen Mythos keine Rolle. Er war einfach der genial-unheimliche Vulkan, aus dem in einer schicksalhaften Stunde der Menschheit, am Beginn des modernen Industriezeitalters, ein erneuter apokalyptischer Ausbruch erfolgte. Wie alle modernen Mythen erscheint auch der Marxismus im Gewand einer pseudowissenschaftlich-soziologisch-ökonomischen Analyse. Apokalyptisch-mythisch am Marxismus ist der Haß gegen alles Bestehende, wie er zum Beispiel im kommunistischen Manifest von 1847 zum Ausdruck kommt, sein pseudokultisches Auftreten mit Prozessionen, Fahnen und Heiligenbildern und schließlich seine vollständige Geschichtslosigkeit infolge einer ausschließlich endzeitmythischen Ausrichtung auf die Zukunft. Die Wiederkehr des Mythos in unseren Tagen findet ihre Vollendung in der Verbindung der psychoanalytischen Triebmythologie mit der marxistischen Apokalyptik in der neomarxistischen Romantik. Triebstruktur und Gesellschaft sind nach H. Marcuse und A. Placht beide gekennzeichnet durch das Phänomen der Verdrängung und der Unterdrückung (Repression) und verhindern die Menschheit an ihrem wahren Glück. Die ekstatischen Prozessionen von Hippies, Gammlern und Beatles durch die westliche Welt, ihre große Weigerung gegenüber der technologischen Leistungsgesellschaft und ihre romantische Natursehnsucht sollen auf dem Wege der sexuellen Revolution die apokalyptische Weltrevolution vorbereiten.

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LeerWelche Orientierungshilfen sind angesichts einer solchen Wiederkehr des Mythos dem Christen zu geben? Der große christliche Denker des neunzehnten Jahrhunderts, F. W. J. Schelling, hat einmal von einem Mythos der Vernunft als der zukünftigen Gestalt christlichen Glaubens gesprochen. Das scheint zunächst ein Widerspruch in sich selbst zu sein, deutet aber doch die Umrisse einer der christlichen Offenbarung und dem Lebensgefühl des zwanzigsten Jahrhunderts entsprechenden Glaubensgestalt an. Unter Zugrundelegung unserer Besinnung könnten wir diese kommende Gestalt als einen Mythos der geschichtlichen Vernunft bezeichnen. Was heißt das? Daß die Vernunft ihren mythisch-vorbewußten Untergrund erkennt und annimmt, und zum andern, daß der Mythos nicht historisch, sondern geschichtlich verstanden wird, indem seine historische Randständigkeit in Ur- und Endgeschichte angenommen und zugleich seine untergründige Wirkung in allen geschichtlichen Dimensionen, auch in der historischen, erkannt wird.

LeerDie Vernunft ist nun einmal das Schicksal der an der Technik orientierten Weltgesellschaft geworden. Es gibt aus ihr trotz neomarxistischer Romantik kein Zurück, sondern nur ein Vorwärts mit ihr, aber eben ein Vorwärts mit einer geschichtlich-kritischen Vernunft. Ein Blick auf die lange Geschichte der Vernunft zeigt, wie sehr sich im Wandel der Zeiten der Vernunftbegriff geändert hat. Der Vernunft kann daher heute nicht mehr in irgendeiner absoluten oder systematischen Form vertraut werden. Die Vernunft muß durch die Geschichte relativiert werden und muß sich eingestehen, daß auf ihrem Grunde immer vorlogische, mythische Bilder liegen, die ihre Gestalt bestimmen. Sie muß erkennen, daß allen ihren Begriffen der Umgriff der mythischen Bilder vorangeht. Eine so kritische Vernunft verzichtet auf jede Art von geschlossenem System, sei es ein idealistisches, ein geschichtliches oder ein materialistisches (Hegel und Marx). Sie ist nichts mehr als ein kritisches Orientierungswagnis (Hans Albert), mit dem allein technische Weltbewältigung im zwanzigsten Jahrhundert Schritt für Schritt gewagt werden kann und muß.

LeerDie christlichen Kirchen werden sich auf ihren Glauben zu besinnen haben, der, wie oben dargestellt, ursprünglich eine Einheit von Mythos und Geschichte war und ein vorwiegend auf das Ende bezogener Glaube, also ein apokalyptischer, ist. Insofern ist die Apokalyptik tatsächlich „die Mutter der christlichen Theologie” (Käsemann). So hat sich schließlich auch die frühe christliche Kirche selbst verstanden, als sie ein so urmythisch-apokalyptisches „Bilderbuch” wie die Offenbarung des Johannes mit in den Kanon des Neuen Testamentes aufnahm. Doch wie in der Johannesapokalypse das oben dargestellte apokalyptische Lebensgefühl durch die Lobgesänge der Gemeinde immer wieder unterbrochen ist, so ist auch in den Evangelien der apokalyptische Mythos verwandelt durch die Freude, daß mit dem Kommen Jesu die neue Welt schon da ist. Diese Freude nimmt dem Mythos seinen unheimlichen Haß auf alles Bestehende und seinen zwanghaft-ideologischen Charakter, dem aller vor- und außerchristliche Mythos unterworfen ist. Auf dieser Rückkehr zu dem ihr eigenen Glauben hat es die christliche Kirche auch nicht mehr nötig, sich in einem säkularen Entmythologisierungsprogramm zu engagieren, das an einem veralteten Begriff historisierender Vernunft orientiert ist. Denn der Mythos ist und bleibt die genuine Sprache alle Religionen und auch des christlichen Glaubens. Nimmt man ihm den Mythos, so bleibt nur ein totes Christentum zurück. Das Entmythologisierungsprogramm kann dem christlichen Glauben nur insofern dienen, als es ihm hilft, den in ihm aufgehobenen Mythos als solchen zu erkennen, ohne ihn ausscheiden zu wollen.

LeerDer so in die christlichen Kirchen heimkehrende Mythos wird schließlich auch die überlegene Kraft haben, in den Mythen fremder Religionen sein eigenstes Anliegen angedeutet zu finden, wie es der Apokalyptiker Johannes tat, als er griechische und vorderasiatische Mythenbilder mit in seine Offenbarung aufnahm (Apok. 12). Schließlich wird die neue Begegnung von Mythos und geschichtlich kritischer Vernunft auch die vitale Kraft erzeugen, den ideologischen Mythen der Gegenwart, denen die technologische Vernunft so ratlos gegenübersteht, mit einer neuen Freiheit zu begegnen, die in der Kraft des Evangeliums allen mythischen Zwängen überlegen ist.

Quatember 1974, S. 3-10

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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