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Herrenmahl und wissenschaftlich-technische Welt
von Eberhard Dieterich

LeerAm Beginn des Stuttgarter Epiphanientreffens der Michaelsbruderschaft und des Berneuchener Dienstes stand als Hauptvortrag ein Bericht über die so benannte Arbeitsgemeinschaft von Naturwissenschaftlern und Theologen, den Dr. Liedke von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg erstattete. Dieser Kreis hat das Grundanliegen von Günter Howe wieder aufgenommen. Physiker und Theologe zugleich, war er von der Einsicht umgetrieben, daß der Christ dort zu finden sein muß, wo die Risse, die die Welt erschüttern, klaffen, und rang mit prophetischer Leidenschaft um ein sachgemäßes Verhältnis der Theologie zu unserer physikalisch-technischen Welt. Es war seine große Enttäuschung, daß weder die allgemeine Theologie noch die Michaelsbruderschaft sich von der existentiellen Bedeutung dieser Frage in Pflicht nehmen ließen. Der von Dr. Liedke gegebene Bericht brachte nunmehr die befreiende Erkenntnis, daß es nicht bei den nachgelassenen Schriften von Günter Howe verbleibt, sondern daß an seiner Lebensfrage sachlich und aufgeschlossen weitergearbeitet wird. Über die theoretische Erfassung der Grundzüge der wissenschaftlich-technischen Welt ist dieser Kreis vorgedrungen zu den von dieser heraufgeführten, die Gesellschaft und den Einzelnen bedrängenden Problemen wie Leistungszwang, Umweltzerstörung, Gefühlskälte, Unfähigkeit zum sozialen Engagement, Übergreifen der Machbarkeit des Gleichartigen auf den Menschen selbst, Versperrung gegen die Erfahrung des Nichtobjektivierbaren. Das Schlüsselproblem ist mit der linearen Zeitauffassung von Naturwissenschaft und Technik gegeben; danach ist die Zukunft durch die Vergangenheit weithin festgelegt. Diese Zeitvorstellung ist nicht falsch, sie ermöglicht die Herrschaft über die Natur durch sichere Prognosen. Aber sie bedeutet eine Verengung: die Gegenwart schrumpft zum bloßen Durchgangspunkt auf dem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft zusammen und verliert damit ihren Eigenwert; das Vertrauen in das Festgelegte sieht durch die aus der Vergangenheit resultierenden Sachzwänge die Zukunft bereits determiniert und unterdrückt die in deren Schoß liegenden neuen Möglichkeiten.

LeerDiese „Präparierte Zeit” (vgl. das Buch von Klaus Müller) bedeutet den Verlust der Fülle der Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in vielfältiger Verschränkung ineinander-liegen. Es gilt daher das Zeitverständnis aufzufächern, um zur Erfahrung der Fülle der Zeit zu kommen. Für den Gottesdienst ist das lineare Zeitverständnis unmöglich und unergiebig. So ist es unfähig, die Wirklichkeit der Vergebung zu fassen, denn diese bedeutet gegenwärtige Lebensmöglichkeit trotz des Vergangenen und erschließt neue Zukunft. Indem aber Vergebung in solch untheologischer Sprache beschrieben wird, eröffnet sich dem Menschen der wissenschaftlich-technischen Welt ein neuer Zugang zu christlichen Grundaussagen.

LeerDas Zeitproblem erweist sich damit als die Brücke zu den Fragen des Gottesdienstes, die den anderen Pol der Thematik der Arbeitsgemeinschaft darstellen. Sie sieht die verschiedenen Seiten des Gottesdienstes primär mit bestimmten Zeitbezügen verbunden. So hat die Verkündigung zunächst mit der Geschichte und also mit Vergangenheit zu tun, Gebet und Diakonie sind auf Zukunft gerichtet, während die communio (mit Gott und untereinander) sich als Gegenwart ereignen will. Doch wie die Verkündigung ihrem Wesen nach zugleich auf die Gegenwart und Zukunft des Hörers zielt, so gilt es für alle gottesdienstlichen Elemente, daß sie sämtliche Zeitbezüge in sich tragen. Im Gottesdienst kann und will daher die Zeit in ihrer Fülle begegnen. Im Blick auf die Zeiterfahrung muß die gottesdienstliche Tradition aufgearbeitet werden. So ist etwa nach den Ursachen der Unterernährung der communio als Gemeinschaft von Mensch zu Mensch zu fragen, der diese heute im Gottesdienst ausgesetzt ist.

LeerDie Theorie des Gottesdienstes verbindet sich jedoch mit der eigenen Praxis. Zu dieser gehört die Einübung in gefüllte Lebensgestalten, wie sie durch gezielte Übungen im Hören, Schweigen, Sehen, Singen und Meditieren geschieht. Das alles wirkt dann hinein in das als Tischgottesdienst begangene Herrenmahl, das sich mit einer Agape verbindet. Die Aufgaben werden erst zu Beginn verteilt und nach einer Pause des Schweigens in Spontaneität vollzogen. Die communio wird gestärkt, indem außer dem Herumreichen der Elemente die Verkündigung als gesammeltes Gespräch über einem Bibeltext geschieht und auch der Zweck der Kollekte gemeinsam bestimmt wird. Grundlegende Bedeutung kommt der nachträglichen Besprechung der Feiern zu, die dem nächsten Tag vorbehalten ist. Nur der gegenseitige Bezug von Theorie und Praxis kann die Arbeit als ganze fruchtbar werden lassen. Ein weiter Weg, der hier beschritten wird? Er muß gegangen werden. Bei dem Stuttgarter Treffen leuchtete die große Hoffnung auf, daß der Arbeitsgemeinschaft entscheidende Schritte gelingen in Richtung auf eine der wissenschaftlich-technischen Welt gemäße Gestalt des Gottesdienstes, und daß sie sich damit auf einem Weg befindet, auf dem zukünftige Lebensfülle erreicht werden kann.

Quatember 1974, S. 110-111

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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