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von Jürgen Boeckh |
Über Religion und Kirche in der Sowjetunion gibt es bei uns die widersprüchlichsten Meinungen. Während die einen behaupten, im Sowjetstaat herrsche Religionsfreiheit, und wer wolle, könne auch dort seines Glaubens leben, meinen andere, im „ersten sozialistischen Staat” gäbe es gar keine oder nur ganz wenige Gläubige: entweder weil der Staat die Religion verbiete oder weil „die Russen” Kommunisten seien und darum keine Christen. Auch die Berichte kirchlicher Touristen sind oft wenig geeignet, Klarheit zu bringen. Im „Neuen Deutschland” konnte man vor kurzem den Satz lesen: „Aus Moskau ist am Ende noch jeder klüger wiedergekommen.” Das dürfte jedoch nur für diejenigen zutreffen, die sich bereits mit Vorkenntnissen auf den Weg gemacht hatten. Um die Lage der Christen seit der Chruschtschow-Ära (damals begann wieder einmal ein scharfer Kurs in der Religionspolitik) besser verstehen zu können, sind einige wenige Erinnerungen notwendig: Für den rechtlichen Status der Gläubigen ist Art. 124 der „Stalin-Verfassung”, die seit dem Jahre 1936 in Kraft ist, von besonderer Bedeutung: „Zum Zwecke der Gewährleistung der Gewissensfreiheit für die Bürger sind in der UdSSR die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen und die Freiheit antireligiöser Propaganda werden allen Bürgern zuerkannt.” Religiöse Kulthandlungen sind also - laut Gesetz - erlaubt, aber keine „religiöse Propaganda”, keine Mission. Verboten ist jegliche Öffentlichkeitsarbeit der Kirche, wie sie bei uns üblich ist oder etwa in den Vereinigten Staaten, wo die Trennung von Staat und Kirche die Freiheit zur „religiösen Propaganda” nicht aus-, sondern einschließt. Auch Unterricht und Sozialarbeit werden der Kirche nicht gestattet. Im Jahre 1914 hatte es im Russischen Reich 40437 Kirchen, in denen Gottesdienst gehalten wurde, und 1025 klösterliche Einrichtungen gegeben. 1920 wurden bereits 630 Klöster aufgelöst (von denen 14 als Konzentrations- und Internierungslager benutzt wurden). Im Jahre 1930 sprach Metropolit Sergius noch von 30000 Pfarreien und 163 Bischöfen. Ein religionsfeindlicher Autor gab im gleichen Jahre die Zahl 20000 an. 1941 wurden in einer offiziellen sowjetischen Erklärung in London nur noch 4227 „arbeitende” Kirchen genannt. Nach anderen Angaben soll es zu Beginn des deutsch-russischen Krieges nur noch 100 oder einige hundert Kirchen gegeben haben. Damals hatte die Kirche einen Tiefpunkt an äußeren Möglichkeiten und an innerer Kraft erreicht. Verhältnismäßig bekannt ist der „Friedensschluß” zwischen Staat und Kirche während des „Großen Vaterländischen Krieges”. Er führte dazu, daß es in der Sowjetunion bis zum Jahre 1959 wieder 20000 bis 22000 Kirchen gab, die zum Gottesdienst benutzt werden durften. Die Orthodoxe Kirche verfügte wieder über acht geistliche Seminare und zwei Akademien. Ihr dienten 30000 Priester, 73 Bischofsstühle waren besetzt. Die Kirchen wurden von den Gläubigen intensiv besucht, nicht nur von älteren Menschen. In 67 Klöstern lebten Mönche und Nonnen ihrer Berufung. Da begann im Jahre 1959 ein neuer Generalangriff gegen die Kirche. Nach Chruschtschow befand sich die Sowjetunion nicht mehr nur im Stadium des Sozialismus, sondern bereits im Übergang zum Kommunismus. Da es aber in der kommunistischen Gesellschaft - laut Ideologie - keine religiösen Vorstellungen mehr geben kann, darum darf es sie auch nicht geben! Durch administrative Maßnahmen, die seit dem Kriege nicht mehr angewendet worden waren, durch Einmischung der Zivilbehörden bei der Besetzung von Pfarrstellen, durch rigorose Beschränkung christlichen Lebens auf den kirchlich-kultischen Bereich, durch Diffamierung von Mönchen und Nonnen, durch Repressalien gegen einfache Gläubige im täglichen Leben wurde die Kirche in ihren Möglichkeiten auf ein Minimum eingeengt und ihre Glieder, Priester und Laien, dem Druck und der Verfolgung ausgesetzt: Hausbesuche eines Pfarrers in seiner Gemeinde sind strafbar. Ein Priester, der Kindern Schokolade schenkt, begeht ein Verbrechen. Beliebte Prediger werden versetzt oder bekommen die Predigt-und Gottesdiensterlaubnis entzogen. Kinder, bei denen religiöse Beeinflussung sichtbar wird, nimmt man ihren Eltern weg. Mönche werden für geisteskrank erklärt und in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Solche intensive Behandlung führte zu mehreren Todesfällen. Im Jahre 1964 gibt es in der Sowjetunion nur noch vier Männer- und fünf Frauenklöster. