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von Heinz Beckmann |
Über die Kirche wird in unseren Tagen viel zuviel nachgedacht, viel zuviel geredet. Kirche geschieht nicht mehr. Sie wird reflektiert, sie ist ein Gegenstand der Diskussion geworden. Dabei wissen die meisten Gesprächspartner gar nicht, worüber sie eigentlich diskutieren. Wenn hier also mit vollem Bedacht von den Aufgaben der Kirche „jetzt” - also nicht in einem allgemeinen Heute, sondern sofort, unmittelbar geredet wird, dann scheint mir der Hang zur Reflexion über die Kirche höchst bedenklich zu sein. Dieses Geschäft haben wir lange genug, viel zu lange betrieben. Es ist allmählich an der Zeit, wieder Kirche zu sein. Es ist ja eine allgemein bekannte Tatsache, daß derjenige, der unausgesetzt über das Leben nachdenkt, allmählich die Fähigkeit zum Leben einbüßt. In der theologischen Reflexion haben wir uns inzwischen vollkommen erschöpft - ich wüßte wirklich nicht, was da noch für das Leben der Kirche beizubringen wäre, zumal die theologische Reflexion der letzten Jahrzehnte und unsrer Tage fast durchweg darauf hinausläuft, dem Leben der Kirche etwas wegzunehmen, statt ihm etwas beizubringen. Darf ich mich hier eines handfesten Beispiels bedienen: Es soll in der Kirche immerhin noch Menschen geben, die schlicht und gottesfürchtig die Auferstehung Christi glauben, ohne darüber zu reflektieren, denn sie halten es mit Martin Luther, der es Gott überläßt, wie er das macht - und es ist ja auch beileibe kein Zufall im göttlichen Handeln, daß die Auferstehung aus dem Grab ohne menschliche Zeugen geschah. Die theologische Reflexion jedoch will diesen schlicht und gottesfürchtig glaubenden Menschen beibringen, daß es doch so einfach nicht sei mit der Auferstehung, und dann geht es los mit der Theologie und ihren umschweifigen Ausreden. Darum muß wohl zu Beginn unsrer Erörterungen hart geredet werden. Ohne die Auferstehung Christi ist die Kirche Jesu Christi ein Humbug, allenfalls ein Gedächtnisverein für einen dermaleinst recht vorbildlichen Wanderprediger, wobei ich mich frage, wieso eigentlich vorbildlich nach menschlichem Maß. Aber wir wollen gleich weiter zugreifen: wenn in der Taufe nichts geschieht außerhalb unsrer Vernunft, wenn Gott in der Taufe nicht handelt, wird es allerhöchste Zeit, daß wir sie abschaffen. Das gleiche gilt für das Abendmahl. Das Elend der Kirche besteht darin, daß allzuviele Christen heute Kirche reflektieren, also nicht leben. Bei solchen Vorbemerkungen möchte ich mich ausdrücklich nicht auf die sogenannten Bekenntnisbewegungen berufen, denn sie haben bis heute noch nicht ihre Stunde begriffen. Auch sie leben leider nicht, sondern pochen auf ihren Schein, wie der Jude Shylock im Kaufmannn von Venedig. Ich berufe mich mit solchen einleitenden Bemerkungen auf Menschen, die überhaupt nicht zur Kirche gehören und deshalb aus der kritischen Distanz vielleicht etwas besser Bescheid wissen, Marxisten zum Beispiel, die von der Existenz der Kirche unter Umständen eine höhere Meinung haben als viele Christen heute. Soweit der Marxist Peter Hacks, dem wir für diese erfrischende Redeweise von Herzen dankbar sein können. Er spottet über eine Kirche, die sich selbst auf den Misthaufen wirft, um schließlich nur noch ein bißchen in Gerechtigkeit, Tugend und besserer Welt mitzumachen. Es ist schlechterdings haarsträubend, daß die Kirche erstens aufgehört hat, sich ihre Aufgaben von Gott stellen zu lassen, und sie sich zweitens von der Welt stellen läßt. In dieser Situation befinden wir uns auf der ganzen Linie. Überall laufen wir den humanen, mitunter nur angeblichen humanen Aufgaben der Welt nach, die die Welt gemeinhin viel besser lösen kann als die Kirche. So wenig mir Jesus als ein vorbildlicher Mensch im Sinne weltlichen Vorbilds einleuchtet, so wenig kann ich mich mit einer Identifizierung zwischen weltlichen und kirchlichen Aufgaben befreunden. Doch gebe ich zu, daß eine solche Identifizierung unglaublich viel bequemer ist als die radikale Aufgabenstellung der Frohen Botschaft. Ich wähle willkürlich ein Beispiel: In der Sache des Paragraphen 218 mögen kirchliche Voten noch so abgewogen und interessant sein, weil sie von klugen Leuten formuliert wurden: Kirche aber geschieht erst dort, wo die Christen von einer bevorstehenden Erleichterung oder