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Der Widerstand der Natur
von Gérard Siegwalt

LeerWas mit den Umweltfragen gemeint ist - Umweltverseuchung als jedermann erkennbarer Tatbestand einerseits, Umweltschutz als notwendige, allgemeine Aufgabe anderseits -, ist zu Genüge bekannt. Dieser Fragenkomplex ist im Laufe von etwa zehn Jahren mit Macht ins allgemeine Bewußtsein getreten. Eine elementare Erkenntnis bricht überall durch, die sich in dem Wort „Überleben” ausspricht: es geht um das einfache Überleben der Menschheit. Daß hier alles zusammenhängt, Um-welt und Innen-welt, draußen und drinnen, Welt und Herz, tritt auch mehr und mehr klar zutage: leitende Gremien wie die internationale Konferenz von Stockholm im Juni 1972 oder der Bericht des Club of Rome sprechen von der Notwendigkeit eines Gesinnungswechsels des Menschen, einer Umkehr zu neuen Werten, die aber im Grunde alte Werte sind. Die Grundlagenkrise unserer westlichen Welt, die plötzlich an sich zweifelt, bringt zweierlei mit sich: einmal die Tatsache, daß dem Menschen alle Errungenschaften der heutigen Zivilisation als zweideutig erscheinen, da sie in aller ihrer Größe den bitteren Beigeschmack der In- und Umweltverschmutzung und der damit gegebenen Lebensgefährdung enthalten; dann die Einsicht, daß alle Weltherrschaft des Menschen getragen sein muß von der Weltpflege, daß die Kosmologie als der Ausblick des Menschen in die Weite gehalten sein muß durch die Ökologie, den Blick des Menschen auf den kleinsten Raum seines Lebens in seiner unlösbaren Verwobenheit mit dem, was wir die Natur nennen.

LeerEs handelt sich darum, zu erkennen, daß nichts von ungefähr ist, daß hinter jedem Symptom eine Ursache steckt und daß die Krise nicht im Symptom, sondern in der Ursache ihren Grund hat. Es geht ganz einfach um den Aufweis dessen, was man die immanente Gerechtigkeit nennt, die Tatsache also, daß eine falsche Weichenstellung auch Konsequenzen hat.

LeerIch möchte hierzu auf mehrere Punkte hinweisen:


 1. Die in den Umweltfragen aufbrechende Situation ist eine Zivilisationserscheinung. Wir leben in der industriellen Zivilisation; sie begann mit der Erfindung der Dampfmaschine, verfestigte sich mit der Entdeckung oder richtiger der Domestizierung der Elektrizität, und triumphiert heute in der Technik mit ihren Spitzenleistungen, der Kybernetik und der Informatik. Die industrielle Zivilisation ist also die Zivilisation der Mechanik und der Technik; sie ist durch die Herrschaft über Materie und Raum gekennzeichnet.
 2. Die Zivilisation steht nicht auf sich selber, sondern auf der Kultur, und somit ist die heutige Zivilisation eine Kulturerscheinung. Die Kultur ist Sache des Geistes, der Gesinnung. Die industrielle Zivilisation beruht auf einer Kultur, die durch die Kategorie der Quantität beherrscht ist. Die Geistkategorie der Quantität oder einfacher: die quantitative Gesinnung besteht darin, daß die Wirklichkeit als Quantität erfaßt wird; dies geschieht durch Beobachtung und Experiment, mit Mitteln, die größte Präzision ermöglichen.

LeerAls Kulturerscheinung hängt die industrielle Zivilisation an einer bestimmten Form von Wissenschaft, die zur heute weithin herrschenden geworden ist. Die moderne wissenschaftliche Kultur geht von der Renaissance aus, mit ihrer Wiederentdeckung nicht nur der Geisteswissenschaften des Altertums, sondern auch der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik des Aristoteles. Galilei, Kepler, Kopernikus haben als erste eine im modernen Sinne wissenschaftliche Auffassung der Welt, wenn ihnen das auch nicht vollkommen bewußt wurde. Descartes (Cartesius) wird der Theoretiker der modernen Wissenschaft; grundlegend ist seither seine Unterscheidung zwischen dem Objekt der Wissenschaft, die res extensa, die ausgedehnte Materie, und dem Objekt der Philosophie, die res cogitans, das nicht ausgedehnte Denken, das den Gottesgedanken beinhaltet. Descartes steht am Anfang der Zweiheit, die ein Dualismus zu werden droht, zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Die Natur, die res extensa, ist „objektiv”, gegenständlich; das Denken ist Sache des Subjekts. Das sogenannte Subjekt-Objekt-Schema, wie es für die moderne wissenschaftliche Kultur kennzeichnend ist, hat bei Descartes seinen Ursprung.

