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von H. A. M. Fiolet |
Im Gegensatz zu den Erwartungen, die durch eine oft einseitige Berichterstattung in der internationalen Presse wachgerufen wurden, findet der ausländische Besucher in den kirchlichen Kreisen der Niederlande kein Paradies ökumenischer Möglichkeiten. In dieser Hinsicht haben wir eine zu schlechte Vergangenheit. Vier Jahrhunderte lang haben die Kirchen in apologetischen Schützengräben unbeweglich einander gegenüber gestanden. Jeder Versuch, einander im kirchlichen Niemandsland zu begegnen, wurde als Untreue gegenüber der eigenen Kirche angesehen. Zu der theologischen Ausbildung in den Niederlanden gehört - oder gehörte jedenfalls - eine ordentliche Dosis Antistoffe gegen andere Christen. Diese angeborene, in der Kontroverse verfestigte Glaubenshaltung - die oft nur allzu schnell als ein Besorgtsein um die evangelische Wahrheit des Glaubens in Christus angesehen wird - ist die eingebaute Bremse in der ökumenischen Bewegung in den Niederlanden. Aber wie heftig wir uns in der Vergangenheit auch bekämpft haben, auf der anderen Seite haben wir doch immer aufeinander Rücksicht nehmen müssen. Unser Land ist zu klein, um einander aus dem Wege gehen zu können. Und auch der Konflikt ist ja eine Form des Dialogs. Wir sahen einander ja fortwährend in den gegenüberliegenden Stellungen. Außerdem wurde dieser Konflikt immer wieder relativiert durch die merkwürdige Offenheit und Verträglichkeit, die die Niederlande für alle diejenigen, die um ihres Glaubens willen in ihrem eigenen Lande verfolgt wurden, zu einem offenen Haus in Europa machten. Was die Ökumene betrifft, befinden die Niederlande sich in einer einmaligen internationalen Situation. Die anderen Länder in der westlichen Welt sind entweder überwiegend katholisch - Frankreich, Österreich, Italien, Spanien, Portugal und Belgien - oder aber überwiegend reformatorisch - Schweden, Norwegen, Dänemark und England. In Deutschland und in der Schweiz scheint die kirchliche Situation ähnlich der in den Niederlanden zu sein. Doch das ist in Wirklichkeit nicht so, weil in diesen Ländern bis vor kurzem die einzelnen Provinzen und Kantone eine gleichförmige konfessionelle Färbung hatten. Die größte Übereinstimmung mit den Niederlanden in dieser Hinsicht besteht bei den Vereinigten Staaten, aber dort bewacht die alte Pioniersmentalität noch immer die konfessionellen Grenzen. Die Niederlande sind darum das einzige Land in der Welt, in dem reformatorische und römisch-katholische Christen als zwei - quantitativ und qualitativ - gleichwertige Bevölkerungsgruppen zusammenwohnen. Wenn die Christen in den Niederlanden sich an Experimente wagen und wenn diese trotz der eingebauten Bremse deutliche ökumenische Chancen bieten - dann ist das nicht unser eigenes Verdienst. Mit eigenen Augen gesehen sind wir keine besseren Christen und in den Augen der anderen wollen wir keine schlechteren sein. In den katholischen Niederlanden findet eine Invasion biblischer Werte aus der Reformation statt, die zu internationalen Verdächtigungen geführt hat. Die reformatorischen Niederlande wagen in zunehmendem Maße eine Konfrontation mit der katholischen Überlieferung, wofür ihnen der Vorwurf gemacht wird, daß sie dem Erbe von Calvin und Luther untreu werden. Bereits im Jahre 1946, also zwei Jahre vor der Gründung des Weltrates der Kirchen in Amsterdam, wurde in den Niederlanden der ökumenische Rat der Kirchen ins Leben gerufen. Dieser Rat hat im allerersten Anfang der Ökumene in den Niederlanden auf vielen Gebieten bahnbrechend gewirkt: In Fragen von Glaube und Kirchenordnung, sozialen und karitativen Aufgaben, internationalen Problemen, Jugendarbeit, Hilfe für die Kirchen und Flüchtlinge in der Dritten Welt, Gestaltung des Gottesdienstes und der kirchlichen Kultur, Rundfunk und Fernsehen, Film, Arbeit der Universitäten und in der Gestaltung des Verhältnisses zur staatlichen Obrigkeit. Auf dem