gar zeitweiligen Freigabe der Abtreibung ganz entschieden keinen Gebrauch machen, und zwar weder aktiv noch passiv. Das aber heißt, wenn ich in dieser Sache nicht mehr auf das Verhalten christlicher Ärzte, christlicher Krankenschwestern und betroffener christlicher Frauen bauen kann, dann gibt es augenscheinlich keine Kirche mehr. Die furchtbarste Methode jenes vorbildlichen Wanderpredigers bestand nämlich darin, daß er immer den einzelnen Menschen haftbar machte und nicht die geringste Fähigkeit oder Willigkeit zur Reflexion zeigte. Resolutionen waren seine Sache nicht - er hat dich und mich behaftet und damit für alle Zeiten klargestellt, daß Kirche ein Lebensvollzug ist. Die Kirche hat es weiß Gott nicht nötig, sich hier zu genieren. Aber nachdem sie so viele soziale Dienste und Verantwortungen an die Welt delegieren konnte, hätte sie es wahrlich nötig, sich auf jene Quellen zu besinnen, aus denen sie einst die Kraft und die Fähigkeiten holte, sich helfend in das Elend dieser Welt zu bücken. Es könnte nämlich sein, daß sich mitten im breiten Strom der Hilfsbereitschaften heute ganz andere Aufgaben für die Kirche stellen, für die man sich wiederum nur aus jenen Quellen Kraft und Fähigkeiten schöpfen kann. Die Kirche steht und fällt mit der Behauptung, die nicht einmal ihre eigene Behauptung ist, daß der Mensch, jeder einzelne Mensch in der riesigen Menschenwüste unserer Zeit, kein beliebiges Sandkorn, sondern ein Geschöpf Gottes sei, daß dieses Geschöpf Gottes je auf seine Weise seine göttliche Herkunft leugnet und deshalb aus seiner Sünden Pracht von Gottes Sohn Jesus Christus am Kreuz erlöst, teuer erkauft wurde. Wo man anfängt, über dieses Fundament der Kirche zu reflektieren, hört Kirche überhaupt auf, denn dieses Fundament ist kein Dogmenschrein, sondern entweder das Leben selbst, nur im Leben vollziehbar, oder ein längst abgelegter alter Hut. Natürlich höre ich hier schon den Einwand gegen einen angeblich irregeleiteten Individualismus. Es tut mir schrecklich leid, aber zu den radikalen Eigenheiten des Neuen Testamentes gehört nun einmal die ganz persönliche Zuwendung und die klare Überzeugung, daß diese elende Welt nur dadurch verändert werden kann, daß der einzelne Mensch sich ändert, sich den neuen Menschen anzieht. Bei fast allen Revolutionen unserer Zeit haben wir uns nur die Kehrseite der vormaligen Medaille eingehandelt, also die Fortdauer der bisherigen Zustände mit umgekehrtem Vorzeichen und umgekehrten Opfern der Unterdrückung und Verfolgung. Es muß dies noch einmal mit Nachdruck gesagt werden: Jesus hat sich nicht an eine Fischergewerkschaft gewandt, sondern hat den Fischer Petrus zu sich gerufen. Jesus ist nicht an einen Stammtisch der verrufenen Zöllner gegangen, sondern in das Haus des Zöllners Zachäus. Und was immer er vom Menschen erwartet, gefordert, verlangt hat, das verlangte er nicht von der menschlichen Gesellschaft, sondern in dem Ich und Du einer persönlichen Begegnung. Wie immer man über diese Dinge denken mag - selbst wenn sie also in theologischer Reflexion anders zu beurteilen wären -, so steht doch wohl außer Frage, daß die Kirche heute in einer ganz besonderen Weise an den einzelnen Menschen gewiesen ist, an das Opfer moderner Verhältnisse, denn so groß denkt ja immerhin die Heilige Schrift vom Menschen, daß Gott, daß Gottes menschgewordener, gekreuzigter und auferstandener Sohn schlechthin abhängig bleiben von der persönlichen Existenz des Menschen. Ich weiß, das ist ein kühner Satz - wer aber mit zunehmender Unruhe die Minderbewertung des Menschen beobachtet, wird sich so stark ausdrücken müssen. Und er wird die Aufgaben der Kirche jetzt fast nur noch unter diesem Zeichen sehen können. Die Kirche muß der Ort werden, an dem der Fehlbetrag am Menschen und der Fehlbetrag an Leben in der gegenwärtigen Gesellschaft aufgehoben wird. Wie machen wir das? Zunächst einmal, indem wir aufhören, solange an der frohen, der befreienden Botschaft des Neuen Testamentes theologisch herumzureflektieren, bis sie sich fast nahtlos in die gegenwärtigen Ideologien einfügt. Es scheint mir höchst verdächtig zu sein, daß das Wort von Barmen „Kirche muß Kirche bleiben” heute nur noch ein ironisches Lächeln einbringt, denn wir haben ja längst unsere Deutschen Christen wieder, wenn auch mit einem umgekehrten