LeerDiese Aufgliederung der Wirklichkeit hat schwerwiegende Folgen: Ist die Natur eigentlich das Leben, wie es sich vom Mineralischen über das Vegetalische bis hin zum Animalischen entwickelt, so wird sie seit Descartes auf ihre Objektivität, das heißt auf ihre abstrakte Gegenständlichkeit hin mißverstanden. Die Natur wird, mit Tillich zu reden, zur Welt. Die Welt ist die objektive Natur, also die Natur, die auf ihre Gesetze reduziert ist, und zwar auf die mit dem Quantitätsdenken erfaßbaren Gesetze. Als Welt wird die Natur zu etwas, das „experimentell kennbar und objektivierbar, technisch manipulierbar und benutzbar ist” (R. Simon, „Le ver dans le fruit.” In Christianisme Social 1972). Es handelt sich hier um ein materialistisches Mißverständnis der Natur. Der Materialismus ist die Auffassung, die die Natur auf die Materie reduziert und sie so zur Welt macht. Man kann auch einfach von einem funktionellen Mißverständnis der Natur reden: die Natur wird hier auf ihre Funktion hin angesehen, nicht auf ihr Wesen hin. Es ist offensichtlich, daß das funktionelle Verständnis der Natur ein funktionelles Verständnis auch des Menschen einschließt. Wo die Natur zur Funktion, zum „Zeug”, zum Objekt wird, da wird der Mensch auch dazu, und da spricht man dann vom Experiment Mensch, vom manipulierbaren und manipulierten Menschen.

LeerEs kann hier nur angedeutet werden, daß dieses Verständnis der Natur in der Theologie überall da sich durchgesetzt hat, wo der Schöpfungsbefehl von Genesis 1, 28 („. . . füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht”) im Sinne der Weltherrschaft des Menschen ausschließlich der Weltpflege, also im Sinne der Weltausbeutung verstanden wird, mag dies in noch so verblümter Form ausgesprochen sein. Wissenschaftlich wird die genannte Auffassung der Natur heute in nicht zu überbietender Weise von Jacques Monod („Le hasard et la nécessité”) vertreten. Monod vertritt eine „Ethik der Objektivität”, die er auf alles angewendet wissen will. Er sieht den Menschen aber als immer noch nicht ganz dieser Ethik gewachsen an. Der Mensch bleibt - nach Monod „leider” - weiterhin durch den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bestimmt. Aber die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit kann nur dahin führen, daß dieser Gegensatz überbrückt und die immer bleibende Subjektivität des Menschen mehr und mehr sich der Objektivität alles Gegebenen zuordnet und so reif wird für die „éthique de l'objectivité”. Wenn die genannte Theologie mit ihrem, den Naturwissenschaften entlehnten objektiven und das heißt funktionell-quantitativen Naturverständnis, kein ähnliches Verständnis des Menschen verbindet, so hängt das an der von Descartes herkommenden Entgegensetzung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften.