gesamten vielseitigen Gebiet kirchlichen Lebens hat der Rat unter schwierigsten Verhältnissen Initiativen ergriffen. Christen und Glaubensgemeinschaften standen dieser Zusammenarbeit völlig ungewohnt gegenüber. Der große Gegenspieler war die Vergangenheit. Zu lange hatte das Glaubensgewissen es verboten, einander als Kirchen ernst zu nehmen. Außerdem standen zwei große Kirchen noch abseits. Für die Gereformeerde Kerken war die Trennung von der Hervormde Kerk noch zu frisch, um sich nun schon zusammen an ein Glaubensabenteuer wagen zu können. Und für die Römisch-Katholische Kirche war es durch die internationale Verbundenheit noch unmöglich, ökumenisch in Bewegung zu kommen. Auf die Dauer schien jedoch das größte Hindernis innerhalb des ökumenischen Rates selbst zu liegen. Er hatte keine durchschlagende Kraft, weil die Mitgliedschaft schließlich zu nichts verpflichtete. Jede Kirche hatte ihre Vertreter ernannt, jedoch ohne eigentliches Mandat, ohne übertragene Befugnisse. Der Rat konnte zwar Beschlüsse fassen, doch nur mit moralischem Gewicht. Diejenigen Personen, die für die wirklichen Beschlüsse innerhalb der Kirchen verantwortlich waren, gehörten dem ökumenischen Rat nicht an. Dadurch kam es zu einer Entwicklung, die zu einer völligen Unterhöhlung dieses Rates führte: die unmittelbare Begegnung zwischen den Kirchen spielte sich außerhalb des Rates ab. Wo die wirklichen Entscheidungen getroffen wurden, da war er machtlos in der Abseitsstellung. Die Kirchen errichteten z. B. zusammen einen Interkirchlichen Friedensrat, ohne den Rat auch nur davon zu unterrichten. Die größten Kirchen in den Niederlanden gelangten zu einer gegenseitigen Anerkennung der Taufe und zu einem Konsensus über die konfessionelle Mischehe. Auch hierbei konnte der Rat nicht einmal als Begegnungsstätte für die Kirchen seine Dienste anbieten.
In dieser Hochkonjunktur stand der ökumenische Rat der Ökumene im Wege. Es war ein Zeichen von Mut, daß dieser Pionier der ökumenischen Bewegung in den Niederlanden den Beschluß für seine Liquidation selbst den Kirchen vorlegte. 1965 reichte er einen Reorganisations-Vorschlag ein. Am 21. Oktober 1967 wurde durch die Kirchen eine Arbeitskommission ernannt und am 21. Juni 1968 erfolgte namens der Synoden und der Episkopate der gemeinsame Beschluß zur Errichtung des Rates der Kirchen in den Niederlanden. Diesem Rat traten bei: die Niederländisch-Hervormde Kerk, die Römisch-Katholische Kirche, die Gereformeerde Kerken, die Evangelisch-Lutherische Kirche, die altkatholische Kirche, die Remonstranten-Bruderschaft, die Bruderschaft der Mennoniten, die Evangelische Brudergemeinde, die Quäker und als Gastmitglieder der Niederländische Protestantenbund und die Heilsarmee. Die wichtigsten Unterschiede bei dieser Wachablösung sind: Verbreiterung der kirchlichen Gemeinschaft und Durchbrechung des Nicht-Verpflichtetseins. Der reformatorische Beitrag wurde erheblich verstärkt durch die Teilnahme der Gereformeerde Kerken. Und erstmals in der Welt trat hier eine Römisch-Katholische Landeskirche einem nationalen Rat der Kirchen bei. Der andere Unterschied kann unübersehbare Konsequenzen nach sich ziehen: Der Rat der Kirchen wird nicht durch Delegierte der Kirchen gebildet, sondern durch Mitglieder der kirchlichen Führungsorgane. Die Kirchen selbst sind mit einem verpflichtenden Engagement in die ökumenische Bewegung eingetreten, und sie wollen ihr Getrenntsein im Spannungsfeld von Einheit und Pluriformität durch gegenseitige Anerkennung als Glieder der einen Kirche Jesu Christi vollkommen ernst nehmen. Es besteht aber die große Gefahr, daß in dieser neuen Struktur die Verantwortung für die Ökumene in eine hierarchische Spitze verlegt wird. Sorge um die eigene Kirche entspricht nicht ohne weiteres ökumenischer Dynamik. Sie fallen jedenfalls nicht immer zusammen. Diese Klippe hat der Rat zu umgehen versucht durch ein zweifaches Hinzuziehen der ganzen Glaubensgemeinschaften zu diesem