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Nicht Mangel an Priestern, Mönchen und Nonnen hat zum Erlöschen der Gemeindeämter und Klöster geführt, sondern der Eingriff des Staates, meist durch seine örtlichen Organe, die feststellen mußten, daß die antireligiöse Propaganda nicht die gewünschten Ergebnisse brachte. Die neue Verfolgungswelle in der Chruschtschow-Ära und noch danach hat nun allerdings zu Entwicklungen geführt (oder ist von ihnen eingeholt worden), die erstaunlich sind. Die orthodoxen Christen in Rußland haben durch ihr Beharren in Glaube und Frömmigkeit und oft auch durch einen deutlichen Widerspruch gegen Zwangsmaßnahmen und Schikanen von ihrer Kirche (die wohl durch das Patriarchat repräsentiert wird, aber nicht mit ihm identisch ist) den Makel genommen, nur eine „Kirche des Schweigens” zu sein. Wie weit dieser Vorwurf überhaupt zu Recht erhoben werden kann, bleibe dahingestellt. Tatsache ist, daß viele Christen in Rußland „auf unterer Ebene”, besonders auch die Evangeliums-Christen-Baptisten, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, ihr Wort gesagt haben. Wahrscheinlich ist es eher berechtigt, von der nicht-hörenden Christenheit außerhalb der Sowjetunion als von einer schweigenden Kirche in Rußland zu sprechen. Neben dem Beharren in der überlieferten Frömmigkeit gibt es manche Beispiele gezielter Protestaktionen. So richteten Gläubige des Erzbistums Kirov im August 1966 einen offenen Brief an den Patriarchen, in dem dagegen protestiert wurde, daß unter Zulassung des Diözesanbischofs die Ortsbehörden von 1964 bis 1967 58% der orthodoxen Kirchen gewaltsam geschlossen, Ikonen und Ikonenwände verbrannt, Sachwerte geraubt und verschleppt hätten. Verfasser dieses Briefes war der ehemalige Lehrbeauftragte für höhere Mathematik am Polytechnikum in Kirov (Vjapka), Boris V. Talantov, der mehrfach öffentlich gegen Gewaltmaßnahmen auftrat und auch an den Generalstaatsanwalt der UdSSR eine Beschwerde wegen ungerechtfertigter Verleumdung schickte. Talantov, der sich weigerte, seine Unterschrift unter dem „Offenen Brief” zurückzuziehen, schrieb später einen Brief an den Patriarchen, in dem er sich darüber beschwerte, daß Metropolit Nikodim die Unterzeichner des „Offenen Briefes” in London verleugnete. Talantov wurde 1969 verhaftet und ist in der Haft verstorben. Das wichtigste Dokument eines kirchlichen Widerstandes gegen die Zwangsmaßnahmen des Staates, verbunden mit einer Kritik an der obersten Kirchenleitung, sind die Briefe der Priester Eschliman und Jakunin an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR und an den Patriarchen Alexius.
Bischof Nikolaj soll zu den Hierarchen gehört haben, die einen schärferen Kurs gegen die atheistische Staatsmacht befürworteten, als diese wieder mit drakonischen Maßnahmen gegen die Gläubigen vorging. So soll er hinter dem Beschluß des Heiligen Synods gestanden haben, Apostaten öffentlich zu exkommunizieren. Zu Beginn der Verfolgung gab es nämlich mehrere „prominente” Apostaten. Außerdem gilt er als der Verfasser einer mutigen Rede des Patriarchen auf der Friedenskonferenz in Zagorsk im Jahre 1952. Seit dem 19. September 1960 wurde Nikolaj von jeder Aktivität ausgeschlossen. Die Osternacht 1961 mußte er - zum ersten Mal seit 40 Jahren - auf seinem Zimmer verbringen. Da er eine Kur ablehnte, wurde er zwangsweise in ein Krankenhaus