LeerNatur und Geist werden getrennt, das heißt: die Naturwissenschaften sind vom Geist getrennt, und die Geisteswissenschaften sind von der Natur getrennt. Das ist jedenfalls soweit der Fall, als die Geisteswissenschaften nicht einfach ihre Besonderheit an die Naturwissenschaften abtreten und sich so selbst aufgeben. Was man heute die „humanen Wissenschaften” nennt (Psychologie, Soziologie und damit zusammenhängende Wissenschaften), wenden den Begriff der Natur, wie die Naturwissenschaften sie verstehen, weitgehend auf den Menschen, seine Psyche und auf die menschliche Gesellschaft an. Die so verstandenen humanen Wissenschaften sind nicht eigentlich Geisteswissenschaften mehr. Wo sie aber ihren Namen zu Recht tragen, werden sie einseitig, verstehen sie doch den Menschen in seiner Gegensätzlichkeit der Natur gegenüber, in seiner Entfremdung von der Natur. Der Mensch wird auf seine Geschichtlichkeit reduziert. Der Erfolg, den dieser Begriff der Geschichtlichkeit seit dem 19. Jahrhundert kennt, ist bezeichnend für die gegenwärtige geistige Lage. Die Philosophie des Subjektes, verstanden als Beziehungssubjekt, die Philosophie also der Beziehung des Ich zum Du, die Ethik als Wissenschaft des zwischenmenschlichen Verhaltens, diese zusammenhängenden Richtungen der Geisteswissenschaften stehen dem objektivistischen Naturverständnis eines Jacques Monod gegenüber. Die Kultur unserer heutigen Zivilisation ist schizophren, wo der Mensch die Eindimensionalität des herrschenden Naturverständnisses ablehnt. Die Kultur bietet heute nur diese Alternative: entweder Eindimensionalität oder Schizophrenie.

LeerWas durch das Aufgeben der Natur durch die Geisteswissenschaften verloren gegangen ist, mag folgender Ausspruch von Albert Schweitzer zu erkennen geben: „Der große Fehler aller bisherigen Ethik ist, daß sie es nur mit dem Verhalten des Menschen zum Menschen zu tun haben glaubte. In Wirklichkeit aber handelt es sich darum, wie er sich zur Welt und allem Leben, das in seinen Bereich tritt, verhält. Ethisch ist er nur, wenn ihm das Leben als solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist und er sich dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt. Nur die universelle Ethik des Erlebens der ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung gegen alles, was lebt, läßt sich im Denken begründen. Die Ethik des Verhaltens von Mensch zu Mensch ist nicht etwas für sich, sondern nur ein Besonderes, das sich aus jenem Allgemeinen ergibt.”
 3. Der Erfolg des modernen Naturverständnisses kann nicht geleugnet werden. Die wissenschaftliche Kultur hat ihre Wirksamkeit zur Genüge gezeigt. Man kann nur feststellen, daß die Natur eine, im Sinne Tillichs, „Welt”-dimension hat, daß das Quantitätsdenken also in der Natur selber begründet ist. Das Quantitätsdenken funktioniert, ist wirksam! Wir haben schon von dem Preis gesprochen, den der Mensch dafür zu bezahlen hat. Es soll aber auch der Ertrag nicht vergessen werden, den dies Naturverständnis dem Menschen, wenn auch bis jetzt hauptsächlich in der westlichen Welt, eingebracht hat. Erfolg, Fortschritt, Entwicklung sind nicht von ungefähr Worte unserer modernen Zeit. Wir können nicht hinter das, was sie besagen, zurückschalten. Gewiß kann uns das alles genommen werden. Was das aber an Entsagung bedeuten würde, ist kaum auszudenken, so sehr haben wir uns an das alles gewöhnt.

LeerAber mit dieser Art Erwägungen kommen wir nicht sehr weit. Wir gehen damit an einem Tatbestand vorbei, der sich uns mehr und mehr unüberhörbar aufdrängt, nämlich, daß das gewiß sehr teuer bezahlte, aber eben doch erfolgreiche Naturverständnis der modernen Welt heute offensichtlich am Erlahmen ist, besser: daß die Natur selber in einen Prozeß eingetreten ist, der auch im juristischen Sinn ein Prozeß gegen ihre Vergewaltigung durch das Quantitätsdenken des Menschen ist. Die Natur streikt, wird krank, die Maschine - als solche wird sie ja weitgehend seit Descartes verstanden - macht nicht mehr recht mit. Es geschieht etwas vor unseren Augen, was wir mit einem Reiter vergleichen können, den das von ihm dressierte Pferd bisher ohne Überraschungen geduldig und mit wachsendem Erfolg trug und das nun mit einem Mal dem Reiter weniger und weniger gehorcht und immer neu versucht - mit steigender Aussicht, daß ihm das eines Tages auch gelingt - ihn abzuschütteln. Dies Bild umschreibt ziemlich genau die uns heute bekannte Lage. Die Umweltfragen sind nichts anderes als der Ausdruck des wachsenden Mißmutes und der Empörung der Natur gegen das, was sich als ihre Vergewaltigung erweist. Die Natur widersteht dem Menschen!

