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Nicolai Berdjajews Freiheit
von Bernhard Rang

LeerRuhm ist eine problematische Größe. Der russische Religionsphilosoph Nicolai Berdjajew, am 6. März 1874 in Kiew geboren, am 23. März 1948 in Clamart bei Paris gestorben, war in den vierziger Jahren weltberühmt. Aber sein hundertster Geburtstag in diesem Jahr wurde in der Öffentlichkeit kaum beachtet. Und doch lohnt sich eine Beschäftigung mit dem Werk dieses leidenschaftlichen Denkers. Seine geschichtsphilosophischen und christlich-religiösen Gedanken besitzen auch in ihrer Widersprüchlichkeit noch immer eine erstaunliche Aktualität, ja Brisanz. Hier werden wir, auch als Christen, herausgefordert. Berdjajew hinterließ kein philosophisches System. Seine Bücher sind Bekenntnisse, weniger von der Logik beherrscht (die er als „Krankheit des Seins” bezeichnete), sondern diktiert von der Leidenschaftlichkeit seiner Wahrheitssuche. Sie besitzen in gewissem Sinn aphoristischen Charakter. Es ist, als ob der Denker und Mensch leidenschaftlich auf seine Zuhörer einspricht, um sie mit der Glut seiner Rede, mit seinem oft kühnen Thesen und Behauptungen zu überzeugen. Berdjajew spricht immer aus der eigenen persönlichen Erfahrung, mit dem Einsatz seiner ganzen menschlich gläubigen Existenz. Insofern darf er sich als Existentialisten bezeichnen, doch ohne der Schule des Existentialismus anzugehören.

LeerBerdjajew hat eine Reihe bemerkenswerter Bücher geschrieben. Aus ihnen ragt hervor das Spätwerk „Selbsterkenntnis”, dem er den Untertitel gab: „Versuch einer philosophischen Autobiographie”. Das Buch, 1940 entstanden, mit Zusätzen aus den Jahren 1946 und 1947, gehört zu den geistesgeschichtlich großen Selbstbekenntnissen, wie wir sie von Augustinus „Confessiones” bis zu Nietzsches „Ecce homo” kennen. Berdjajew schildert kaum Intim-Persönliches. Er will seinen geistigen Werdegang erfassen und damit die Hauptthemen seines philosophischen und religiösen Denkens noch einmal aussprechen. Schon auf den ersten Seiten zeichnet er, gleichsam aphoristisch, sich selbst. Einige dieser lapidaren Sätze lassen die Eigenwilligkeit und Tiefe seiner Persönlichkeit aufleuchten:

Leer„In mystischer Tiefe ist alles, was der Welt widerfuhr, auch mir widerfahren.”

Leer„Andrerseits erlebe ich qualvoll die Fremdheit der Welt, das Weitfernesein von allem, meine eigene Unverbundenheit mit ihr.” „Ich bin immer nur ein Pilger gewesen.”

Leer„Ich habe immer mit jedem Milieu gebrochen, bin immer fortgegangen.”

Leer„Ich bin Emanzipator, also ein Mündiger dem Ursprung und dem Pathos nach.”

Leer„Mein ganzes Sein hat im Zeichen nach dem Transzendenten gestanden.”

Leer„Mir ist ein eschatologisches Fühlen gleichsam von der Natur mitgegeben.”

Leer„Ich halte mich selber für einen Aufrührer, aber für einen demütigen Menschen.”

Leer„Das Element des Feuers kommt mir am nächsten.”

Leer„Ich gehöre zu denen, ,die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit'.”

Leer„Ich transzendiere fortwährend mich selber.”

Leer„Ich habe dem ‚Sein’ das ‚Schaffen’ entgegengesetzt.”

Leer„Das Angesicht der allmächtigen Gottheit, der machtvoll herrschenden und richtenden, ist mir fremd; aber nahe ist mir das Angesicht der leidenden Gottheit, der liebenden und gekreuzigten. Nur durch den Sohn vermag ich Gott in mich aufzunehmen.”

LeerAus solchen Äußerungen wird schon der Umkreis seines philosophischen und religiösen Denkens ersichtlich. Zentrale Bedeutung besaß für Berdjajew die Freiheit. Über dies Thema und den Gegensatz: die Knechtung, die Unfreiheit hat er immer neu nachgedacht. Es war und wurde im Kampf um die Freiheit ein Kampf gegen die Endlichkeit im Namen der Unendlichkeit, besser des Ewigen. Diese für ihn existentielle Philosophie führte ihn zur „Revolution”, zu einer geistigen Erneuerung. Denn Berdjajews leidenschaftlicher Wunsch war, nicht nur die Wahrheit und den Sinn zu erkennen, sondern auch die Welt aufgrund dieser Wahrheit und dieses Sinnes ändern zu können. So lebte er ständig in einer chiliastischen Erwartung. Darum blieb ihm auch, trotz radikaler Ablehnung des russischen Kommunismus, eine „Empfindsamkeit”, wie er das Gefühl nennt, für den Marxismus.