eingewiesen - obwohl er gesund war. Niemand durfte ihn besuchen. Nur eine Ärztin wurde ihm zugeteilt. Er starb am 13. Dezember 1961. Als sein Leichnam schließlich aufgebahrt wurde, empfing das Volk die Bischöfe Nikodim und Cyprian mit dem Ruf „Mörder”! Das Volk bemächtigte sich - entgegen den Anordnungen - des Leichnams und erzwang bei schneidendem Schneegestöber das Abschiedsdefilee. Die Behörden verboten die Totenfeier in der Patriarchats-Kirche in Moskau. Obwohl man mehrere fahrplanmäßige Züge nach Zagorsk hatte ausfallen lassen, war die Kathedrale im Dreifaltigkeitskloster zu den Begräbnisfeierlichkeiten überfüllt. Viele hatten die Nacht über in der Kirche ausgeharrt. In einem Brief wurde berichtet: „Der Abschied der Gläubigen von ihrem Bischof dauerte drei Stunden am Spätnachmittag vor der Beerdigung und noch einmal zwei Stunden nach Beendigung der Zeremonie. Alles war von einem trostlos tiefen Schmerz ergriffen . . .” Wir kommen noch einmal zurück auf den Brief der Priester Eschliman und Jakunin. Da gibt es einen Abschnitt, der für die innere Situation der Russischen Orthodoxen Kirche bemerkenswert ist: „Die Lehre der Kirche bleibt unverändert, ihre Lehrweise aber erneuert sich. Das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Weltkriege und großer sozialer Erschütterungen, der raschen Entwicklung der Wissenschaft und der zunehmenden technischen Macht, der großen Entdek-kungen und nicht minder großen Irrtümer, stellt die Heilige Kirche vor die Notwendigkeit einer neuen schöpferischen Umwandlung der Formulierungen christlicher Lehre.” Folgendes ist bei diesen Worten zu bedenken: Die offiziellen Repräsentanten des Moskauer Patriarchates befürworten zwar ein Bündnis zwischen Staat und Kirche in Sachen des Friedens und auch, wie es heißt, in Sachen der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit; sie-lehnen jedoch einen Dialog zwischen Christentum und Marxismus ab und ebenso eine „schöpferische Umwandlung der Formulierungen christlicher Lehre”. Wenn die offizielle Kirche sich einer Neuformulierung und Neuinterpretation der „alten” Wahrheit verschließt, so ist das sicherlich zunächst als Selbstschutz-Maßnahme in ihrer besonderen Lage verständlich; Metropolit Nikodim von Leningrad, der vor kurzem abgelöste Vorsteher des Amtes für äußere Angelegenheiten, sprach 1968 von der „Ungleichheit der Ausgangspositionen”, die den theologischen Dialog nicht ermögliche. Auf der anderen Seite kommt die Ablehnung einer Neuinterpretation und eines Dialoges der Staatsmacht entgegen, die in der Modernisierung christlichen Glaubens und Lebens eine Erschwerung ihrer Aufgabe sieht. Die Moskauer Zeitschrift „Politische Selbstbildung” brachte im Jahre 1967 einen Artikel „Zu den Wandlungen der Kirche”, in dem über zeitgenössische Theologen wie Bultmann, Bonhoeffer, Tillich und Teilhard de Chardin gesprochen wurde: „In der Praxis der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda dürfen jene neuen Formen, in die die Ideologen der Religion heute ihren abgenutzten Inhalt zu kleiden versuchen, nicht unbeachtet bleiben.” Schon Lenin hatte die „neue, gereinigte, Religion”, die der alte Tolstoi vertrat, als ein „neues gereinigtes verfeinertes Gift für die unterdrückten Massen bezeichnet”. Und im Januar 1972 hieß es in der Prawda: „Die von Auswüchsen befreite Religion erscheint den Gläubigen anziehender, aus diesem Grund ist sie gefährlicher als die Religion in ihren traditionellen Formen.” Es sind verschiedene Wege, auf denen Menschen wieder zur Religion, zum Glauben und zur Kirche kommen. Einmal ist es die Frage nach dem Sinn des Lebens, die in Grenzsituationen aufbricht. Alexander Solschenizyn hat uns in seinem Roman „Der erste Kreis der Hölle” Männer vor Augen gestellt, die sicher repräsentativ für viele andere sind. Da erklärt der Maler Iwanov Kondraschow: „Es ist noch nicht bekannt, wer wen formt: das Leben den Menschen oder die geistige Kraft des Menschen das