LeerEs braucht und kann auch hier der Naturbegriff nicht selber durchdacht und geklärt zu werden. Nur andeutend sei gesagt, daß die Natur eine ambivalente Wirklichkeit ist. Die Natur ist nicht nur Lebens-, sondern auch Todesprozeß; nicht nur der Lebenskeim, sondern auch das Todesschicksal ist in ihr wirksam. Wenn deshalb die Umweltfragen auf den Widerstand hinweisen, den die Natur dem Menschen entgegenhält, so ist damit nichts eigentlich Neues über die Natur und ihr Verhalten dem Menschen gegenüber ausgesagt. Die Natur, die einerseits das Leben des Menschen trägt, hat dem Zugriff des Menschen schon immer widerstanden. Die Natur ist vom Menschen nie ganz domestiziert worden und wird es auch nie ganz werden, es sei denn, daß der Mensch ihr durch heute verfügbare Vernichtungsmittel den Todesstoß gibt. Aber das ist ja keine Domestizierung mehr.

LeerEs muß deshalb gefragt werden, was denn an dem heute in Erscheinung tretenden Widerstand der Natur neu ist. Dies Neue ist nichts anderes als der Widerschein dessen, was an der Haltung des Menschen der Natur gegenüber neu ist: Ist ein Widerstand der Natur dem Menschen gegenüber „naturgemäß”, so ist er heute „zivilisations”-gemäß. Die Natur speit dem Menschen das Zivilisationsprodukt der quantitativen Naturwissenschaft als zu wenig naturgemäß zurück. An dem Widerstand der Natur zeigt sich, daß die Kultur des Menschen, die sich in der Zivilisation ausdrückt, auf dem Wege ist, zur Anti-Kultur zu werden, denn die heutige Kultur führt weitgehend zur Zerstörung der Natur und somit auch des Menschen. Gewiß ist Kultur immer ein Neues, Spezifisches gegenüber der Natur. Kultur ist Geisteswerk, also Werk des Menschen als Geist. Das Werk des Menschen ist niemals nur Kultur, sondern auch immer Unkultur: sein Werk gelingt ihm niemals ganz. Aber mit Anti-Kultur ist etwas anderes als Unkultur gemeint, nämlich die Tatsache, daß die Kultur die Beziehung zur Natur verliert und sich damit als Werk nicht des Geistes, sondern des Ungeistes, ja des Anti-Geistes erweist. - Der Widerstand der Natur und die damit gegebene Lebensgefährdung des Menschen ist dafür ein nicht zu übersehender Hinweis. Der (zivilisationsgemäße) Widerstand der Natur, der der Menschheit heute entgegentritt, ist der Widerstand Gottes. Gott widersteht dem Hoffärtigen, der sich einzig und allein über und nicht zuerst in die Natur gestellt meint. Naturherrschaft ist nur auf Grund der Naturpflege - also der Kultur! - möglich. Genesis 1, 28 muß im Zusammenhang mit dem im 2. Schöpfungsbericht Gesagten, mit Genesis 2,15 verstanden werden: „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaue und bewahre.”
 4. Es ist jetzt von der religiösen Bedeutung der Umweltfragen zu reden. Der hiermit angeschlagene Ton mag überraschen, leben wir doch, wie uns von allen Seiten her gesagt wird, in einem nicht-religiösen Zeitalter. Ich will mich mit dieser Auffassung nicht streiten, weil sie den Dingen nicht auf den Grund geht. Stattdessen möchte ich ganz einfach darauf hinweisen, daß der sogenannte nicht-religiöse Mensch unserer Zeit die Umweltfragen je länger je mehr religiös erlebt und versteht, das heißt als Fragen, von denen er letzten Endes in seiner tiefgründigen und das ist seiner religiösen Wirklichkeit betroffen ist. Ich möchte die Behauptung wagen, daß die Umweltfragen der Anlaß und schon zugleich der Ausdruck eines religiösen Erwachens des heutigen (westlichen) Menschen sind.