gemeinsamen Kirche-sein. Auf der einen Seite wird das gemeinsame Programm der Kirchen auf nationaler Ebene fortwährend durch die provinzialen und örtlichen Räte der Kirchen und die ökumenischen Aktionsgruppen mit beeinflußt. Auf diese Weise kann alles über die Tagesordnung des Rates gehen, was in den Glaubensgemeinschaften lebendig ist. Auf der anderen Seite wurden innerhalb des Rates eine Anzahl Abteilungen geschaffen, in denen die betreffenden kirchlichen Organe und Christen aus den verschiedensten Sektoren des gesellschaftlichen Lebens ihre Erkenntnis zum Ausdruck bringen wollen, daß sie sich nicht länger exklusiv für die eigene Kirche verantwortlich fühlen. Durch gemeinsame Besinnung und integrierte Zusammenarbeit präludieren sie die eine Kirche. Vertreter dieser Abteilungen gehören dem Rat an. Im Augenblick bestehen bereits folgende Abteilungen: Theologische Fragen, Diakonie, soziale Angelegenheiten, ökumenische Aktion, Gottesdienst, internationale Fragen, Kontakte mit der Obrigkeit. In Vorbereitung sind: Jugend, Information und Publizität, Unterricht und Schulung, Entwicklungszusammenarbeit, kirchliche Finanzen und ökumenische Kontakte mit den Kirchen im Ausland. Innerhalb dieser Abteilungen arbeiten eine Anzahl Arbeitsgruppen. Angesichts dieser vollkommen neuen Situation und angespornt durch die hohen Erwartungen hat der Rat der Kirchen in den Niederlanden am 6. Januar 1971 allen Kirchen einen Entwurf für eine Grundsatzerklärung vorgelegt, worin er einige Wegweiser in dem noch unerforschten Land angebracht hat. Zusammengefaßt enthält dieser Entwurf die folgenden Punkte:
Mit der Gründung des Rates haben es sich die Kirchen nicht einfach gemacht. Man kann sich sogar die Frage stellen, ob dieser Beschluß nicht übereilt gefaßt wurde, weil die Glaubensgemeinschaften in den Niederlanden noch nicht reif sind für das Abenteuer eines Lebens außerhalb der eigenen Kirchengrenzen. Solange die Ökumene sich außerhalb der unmittelbaren Verantwortung der Kirchen abspielte, entdeckten die Pioniere ein immer größer werdendes Spielfeld zwischen den Kirchen. Kirchliche Leiter ließen Experimente zu, ja sie stimulierten sie sogar vorsichtig, weil ein ökumenischer Anstrich den Giebel ihrer Kirche nicht verunzierte. In dieser Periode der kirchlich-unverbindlichen Ökumene lag die Hochkonjunktur der ökumenischen Begeisterung. Diese Periode war in den Niederlanden in den Jahren zwischen 1960 und 1970. Für die Kirchen selbst ist die Lage nicht weniger schwierig. Innerhalb des Rates sind sie übereingekommen, einander als Kirche Jesu Christi ernst zu nehmen, trotz der vielen Glaubensfragen, die sie einander noch zu stellen haben. Dadurch ist jede Kirche in eine Identitätskrise geraten. Früher war es allen deutlich, warum der eine protestierend dem anderen gegenüberstehen mußte. Sie sahen bei dem anderen deutliche Ansatzpunkte, von wo aus sie ihn zurückstoßen konnten. Jetzt, da sie einander im Rat besser kennenlernen, werden die Gegensätze immer schwerer greifbar. Um der Ökumene willen, die sie nicht in den farblosen Kompromiß eines Einheitsglaubens absinken lassen wollen und mit Rücksicht auf den eigenen Beitrag für die eine Kirche, sind sie in großer Unsicherheit auf der Suche nach neuen Formulierungen der eigenen Identität. Hierbei kann man die Gefahr einer neuen Verhärtung der Beziehungen untereinander deutlich feststellen. In der Spannung zwischen eigener Identität und verbindlicher Ökumene kann man schwer leben. Die ökumenische Aufrichtigkeit wird durch eine schizophrene Haltung bedroht, wobei die Getreuen der eigenen Glaubensgemeinschaft, die nicht mitkommen können, sehr leicht ein Alibi für einen mutigen Beschluß liefern. Gleichzeitig entnehmen dieselben Getreuen ihr eigenes Alibi für ökumenischen Mut der Weigerung der kirchlichen Leiter für ‚grünes Licht’. So halten sie sich gegenseitig in der ‚Rührt euch’-Stellung. Die Ökumene kann im eigenen Bekenntnis und in der eigenen Kirchenordnung