LeerUm das für Berdjajew so zentrale Thema der Freiheit zu verstehen, ist auch ein Blick auf seine Herkunft und seinen Lebensweg notwendig. Er stammt aus russischem Hochadel, lebte im „goldenen Kiew” im Luxus seines vornehmen Elternhauses. Kadettenkorps, Pagenschule am Petersburger Hof sollten die ersten Etappen einer glänzenden Laufbahn sein. Aber der Aristokratensohn wurde Marxist, verließ die Kadettenanstalt, um Philosophie studieren zu können. Elternhaus und Abstammung bedeuteten ihm nicht viel. Militär mit seinem Zwang haßte er. Als leidenschaftlicher Marxist geriet er bald in Konflikt mit der Staatsgewalt und wurde auf drei Jahre verbannt. Die bolschewistische Revolution bejahte er anfangs; schloß sich aber nicht der Partei an. Als er philosophisch gegen den marxistischen Dogmatismus öffentlich auftrat, Gewalt und Gewissensunterdrückung anprangerte, wurde er nach kurzer Verhaftung 1922 ausgewiesen. Ungern verließ er Rußland; zu stark war die Bande, die ihn mit der Heimat, dem russischen Menschen, der russischen Sprache, auch der Frömmigkeit des russischen Volks verbanden.

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LeerÜber Berlin kam er nach Paris. In der Emigration blieb er einsam. Die extremen Rachegefühle der dort lebenden Exil-Russen teilte er nicht. Er wußte und bekannte, daß von außen der russische Kommunismus nicht überwunden werden könnte. Den westlichen Kapitalismus, die Brüchigkeit westlicher Demokratie durchschaute er rasch. Diese Welt, so spürte er, hatte keine Zukunft. Der Versklavung des russischen Volkes, dem Ungeist der neuen Tyrannen wollte er die Schöpferkraft des Geistes und einer religiös geprägten Freiheit entgegenstellen. Die Exiljahre in Frankreich, 1924 bis 1948, waren reiche Schaffensjahre und brachten Berdjajew, worüber er selbst erstaunte, Weltruhm. Aber immer blieb in dieser leidenschaftlichen Persönlichkeit ein Zwiespalt: Schmerz, Einsamkeit, oft Ekel über dies alltägliche Dasein, und dann wieder Aufschwung, geistige Ekstase, Eintauchen in Mystik und Transzendenz. Gestorben ist Berdjajew in dem schönen, ländlichen Haus von Clamart bei Paris im Frühjahr 1948. Er starb am Schreibtisch mit der Feder in der Hand. Schreiben war für ihn wie das Atmen für seinen Körper. Nur so, geistig sich äußernd, entäußernd, konnte er leben, konnte er die Knechtschaft der Gebundenheit an Welt und Materie ertragen und überwinden.

LeerWas verstand Berdjajew unter Freiheit? In ihr lag für ihn das Geheimnis der Welt beschlossen. Gott hat die Freiheit gewollt: Freiheit am Beginn, Freiheit am Ende. Gott sei nur in der Freiheit gegenwärtig, wirke auch nur durch Freiheit. Für den Menschen ist Freiheit nicht leicht zu ertragen; sie gebiert Leiden, ist eine Last. Viele Menschen, ja die meisten, weichen ihr deshalb aus; sie wollen lieber - unfrei - geführt sein, behütet werden. Berdjajew verstand unter Freiheit nicht die „Freiheit des Willens”, des Wählen-Könnens. Seine Vorstellung von Freiheit besaß metaphysischen Charakter. Die Idee der Freiheit war für ihn uranfänglicher als die Idee der Vollkommenheit. Autorität und Tradition standen im Gegensatz zu seinem Denken der Freiheit. Auch zu Gott hin muß der Mensch frei bleiben. Glaube wie Liebe können nicht erzwungen werden. Alles Kollektive besitzt den Zug zum Zwang, zur Unterdrückung der freien Meinung, der Gewissens-Freiheit. Berdjajew selbst fühlte sich gegen jede Verführung des Kollektiven, auch im Bereich des Religiösen und Kirchlichen, immun, gleichsam gefeit. Immer stand er auf Seiten der Persönlichkeit und gegen jeden Totalitarismus. Die tiefere Auffassung der Freiheit, die nur dynamisch, nicht statisch gedacht werden kann, führte ihn freilich zu seltsamen, auch christlich-häretischen Gedanken. Das göttliche Leben sei Freiheit, Befreitsein, freier Flug: Anarchia. Es gäbe eine „präexistente” Freiheit, gleichsam getrennt von Gott am Uranfang, im „Ungrund”, wie der Mystiker Böhme dies Mysterium der Schöpfung, des Urbeginns nennt. Mit dieser seltsamen, dennoch nachdenkenswerten Auffassung verband sich im symbolhaften Denken Berdjajews das, was er seine „apophantische Theologie” genannt hat: „Gott ist Geheimnis, und Gottes Erkenntnis ist Anteilnahme am Geheimnis, das hierdurch noch geheimnisvoller wird.”