Leben! . . . weil er etwas hat, mit dem er sich vergleichen kann, etwas, zu dem er aufblicken kann.” Und der Wissenschaftler Nershin sagt am Ende eines kurzen Treffens mit seiner Frau, das ihm als Gefangenen noch einmal gewährt wird: „Gott weiß wohin” (man uns schicken wird), indem er die Namen Pascal, Newton, Einstein hinzufügt. Und vor der Öffentlichkeit hat der Nonkonformist Andrej Sinjawski die Worte gesprochen: „Über den Menschen ist genug geredet worden. Es ist Zeit, an Gott zu denken.” Aber nicht nur in Grenzsituationen, auch da, wo Menschen an dem wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg der Sowjet-Gesellschaft teilhaben, bricht die Frage nach dem Sinn des Lebens auf. Ein wichtiges Dokument für die geistige und religiöse Situation ist der Brief, den der theologische Schriftsteller Levitin-Krasnov, ein Laie, an den Papst geschrieben hat. Da lesen wir: „Jetzt kommt eine neue Generation, die Stalin nicht mehr erlebt hat, und diese Jugend ist gegenwärtig das Interessanteste in Rußland. Sie hat den Drang zur Kultur und nach Wissen, und angestrengt sucht sie nach dem Sinn des Lebens ... Gegenwärtig haben wir die dritte nachrevolutionäre Generation. . . Die heutige Jugend kennt nicht jene negativen Seiten der Orthodoxie aus der vorrevolutionären Zeit, die in stärkstem Maße Haß und Erbitterung unter dem Volk erzeugt hatten ... Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß Kraft und Intensität des religiösen Durchbruchs dieser Jugend der flammenden Begeisterung der Urchristen nicht nachstehen. Die Fälle häufen sich, in denen in Moskau Söhne von Kommunisten, ja selbst von alten Czekisten, getauft werden. Häufig lassen sich auch Menschen jüdischer Nationalität taufen.” Levitin-Krasnovs vierte Haft lief im Mai 1973 ab. Auch in manchen Gedichten, solchen, die gedruckt wurden, und anderen, die zur Untergrundliteratur, zum Samisdat gehören und von Hand zu Hand gehen, bricht die Frage nach Gott auf: „Es ist furchtbar!Diese Zeilen von Viktor Welski erinnern an Nietzsches Gedicht „Dem unbekannten Gotte”. Und Boris Slutzki, KP-Mitglied seit 1943, bekennt: „Jetzt, da ich meine Ideale und das HaarEine große Zahl junger und jüngerer Menschen wird anscheinend durch solche Schriftsteller repräsentiert, die, ohne ein eigenes Glaubensbekenntnis auszusprechen, die Kirche in ihrer Bedeutung für die Geschichte Rußlands würdigen, die sich gegen die Barbarei der administrativen Bilderstürmer wehren. So schildert Wassilij Schukschin, wie „Ein beherzter Mann”, so heißt die Erzählung, gegen den Widerstand der Dorfbewohner, auch des Lehrers, eine nicht mehr arbeitende Kirche mit Hilfe seines Traktors zum Einsturz bringt. Die Erzählung ist 1970 in der Zeitschrift „Nowyj Mir” erschienen. Es wäre eine Unterstellung, anzunehmen, daß die Herausgeber der Zeitschrift nicht die Kritik gemerkt hätten, die in dieser Erzählung steckt. Manches scheint in Zeitschriften durchzugehen, was die strengere Buchzensur nicht passiert. Das trifft auch zu für Vladimir Solouchin, Jahrgang 1924, dessen Bericht „Schwarze Bretter” in Fortsetzungen in der Zeitschrift „Moskwa” erschien. Der deutsche Titel des bei Pustet erschienenen Buches heißt: „Schwarze Ikonen. Ich entdecke das verborgene Rußland.” Wer dieses Buch liest, der spürt, daß der Verfasser nicht nur das vergangene, sondern das „andere” Rußland entdeckt. Bei der Betrachtung einer Christus-Ikone sagt er: „Das Wesentliche am Christentum besteht ja darin, daß man keine Vorwürfe macht, nicht gekränkt ist, und vor allem niemanden verachtet ...” Er berichtet von seiner Begegnung mit Mutter Ewlampija, die in dem seit Kriegszeiten wüst daliegenden Kloster Bolosowow als einsame Beterin haust und das Licht vor den Ikonen brennen läßt. - An einem anderen Ort beklagt er den Verlust einer gesuchten Ikone und sagt: „Ja, schade! Es war eine kostbare Ikone aus dem Dunkel der Jahrhunderte.” Die Frau, zu der er das sagt, antwortet: „Da irrt ihr