nicht legitim werden. Denn diese sind nicht im Blick auf die Einheit der Kirche geschaffen, sondern innerhalb getrennter Kirchen. Bekenntnis und Kirchenordnung lassen die Kreativität und die Erfindungsgabe für den ökumenischen Durchbruch vermissen. Kirchliche Leiter und Christen arbeiten an der Ökumene mit einem schlechten Gewissen gegenüber der eigenen Kirche. Diese Glaubenskrise muß man sehr ernst nehmen, wenn man Christen nicht gegen die Stimme ihres Gewissens über Grenzen herüberholen will, die sie, wenn sie ehrlich sind, noch nicht überschreiten können. Die Identitätskrise hat in zunehmendem Maße zu einer Polarisation der Standpunkte geführt. Die ökumenische Bewegung als solche kann kirchentrennend wirken durch Aufrichtung eines neuen Gegensatzes von exklusiver und inklusiver Glaubenshaltung. Der Ernst der Situation verbietet es, diese Worte in abfälliger Weise zu gebrauchen. Es geht hierbei um Glaubensentscheidungen. Der eine glaubt, daß die Ökumene niemals Verrat an der eigenen Kirche sein darf; der eigene Glaube wird deshalb exklusiv gesehen, das heißt, der Glaube der anderen wird ausgeschlossen als weniger der Wahrheit entsprechend und weniger die volle Wahrheit umfassend. Der andere dagegen wagt aus der Erkenntnis der historischen Relativität seiner eigenen Tradition heraus nicht, diese Exklusivität zu fordern; er ist sich dessen bewußt, daß die Christen einander brauchen, um das Evangelium von Jesus Christus für unsere Zeit verständlich auszudrücken und zu erfahren. Die Spannungen in den niederländischen Kirchen steigern sich im Augenblick schnell. Eine wesentliche Ursache ist die unterschiedliche Beurteilung der Ökumene. Seit jener versteht man darunter die Einheit der Kirche. Die Kirchen werden sich zusammen auf den langen und mühseligen Weg begeben müssen, um ihre Einheit in Bekenntnis und Kirchenstruktur wiederzufinden. Die Treue gegenüber der eigenen Kirche verbietet auf diesem Wege ein übereiltes Tempo. Die Christen werden die Geduld aufbringen müssen, um nicht in einem Dezennium alle die Glaubensfragen lösen zu wollen, durch die sie Jahrhunderte lang getrennt waren. Nicht aus ökumenischer Ungeduld, die diesen langen Atem nicht mehr aufbringen kann, sondern aus einer neuen Glaubenseinstellung im Blick auf die irdische Wirklichkeit versucht eine zunehmende Anzahl Christen die Kirchen aus dieser Sackgasse herauszuführen. Nach ihrer Meinung kann die Einheit, die innerhalb des kirchlichen Rahmens gesucht wird, zu nichts anderem führen als zu einer Wiederherstellung der mittelalterlichen Risse. Nachdem sie jahrhundertelang in einem innerkirchlichen Getto gelebt haben, würden die Kirchen nun in ein interkirchliches Getto geraten. Über die Grenzen der bestehenden Kirchen hinweg erleben diese Christen eine neue Einheit zusammen mit allen denjenigen, die sich in einem evangelischen Engagement für diese Welt und für unser heutiges soziales Leben einsetzen. Es geht Gott nicht um die Kirche, sondern um diese Welt, die er „so sehr geliebt hat, daß er ihr seinen einzigen Sohn gegeben hat” (Joh. 3, 16). Die Kirche als das wallfahrende Volk Gottes ist Zeichen und Instrument des Heils in dieser Welt, des Reiches Gottes, das sich in allen menschlichen Beziehungen bereits vollzieht. Die Werte, für die diese Christen sich einsetzen, indem sie von der erlösenden Mitmenschlichkeit des Gottessohnes ausgehen, sind die acht Seligpreisungen als eine Art Grundgesetz dieses Reiches: Gerechtigkeit, Friede, Liebe, Lauterkeit des Herzens, Demut, Trost, Mitleiden an dem Leid dieser Welt und die Bereitschaft, für diesen Einsatz auch Leid im eigenen Leben auf sich zu nehmen. Der individuellen Einstellung zum Heil (wie sie zum Ausdruck kommt in Formulierungen wie z. B. „Wie komme ich in den Himmel?” oder „Wie finde ich einen gnädigen Gott?”) stellen sie die Perspektiven der messianischen Erwartung Israels, d. h. die soziale Dimension des Heils von Jesus Christus gegenüber. Der Bund Jahwes