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LeerWas aber ist das Böse, was ist sein Ursprung? Dieser liegt nicht in Gott. Das Böse ist „grundlos”. Die irrationale, „präexistente” Freiheit barg das Böse gleichsam als reine Möglichkeit, als Potenz in sich. Der Konflikt zwischen Freiheit und Notwendigkeit ist unüberwindbar. Er bedingt den tragischen Prozeß der Geschichte. Erst in Christus leuchtet die wahre, die gute Freiheit auf, in der das Böse, der Quell des Bösen überwunden ist. Die christliche Lehre von der Gnade sei die wahre Lehre von der Freiheit. Die Freiheit des Sohnes Gottes, der auch Mensch war, absoluter Mensch, geistiger Mensch, Mensch von Ewigkeit her, diese Freiheit ist eben die Freiheit, in welcher die freie Antwort Gottes und der freie Verkehr mit Gott erst möglich wird. „Das Geheimnis des Kreuzes, das Geheimnis von Golgatha ist ein Geheimnis der Freiheit. - Der Gekreuzigte ist der Freiheit des menschlichen Geistes zugewandt. Niemals und nirgends wendet er Gewalt an.” Gerade am Kreuz ist der Welt die unendliche Liebe erschienen. „Im freien Leiden des Gottesmenschen liegt das Geheimnis der christlichen Liebe verborgen.”

LeerEs ist unmöglich, auch nur in Stichworten die Fülle denkerischer und religiöser Einsichten und Behauptungen dieser so impulsiven Persönlichkeit darzulegen. Immer wieder verweist Berdjajew auf Dostojewski, der ihm in seinem prophetischen und grundrussischen Messianismus sehr nahe steht. Alles bloß richtende, juridische oder gar rächende Verhalten der Gottheit, wie es das alttestamentarische Jahwe-Bild geprägt hat, stößt bei ihm auf Widerspruch. „Nur ein leidender Gott vermag mit dem Leiden der Schöpfung auszusöhnen.” Gott oder Christus als Pantokrator, als Herrscher und Richter - nein! „Kein Begriff sozialer Provenienz läßt sich auf Gott anwenden.”

LeerAus solcher Vorstellung der Freiheit, freier Liebe, eines freien Dienens entfaltet sich auch Berdjajews ausgesprochener „Personalismus”, die besondere Bedeutung, die er dem Menschen gerade im Blick auf Gott zuweist. Des Angelus Silesius berühmter Spruch wird oft von ihm zitiert: „Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben, / Werd ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.” Der Mensch ist aufgerufen, das Kommen des Gottesreichs mit herbeizuführen. Gott bedarf des Menschen, seiner freien Zuneigung, ja Mithilfe, das Werk der Schöpfung zu vollenden. Gott erwartet vom Menschen das kühne Wagnis einer schöpferischen Antwort. So wird auch das göttliche Schicksal abhängig gesehen vom Menschen.

LeerHier erhält das eschatologische Denken Berdjajews erneute Bedeutung. Es geht ihm um das „Ende”, die Überwindung der Zeit und alles Zeitlichen. Dies aber kann wiederum ohne menschliche Freiheit und ohne „gemeinsames Wirken” nicht vollbracht werden. Hier spricht Berdjajew als Geschichtsphilosoph. Er weiß, daß der Mensch im höchsten Maße ein geschichtliches Wesen ist. Jeder Mensch ist nicht nur in das historische Geschick hineingestellt; was noch wichtiger ist: er muß es als sein Geschick annehmen, in sich hineinnehmen. So besitzt das eigentlich Geschichtliche, was mehr ist als die faktische Historie, eschatologischen Charakter. Berdjajew unterscheidet eine irdische und eine himmlische Geschichte, die freilich miteinander korrespondieren. Innerhalb der himmlischen Geschichte vollzieht sich das tragische Geschick des Gottessohns, eine Tragödie der Gottheit selbst.