Vorzeichen. Aber darüber sollte man sich nicht allzu lange aufhalten, denn das Wort „Kirche muß Kirche bleiben” wiegt so schwer, daß auch wir unter seiner Last stöhnen. Es hat nämlich wenig Sinn von dieser Kirche zu reden, die Kirche bleiben muß, wenn es keine lebendigen Gemeinden mehr gibt, ganz zu schweigen von dem, was wir Gottesvolk nennen. Wenn es uns nicht gelingt, so den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Gottesdienst und dem Dienst an unserem Nächsten wieder erfahrbar zu machen, wird man aufhören müssen, von den Aufgaben der Kirche zu reden. Sie hat keine anderen Aufgaben - und solange man sie für eine gesellschaftlich relevante Gruppe hält und entsprechend an den notwendigen Geschäften der öffentlichen Hand beteiligt - so lange wird es unmöglich sein, überhaupt noch zu begreifen, was Kirche eigentlich ist. Sie ist heute gesellschaftlich zutiefst korrumpiert, weil sie sich anders nicht mehr zu verstehen vermag. Wo denn hört man eigentlich heute noch den erstaunten Hinweis: Ach ja, das sind Christen! Ganz im Gegenteil, die Christen geben sich größte Mühe, ihrer Umwelt zu beweisen, daß sie keine anderen Menschen sind als die übrigen Menschen. Sie müßten aber, wie die Dinge heute liegen, von Tag zu Tag radikaler, anders sein, und zwar nicht in der Isolation oder gar in einer gewissen Überheblichkeit, sondern gerade aus der Solidarität mit den übrigen Menschen heraus, die sich innerlich so weit vom christlichen Glauben entfernt haben, daß sie nun endlich des Beispiels bedürften, endlich einmal Christen erleben möchten, zumal sie sich mehr und mehr ihres Fehlbetrages an Mensch, ihres Fehlbetrages an Leben bewußt werden und, wie man bildhaft sagt, nicht mehr aus noch ein wissen. Wo, bitte sehr, hilft ihnen die Kirche? Die Kirche wagt ja nicht einmal mehr, die tiefste Ursache der um sich greifenden Erkrankungen des Menschen aufzudenken. Allenfalls versucht sie es mit Tiefenpsychologie. So wenig aber die Astronauten den lieben Gott im Weltraum angetroffen haben, so wenig wird man ihn in den Tiefenräumen des psychologisch erfaßten Menschen antreffen. In diesem Zusammenhang erheben sich auch Vorbehalte gegenüber dem um sich greifenden Verlangen nach Meditation, einem Verlangen, das heute weite Kreise erfaßt hat. Eine Kirche, die nach dem Urteil der Vernunft schielt - und das tut sie, sie tut fast nichts anderes heute -, hat in dieser Welt keine Aufgabe mehr. Auffallend oft unterbleibt heute landauf und landab nach der Predigt jener kirchliche Segenswunsch: „Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu!” Aus unseren Erfahrungen in einer längst nicht mehr christlichen Menschenwelt sollten wir wissen, daß die Verkündigung, die Stiftung und Bewahrung dieses Friedens, höher denn alle Vernunft, die Aufgabe der Kirche jetzt ist, weil der Unfriede des Menschen unserer Tage viel tiefer steckt, als wir gemeinhin ahnen - es ist ein Unfriede mit Gott und damit das mögliche Ende des Menschen, wie Gott ihn geschaffen hat. Täuschen wir uns bitte nicht: Es kommt doch nicht darauf an, ob die Menschen um uns her an Gott glauben, wie wir das so falsch sagen, sondern es kommt allein darauf an, ob Gott den Menschen noch liebt. Daran kann und wird niemand von uns zweifeln, aber die Kirche ist nicht dazu da, nicht daran zu zweifeln, sondern diese Liebe Gottes zu leben, und zwar so, daß die Menschen um uns her ein klein bißchen davon zu spüren bekommen. Das klingt sehr bescheiden, ist aber ungleich schwerer als alles, was man heute die Aufgaben der Kirche nennt. Diese vermeintlichen Aufgaben würden zu bewältigen sein, sobald wir wieder Gemeinden hätten, die von etwas mehr leben als von der Welt. Solche Gemeinden haben wir aber kaum. Deshalb hilft es bei allem Engagement an die Welt nichts: Die Aufgabe der Kirche jetzt ist . die Kirche, und zwar um der Welt willen, ist das Volk Gottes, nach dem die Welt weithin vergebens Ausschau hält, ist der Friede, welcher höher ist denn alle Vernunft, weil wir ohne diesen Frieden, der uns frei macht von uns selbst und der sogenannten Lebensqualität, der Welt nicht helfen können. Solange nicht klar wird, daß die Kirche nicht von dieser Welt ist - ist Kirche unnütz und obendrein eine Täuschung unserer Mitmenschen. Quatember 1974, S. 34-41 |
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