mit seinem Volk hatte großen Einfluß auf die sozialen Verhältnisse in Israel. Am Anfang dieses Bundes steht die sozialpolitische Revolution des Auszuges aus Ägypten, und der Bund wird durch volkswirtschaftliche und soziale Strukturen im gelobten Land verwirklicht (vgl. die Bücher Exodus, Deuteronomium, Levitikus). Das ganze jüdische Volksleben war auf das Jubeljahr gerichtet, in dem alle menschlichen Verhältnisse saniert werden. Von dieser sozialen Dimension der Schrift aus suchen diese Christen gemeinsam nach einer Antwort auf die vielen aktuellen Fragen, die hier und jetzt gelöst werden müssen: das unerträgliche Verhältnis zwischen Armut und Reichtum in dieser Welt, die sozialen Spannungen und die Verletzung der menschlichen Würde in den Betrieben, die ständige Bedrohung des Weltfriedens, der Kampf gegen die Umweltverschmutzung, das Problem der Überbevölkerung, das beängstigende Verschlingen der natürlichen Bodenschätze unserer Erde, das veränderte Erleben von Sexualität, Ehe und Zölibat und der neue Lebensstil, den die Jugendlichen sich aufbauen. Wer diese Entwicklungen im kirchlichen Leben in den Niederlanden während der letzten Jahre von nahebei beobachtet hat, könnte vielleicht meinen, daß er Zeuge eines neuen Schismas wird; nicht mehr entsprechend den traditionellen Bruchlinien zwischen Rom und Reformation, sondern quer durch alle Kirchen. Dieses drohende Schisma wird auf den Nenner der falschen Alternative Vertikalismus und Horizontalismus gebracht. Man kann diese Spannung aber auch als ein Zeichen echter Vitalität der Kirche ansehen, die in einem deutlichen Übergang zu einer neuen Kulturphase mühsam nach einer zeitgemäßen evangelischen Antwort sucht. Die Krise auf allen Gebieten unseres heutigen Zusammenlebens ist erheblich. Die Kirche müßte geradezu abgestorben sein, wenn sie in dieser Zeit nicht auch in eine Krise geraten wäre. Dabei droht die Gefahr, daß die Vergangenheit der Kirchen ihnen wieder einen Streich spielt. Werden wir infolge von polarisierenden einseitigen Standpunkten wieder einander nicht finden und aufgrund anderer Bruchlinien zu einem neuen Schisma kommen, so wie im 16. Jahrhundert? Oder werden wir bei den großen Gegensätzen in unserem gemeinsamen Suchen doch einander festhalten, im Glauben an die vorgegebene Einheit in Christus? In diesem mühsamen Ringen hat sich für die Kirchen in den Niederlanden eine neue Perspektive geöffnet, nachdem der ökumenische Rat der Kirchen die ökumenische Bewegung auf die Spur des konziliaren Kirche-seins gebracht hat. 1968 in Uppsala haben die Kirchen ihre Gemeinsamkeit im Weltrat „als eine Übergangslösung bis zu einer schließlich zu verwirklichenden wahrhaft universalen, ökumenischen, konziliaren Form des gemeinsamen Lebens und Zeugnisses” entdeckt. Im Rat der Kirchen in den Niederlanden können die Glaubensgemeinschaften sich in einer konziliaren Form von kirchlichem Zusammenleben üben, indem sie nun bereits beginnen „auf die Zeit hinzuarbeiten, wenn ein wirklich universales Konzil wieder für alle Christen sprechen und den Weg in die Zukunft weisen kann.” Was beinhaltet diese neue Form von konziliarem Kirche-sein? Konziliares Kirche-sein ist nicht ein einseitiger Begriff, der nur auf den Endpunkt hindeutet, auf das Ziel des Weges; konziliares Kirche-sein beleuchtet auch den Weg selbst, die Phasen der einzelnen Wegstrecken und die Bedingungen des gemeinsamen Weitergehens. „Concilium” bedeutet Gemeinschaft, Versöhnung, gemeinsames Durchdenken, die Äußerung gemeinschaftlichen Lebens, Organisationsformen der Gemeinschaft. In dieser reichen Schattierung würde konziliares Kirche-sein die Grundstruktur einer neuen Phase in der ökumenischen Bewegung bedeuten. Die jetzt noch getrennten Kirchen verhalten sich im Rat der Kirchen wie eine Glaubensgemeinschaft, die ein ökumenisches Konzil vorbereitet. Welches sind die Etappen auf diesem Wege?
Quatember 1974, S. 131-142 |
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