LeerSo zitierte kürzlich der deutsche Biologe Illies den Mephisto aus Goethes Faust: „Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange”, und fuhr fort: „Längst ist diese Bangheit uns vertraut, längst hat sich der Verlockung, was wir alles könnten, die Frage zugesellt, ob wir es auch alles dürfen, ja seit kurzem fragen wir uns bedrückt, ob wir denn alles durften, was wir schon taten. Nicht, was wir an bewußt Bösem taten, sondern auch was in guter Absicht oder ohne viel Überlegung, im Glauben an den Fortschritt, im stürmischen Siegeszug von Biotechnik und Medizin, von Industrialisierung und Urbarmachung der Erde geschah . . . Die eigene Macht zur Bewältigung der Natur hat uns in Eigenmächtigkeit geführt. Eigenmächtigkeit und Unbekümmertheit aber sind die entscheidenden Fehlhaltungen einer Menschheit, die glaubte, auf vorgegebene biologische und sittliche Gesetze verzichten zu können und die sich selbst neue Gesetze entwirft. Unsere Not ist eine Folge unseres hochmütigen Verzichtes auf Transzendenz.”

LeerIn solcher Klarheit mag diese Stimme noch vereinzelt dastehen. Sie weist aber auf den Tatbestand hin, daß die überholte Religion uns einholt. Ein französischer Biologe, Canguilhem, sprach anläßlich eines in Straßburg veranstalteten Colloquiums über „Technik und Eschatologie” auf seine Art, als Agnostiker, ähnliches aus wie der Christ Illies. Auf die Tatsache hinweisend, daß die Probleme, die sich unserer Zeit stellen, immer komplexer und unübersehbarer werden, sagte er, in Anlehnung an einen Ausspruch von Husserl: „Wir halten heute Ausschau nach einem Funktionär für unseren Planet, der eine globale Lösung anzubieten hat für die Probleme unserer technischen Welt, die in ihrer Vielfalt und Schwerwiegenheit uns mehr und mehr über den Kopf wachsen.” Das nenne ich die religiöse Erfahrung, die wir mit den Umweltfragen machen: es ist die Erfahrung einer Grenze. Die Grenzerfahrung ist eine religiöse Erfahrung, denn hier erfährt der Mensch seine Endlichkeit. Auf diese seine Endlichkeit verweisen die Umweltfragen den Menschen, und an dieser Grenze erfährt der Mensch neu die Transzendenz. Die Welt ist nicht unendlich. Nun ist der Grenzbegriff in der Theologie seit Bonhoeffer ziemlich verpönt. Bonhoeffer erweist sich darin als ein Kind seiner Zeit, daß ihm die Grenze im technischen Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten irgendwie suspekt vorkam. Er stellte der Aussage, daß Gott an der Grenze erfahren wird, die andere entgegen, daß er im Zentrum, in der Mitte der Wirklichkeit, in die er in Christus hereingekommen ist, erkannt wird. Ich glaube, beides ist wahr: das Christliche, von dem Bonhoeffer spricht, ist das Zentrale; das Religiöse, von dem ich spreche, ist das Grenzhafte. Das Religiöse ist eine Erfahrungsdimension, die durch das Christliche nicht aufgelöst, vielmehr ins Christliche aufgenommen oder besser ins Christliche „aufgehoben” wird.