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LeerSolche Gedanken führen und verführen freilich zu einer irrationalen Mystik. Die Lehre Jakob Böhmes über die „dunkle Natur in Gott” hat auf Berdjajews Denken eingewirkt. Er versucht das Urdrama und Mysterium des Christentums zu erfassen in der Polarität: der Geburt Gottes im Menschen und der Menschengeburt in Gott. Auch die irdische Geschichte sollte in Freiheit beginnen. „Hätte Gott die Freiheit nicht gewollt und nicht erwartet, so hätte es den Weltprozeß nicht gegeben.” So konnte und mußte diese Welt-Geschichte eine blutige Geschichte werden. Ihre Mitte und damit ihre Erlösungsmöglichkeit bildet Christus und die Geschichte der Kreuzigung. Mit der freien Liebestat dieses Opfers ist dem Weltäon ein Ende gesetzt. Der religiöse Gehalt aller Geschichte offenbart sich in ihrem Weg „zur anderen Welt”, in ihrem Einmünden in das Reich Gottes. Dies „Ende”, die hier sich vollziehende Wandlung, Verwandlung oder Transfiguration, mit der Wiederkunft Christi in eins, ist das eigentliche metaphysische Geheimnis alles Geschichtlichen.

LeerAndere wichtige Themen der Berdjajewschen Philosophie müssen hier übergangen werden, so die Bedeutung des Schaffens, des schöpferischen Tuns, die Analyse des Bewußtseins, die Grenzen jeder Selbsterkenntnis. Was Berdjajew über die Ökumene sagt und über die Kirche, hat noch immer aktuellen Wert. Zentral war für ihn die Einsicht, daß das Christentum sich noch nicht völlig aktualisiert habe. Vieles ist auch als Glaubensgut, als Kult und Organisation erstarrt. Die Hoffnung auf eine innere Erneuerung drückt der Philosoph in dem kühnen Satz aus, der für die Noch-nicht-Christen, die vor den Toren Stehenden ermutigend klingt: „Die christliche Wiedergeburt wird der verlorene Sohn, wenn er zum Vater zurückkehrt, mit sich bringen.” Solche Erneuerung des Christentums bedeutet nicht mehr nur Schutz oder bloßes Bewahren, sondern eine geistige oder pneumatische Revolution.

LeerDas Urproblem des Bösen und damit zusammenhängend die Erlösung war für Berdjajew gleichfalls von zentraler Bedeutung. So sehr der Mensch Individuum, eine eigene, einmalige Persönlichkeit ist, so ist er doch für alle und alles verantwortlich. Darum, so folgert der Philosoph, müssen und sollen auch alle gerettet werden. Berdjajew neigt zur Annahme jener Lehre der Ostkirche von der Apokatastasis, der Heimholung am Ende der Zeit und Zeiten aller Geschöpfe, auch der Bösen, der endgültigen Erlösung der gesamten Schöpfung. „Der Wille zur allgemeinen Rettung ist ein Ausdruck der Liebe.” Weil aber der Mensch eingebunden ist in das Schicksal aller Menschen, muß er auch die Verantwortung für alle auf sich nehmen: „Er muß in der Welt arbeiten, um die Welt umzugestalten. Gottes Gnade aber wirkt im Innern der Freiheit des Menschen; sie verklärt sie von innen heraus.”

LeerAus dem Prinzip der Freiheit hat Berdjajew, der auch in den Exiljahren schicksalhaft mit der russischen Revolution und dem russischen Volk verbunden blieb, sich gegen den Kommunismus gestellt. Geistesfreiheit und Gewissensfreiheit waren dort unterdrückt. Auch das für den russischen Denker so wichtige Prinzip der Persönlichkeit wurde und wird im System des Bolschewismus mißachtet. Schließlich negiert die marxistische Ideologie den Geist, anerkennt ihn nur als „Überbau”. Geist aber, alles Geistige, damit auch das Religiöse, waren für Berdjajew Fundament, besaßen höchste Würde. Hier gab es kein Ausweichen. Das Reich Cäsars war und blieb der Feind des Reiches Gottes.

LeerBerdjajew war ein Bekenner. Seine Philosophie ist ein Glaubensbekenntnis, ein Credo. Er rang schwer darum, sein Eigentliches, sein verhüllt Innerstes auszusagen. So blieb er auch in Widersprüche verstrickt. Dennoch gebührt es uns, auch wenn sein „Ruhm” zu erlöschen scheint, diesem leidenschaftlichen Denker und innerlichen Christen Gehör zu schenken. Er war, wie Schestow, Solowjew, wie vor allem Dostojewski: ein prophetischer Denker, ein von Gott angerührter Christ.

Quatember 1974, S. 146-151

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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