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Charismatische Versammlung
von Reinhard Mumm

LeerIm Benediktinerkloster St. Bonifaz in München versammelt sich an jedem Sonntagabend eine Gruppe von 40-50 jungen Menschen, Amerikaner und Deutsche. Der Gottesdienst, den sie miteinander halten, vollzieht sich in einer ganz anderen Atmosphäre, als wir sie gewohnt sind. Man singt, jeder in seiner Sprache, Lieder, die leicht ins Ohr gehen. Manche bringen ihre Gitarre mit oder eine Ziehharmonika. Allgemein werden die Refrains mitgesungen, die den Psalmen entnommen sind oder die Liebe Gottes besingen. Die Gebete bestehen in kurzen Rufen: „Dank sei dir, Jesus” oder „Gelobt sei Gott”. Oft erklingen die kurzen Rufe der hebräischen Sprache: Halleluja, Hosianna und Amen. Manchmal spricht einer ein längeres Gebet. Viele erheben die Hände oder breiten die Arme aus, eine uralte Gebärde, die auch im Neuen Testament bezeugt wird. Die ganze Versammlung ist ständig in Bewegung und der Kapellenraum erfüllt von einem melodischen Summen. Von Zeit zu Zeit erhebt sich der Leiter des Gottesdienstes und kündigt etwas Neues an. Da steht ein junger Mann auf, singt erst zur Gitarrenbegleitung, berichtet dann von einem Kranken, den er zu pflegen hat, und lädt die Gemeinschaft zur Fürbitte für ihn ein. Ein anderer spielt vorzüglich auf seinem Cello eine Suite von Bach und erhält lauten Applaus. In der Mitte des Abends erhebt sich ein schwarzer Amerikaner und predigt im Anschluß an einen biblischen Abschnitt, äußerst lebhaft mit allen Beigaben eines südlichen Temperaments. Ein Perser, der Christ wurde, dolmetscht mit großem Geschick. Die Zuhörer sind keineswegs gelangweilt. Man kann lachen und Beifall spenden; das vollzieht sich ganz natürlich.

LeerWie es dem Lebensgefühl junger Menschen entspricht, sucht man auch den unmittelbaren Kontakt mit seinen Nachbarn, Hand in Hand oder Arm in Arm, um zu singen und zu beten. Mehr als zwei Stunden vergehen, und sie scheinen niemand zu viel zu sein. Mit Verabredungen zu einem Wochenende im nahen Kloster Andechs und der Bitte um den Segen klingt dieser Gottesdienst aus.

LeerDer Kundige weiß, dies ist eine Gruppe der amerikanischen Pfingstbewegung, Assembly of God, „Gottesversammlung” genannt. Was mag den Abt des Klosters, der still teilnahm, bewogen haben, dieser Gruppe in seiner Kapelle Obdach zu geben? Offenbar doch die Erkenntnis, daß solche Ausdrucksformen des christlichen Glaubens den urchristlichen Gemeinden näher stehen als ein abendländischer Gottesdienst, der oft mehr einer Lehrveranstaltung gleicht. Niemand ist genötigt, diesen ekstatischen Stil nachzuahmen. Aber warum sollte er nicht erlaubt sein in einer Zeit des tiefgehenden Wandels der Lebensformen? Es muß uns bewegen, wenn gerade junge Menschen eine gelockerte und sie tief verbindende Gestalt finden, in der sie sich angesprochen fühlen vom Geist Jesu und einander sichtbar und selbstverständlich annehmen ohne Unterschied der Rasse, des Alters und der Konfession. Man kann viel fragen und manches einwenden gegen solche Art. Sollten wir nicht dennoch dem Geist Raum geben und damit einer Vielfalt möglicher Ausdrucksformen? Paulus ermahnt uns, die Geister zu prüfen, aber den Geist nicht zu dämpfen. Beides tut der Christenheit not, Klarheit gegenüber den Verwirrungen der Zeit und eine weitherzige Freiheit für die Fülle des Geistes.

Quatember 1974, S. 111-112

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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