LeerDie Grenzerfahrung ist nicht in dem Sinn eine Grenzerfahrung, daß sie an der Grenze, an der Peripherie läge; die Grenzerfahrung ist vielmehr eine Erfahrung, die wir in der Mitte der Existenz und der Welt machen; denn Mensch und Welt sind ja nicht nur an der Peripherie endlich, sondern sind es wesentlich. Die Grenzerfahrung ist die Todeserfahrung inmitten des Lebens. Sie liegt also in der Mitte, und die Bedeutung der Christuswirklichkeit für die Mitte der Wirklichkeit kann nur dann erkannt werden, wenn wir Mitte und Grenze nicht in gegenseitiger Distanz, sondern in eins sehen. Die Grenzerfahrung macht nun aber nicht allein die religiöse Bedeutung der Umweltfragen aus. Das Religiöse ist auch durch das gekennzeichnet, was Martin Buber das „Zwischen” nennt. Das ist ja die Grunderkenntnis, die sich in der Ökologie ausspricht: die Ökologie ist die Wissenschaft der Beziehung zwischen allem Lebenden und seinem „Oikos”, seiner Behausung, seiner Umwelt. Der Mensch steht nicht nur über der Welt, sondern auch in der Welt, als ein Glied inmitten anderer Glieder, die alle miteinander verbunden sind. Mit dem Kosmos auf der einen Seite, dem Oikos auf der anderen, ist eine Polarität bezeichnet, innerhalb derer sich der Mensch bewegt: er ist zugleich auf das Weltall und auf den besonderen Lebensraum bezogen. In der Physik mit ihrer Folge, der Technik, drückt der Mensch seine Beziehung zum Weltall aus und zwar auf Grund der in Physik und Technik verabsolutierten Vereinseitigung der Wirklichkeit, in quantitativen Kategorien. Physik und Technik sind die Wissenschaften der Materie. Ihnen gegenüber stehen die Wissenschaften des Lebendigen: das sind die Biologie und, ihr verbunden, die Ökologie.

LeerDie Spaltung besteht demnach nicht nur zwischen den Naturwissenschaften insgesamt einerseits und den Geisteswissenschaften andererseits, sondern die Spaltung geht mitten durch die Naturwissenschaften selber hindurch. Es ist für die Zukunft der Menschheit und der Welt von entscheidender Bedeutung, ob diese Spaltung innerhalb der Naturwissenschaften überbrückt werden wird oder nicht, und das hängt zuletzt von der Frage ab, ob die Biologie, die bislang weitgehend von der Physik und also von dem quantitativen Denken abhing, zu sich selber finden wird oder nicht. Die Frage ist also, ob die Biologie auf Grund der ökologischen Erkenntnis, also auf Grund der Erkenntnis der Beziehung alles Lebendigen zu seinem Milieu, sich entschieden auf die Seite der Ökologie schlagen wird. Wo das geschieht, wo die Naturwissenschaften in ihrer gegenwärtigen Opposition als Wissenschaften der Materie und als Wissenschaften des Lebendigen die Entgegensetzung von der ökologischen Erkenntnis her überwinden werden, wo sie also die regulative Funktion, die die Ökologie für alle anderen Naturwissenschaften hat, anerkennen werden, da wird auch der entscheidende Schritt getan sein, der zur Überwindung der Entgegensetzung der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften führen wird. Denn der Geist ist nichts anderes als das „Zwischen”, das, was ein Glied der Wirklichkeit mit dem anderen verbindet. Der Geist ist in der Natur als solcher wirklich, und der Geist in der Natur wird sich im Geist des Menschen seiner selbst bewußt, und dadurch kommt es zur Kultur und zur Geschichte im Sinn einer Geschichte des Menschen und der Menschheit.

LeerDer Mensch ist wesentlich ein Beziehungswesen, aber nicht nur im Sinn der Beziehung eines Ich zu einem Du, sondern im Sinn der Beziehung zu allem, im Sinne also A. Schweitzers. Die Kategorie des „Zwischen” ist eine Kategorie, die das Wesen des Menschen ausmacht. Wo der Mensch daran vorbeigeht, da lebt er in Selbstvergessenheit, in der Vergessenheit seiner selbst als Mensch. Nur wo er dieses seines Wesens eingedenk ist, ist er Mensch. Die Kategorie des „Zwischen” ist aber eine religiöse Kategorie, und der Mensch ist demnach wesentlich ein religiöses Wesen. Ich sagte: der Mensch kann dieses seines Wesens uneingedenk sein, und dann ist er auch Gottes nicht eingedenk. Nur wo der Mensch seine Beziehungswesenheit erkennt, nur wo ihm seine Abhängigkeit von allem, was ist, bewußt wird, also nur da, wo er sachlich und das heißt in der Verbundenheit aller ihrer Aspekte die Wirklichkeit erkennt und sich selber als ein Glied, wenn auch als das in aller seiner Endlichkeit krönende Glied, nur da führt ihn die ihm verliehene Selbsterfahrung zur Gotteserfahrung, zur Erfahrung, daß in und über allem ein Gott steht, der Geist ist, der also selber im Zwischen und zugleich über dem Zwischen ist.

Quatember 1974, S. 16-23

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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