euch, ihr jungen Leute. Die Ikone ist zu uns gelangt aus dem Licht der Jahrhunderte, und gar nicht aus dem Dunkel. Jetzt aber, wie Sie selbst sehen, ist sie vom Dunkel des Unbekannten verschlungen und nun suchen und suchen Sie danach. Und warum suchen Sie? Weil sie Licht, weil sie eine kleine Flamme ist und weil es Sie zu dieser Flamme hinzieht.” Vladimir Solouchin wurde im Jahre 1970 in der Zeitschrift „Wissenschaft und Religion” angeklagt, „so nebenbei und zum eigenen sichtlichen Vergnügen, der atheistischen Propadanda und allen, die sie aktiv führen, einen ‚Fußtritt’ zu geben.” In dem gleichen Aufsatz werden die Rezensenten Muchina und Scherbakow kritisiert, die sich in einem Aufsatz „Menschen der Heldentat” bemühen, Gestalten aus dem Heiligenkalender der Russischen Orthodoxen Kirche als nationale Helden zu rehabilitieren. Die Vertreter antireligiöser Propaganda argwöhnen offenbar zu Recht, daß sich hinter den ästhetischen und historischen Würdigungen von Menschen und Werken der Kirche mehr verbirgt. Kirchliche, christliche und religiöse Neubesinnung und intellektuelle Opposition gehen ineinander über. Wir können unseren Blick auf die Lage der Russischen Orthodoxen Kirche und ihrer Gläubigen nicht beenden, ohne auf den „Fastenbrief” von Alexander Solschenizyn zu sprechen zu kommen, den er vor zwei Jahren an den Patriarchen geschrieben hat. Im Unterschied zu dem Brief der Priester Eschliman und Jakunin vor sieben Jahren, der wenig Aufsehen hervorrief, ist dieser Brief bei uns in der weltlichen und sogar in der kirchlichen Presse auf breiter Basis bekanntgemacht, gewürdigt und kritisiert worden. Viele sehen diesen Brief als einen „Fauxpas” des Nobelpreisträgers an. Im Unterschied zu den Briefen der beiden Priester, auf die auch Solschenizyn Bezug nimmt, ist sein „Fastenbrief” stark emotional gefärbt. Und so muß man ihn wohl einfach als einen Verzweiflungsschrei verstehen. Sicher hat der in der Sowjetunion lebende Priester Sergij Scheljudkov, auch ein Nonkonformist, recht, wenn er Solschenizyn antwortet: „Der Patriarch Pimen hat keine Möglichkeit, auf Ihre Beschuldigung mit einem Wort zu antworten. Stellen wir uns vor, wie er antworten könnte, nur durch die Tat, durch seinen Rücktritt vom Amt. Aber es kommt bestimmt kein besserer an seine Stelle.” Die Worte des Priesters Scheljudkov, der inzwischen auch ein Opfer des Regimes wurde, sind wahrscheinlich genauso notwendig, wie es Solschenizyns Fastenbrief ist. Ohne Zweifel hat der Dichter ausgesprochen, was unzählige seiner Landsleute und Mitchristen denken, aber so nicht aussprechen können. Mag die von ihm angegebene Zahl der geschlossenen und abgerissenen Kirchen (20 und 20) zu den geöffneten Kirchen auch zu hoch gegriffen sein - dies ist wohl der einzige Punkt, den man sachlich kritisieren kann. Alles andere, was Solschenizyn sagt, ist wohl kaum zu bestreiten: Die Diskrepanz zwischen den Aktivitäten des Patriarchates im Ausland und im eigenen Land, das Ärgernis der Registrierung bei der Taufe, das in einer Kirche ohne Kirchenbücher und Statistik nicht nur ein politisches, sondern auch ein geistliches Ärgernis ist, das Schweigen der Glocken, das Verbot des Almosengebens an den Kirchtüren, das Fehlen Neuer Testamente in der Sowjetunion (während die sowjetrussischen Ausgaben im Ausland zu haben sind) - dies alles mußte vielleicht einmal im eigenen Land ausgesprochen werden, nicht zuletzt das Wort für die gefangengesetzten Priester Eschliman und Jakunin sowie den Erzbischof Hermogen, der zu wiederholten Malen gegen Rechtsverletzungen öffentlich aufgetreten ist und seines Amtes entsetzt wurde. Auch wo der Prophet dem Hohenpriester gegenübertritt, gehört er noch zu ihm. Vielleicht hilft es ihm sogar, das Martyrium des Schweigens leichter durchzuhalten, wenn die Stimme der Herde nicht verstummt. Quatember 1974, S. 24-33 Leserbrief von Friedrich Wilhelm Effey |
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