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Neurosen im christlichen Leben
von Adolf Köberle

LeerUnter ekklesiogenen Neurosen versteht man seelische Störungen und Erkrankungen, die ihre Ursache darin haben, daß ein Mensch durch das Leben in und mit der Kirche wesenhaft geprägt worden ist. Der Berliner Gynäkologe Dr. Schaetzing, bekannt geworden durch sein Buch „Die verstandene Frau”, hat den besagten Ausdruck wohl als erster geprägt. Um die Sache selbst hat man in der ärztlichen Seelenheilkunde immer schon gewußt.

LeerDie Statistik stellt fest, daß unter den Patienten, die psychotherapeutische Hilfe suchen, die Zahl der Protestanten beträchtlich höher liegt als die der katholischen Christen. Innerhalb des evangelischen Bereichs wiederum kommt der Zugang aus der Frömmigkeitswelt des Pietismus an erster Stelle zu stehen. Zweifellos wird durch die Ohrenbeichte, zu der jeder katholische Christ nach der Ordnung seiner Kirche wenigstens einmal im Jahr verpflichtet ist, eine gewaltige Menge von seelischer Not aufgefangen und zur Lösung gebracht. Hat doch selbst Nietzsche diesen Ritus ausdrücklich gerühmt als einen „Abzugsgraben für den seelischen Unrat der Menschheit”.

LeerMartin Luther war von seiner mönchischen Vergangenheit her als Beichtvater wie als Beichtkind mit dieser geistlichen Übung wohl vertraut. Er hat sie für seine Person ein Leben lang beibehalten, auch nachdem die Trennung von der Mutterkirche längst erfolgt war. Er hat zu wiederholten Malen erklärt, daß er sein von innen und außen hart angefochtenes Leben niemals hätte bewältigen können, wenn ihn die Beicht' nicht gerettet hätte. Seit dem 18. Jahrhundert kommt die bis dahin auch in der lutherischen Kirche geübte Einzelbeichte mehr und mehr in Vergessenheit und Verfall. So ist es nicht verwunderlich, wenn der Beistand der Psychotherapie heute in besonders großer Zahl von Menschen begehrt wird, die aus dem Bereich des evangelischen Christentums stammen.

LeerDer Berliner Dr. med. et theol. Klaus Thomas, ein Schüler von Prof. J. H. Schultz, ist noch einen Schritt weitergegangen und hat schon vor Jahren in einem aufsehenerregenden Artikel im „Spiegel” die These vertreten, daß sich nicht nur unter evangelischen Laien, sondern auch unter evangelischen Theologen eine beunruhigend große Zahl von seelisch Belasteten findet, die einer therapeutischen Durcharbeit ihrer unbewältigten Lebenskonflikte dringend bedürften.

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LeerIm allgemeinen herrscht ja die Überzeugung vor, der Glaubensstand sei neuroseverhindernd. Zweifellos gilt das auch in weitem Umfang. Selbst Freud, der in der Religion eine Zwangsneurose sah, hervorgegangen aus Vater-Angst und Schutzbedürftigkeit des Menschen, war der Meinung, daß gerade dieser kollektive Tatbestand verhüte und verhindere, eine persönliche Neurose auszubilden. Erst recht gilt: Wer die Haltung des Glaubens aufgrund freier Aneignung vollzieht als ein sich in Gott geborgen und von ihm geführt Wissender, der braucht auch in den dunkelsten Stunden seines Lebens Hoffnung und Vertrauen nicht fahren zu lassen. Die von Martin Heidegger geprägten Schulrichtungen der Psychotherapie - wir denken an Binswanger, Viktor Frankl und Frau Herzog-Dürck - sind ja der Meinung, daß Neurosen keineswegs nur aus Triebverdrängung und Triebunterdrückung entstehen, sondern mindestens ebenso häufig aus der Sinnverlustigkeit der menschlichen Existenz.

LeerInsofern lebendiger Glaube Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus Gottes Hand nimmt und in Gottes Hand legt, können Schuld, Angst, Sorge und das Wissen um den Tod einen Menschen nicht mehr aus der Bahn werfen, wenn auch eine solche weltüberlegene Zuversicht niemals zum sicheren Besitz werden kann, sondern immer neu erkämpft werden muß. So gewiß das alles zu Recht besteht, wie kann es dann trotzdem geschehen, daß nachgewiesenermaßen oft gerade fromme, gläubige Glieder kirchlicher Gemeinschaft deutlich neurotisch geprägte Züge tragen? Es sind vor allem zwei Momente, die eine Neurosebildung im christlichen Leben begünstigen und fördern können: es ist das gesetzliche Wesen und die Tabu-Angst vor dem Sexuellen.

LeerObwohl Christus nach dem paulinischen Zeugnis im Galater- und Römerbrief „des Gesetzes Ende ist”, gibt es doch in der Christenheit aller Konfessionen, aller Kirchen und Freikirchen noch immer unvorstellbar viel gesetzliches Wesen. Man identifiziert das Christsein mit einem ganz bestimmten, meist noch dazu ausgesprochen kleinbürgerlichen Lebensstil und verdächtigt jeden als „ungläubig”, der sich dieser „Herrschaft des Man” entzieht. Allem Musischen gegenüber herrscht eine mißtrauische oder gar feindselige Einstellung vor.

LeerDas Christsein wird mit ungezählten Verbotstafeln umgeben, so daß ein Kind, in der Unterweisung gefragt, was Religion sei, darauf die Antwort gibt: „Religion ist, was man nicht darf.” Das gesetzliche Verhalten dominiert vor allem überall da, wo die patriarchalische Lebensordnung ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten sucht, ohne Rücksicht auf die nötig gewordenen Wandlungen im Bewußtsein der Generationen. Immer noch herrscht in mehr Häusern, als man annehmen möchte, der pater familias als drohender und überragender Schatten. Frau und Kinder fürchten sich vor seinen Zornesausbrüchen und erzittern, wenn sich eine Wolke des Unmuts auf der Stirne des Gewaltigen zeigt. Die Religion, ganz gleichgültig, wie ihr Glaubensinhalt im einzelnen beschaffen sein mag, wird zur Anstrengung, wird zu einem schweren, harten und freudlosen Müssen.

LeerWenn ein junger Mensch in einer solchen Luft aufwächst, kann sein ganzes Leben davon ein gedrücktes, gehemmtes, mutloses und verängstigtes Wesen bekommen. Die vitalen Naturen aber brechen früher oder später radikal mit der unterdrückten Vergangenheit und stürzen dann nicht selten in einen fanatischen Haß gegen alles Christliche, was dann von der Lebensmitte an ebenfalls wieder zur Neurosebildung führen kann, da nach dem überzeugenden Aufweis von Carl Gustav Jung die dauernde Nichtbewältigung des Religiösen zu einer defizienten Psyche führen muß.

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LeerDas Lieblingsgebiet, auf dem sich der gesetzliche Eifer in der Christenheit seit Jahrhunderten austobt, ist der Bereich des Sexuellen. Demnach gehört zum sittlichen Verhalten, daß man davon am besten überhaupt nicht spricht. Wo es sich aber als nötig erweist, da geschieht es vorwiegend mit Worten der Gefährdung und der Warnung. Daß die Liebe zwischen Mann und Frau Freude, Glück und Lebenssteigerung bedeuten kann, dürfen nur die Dichter sagen. Gewiß, die evangelische und katholische Kasuistik hat an dieser Stelle seit einiger Zeit beträchtlich aufgeholt. So wird der Sinn der Liebesgemeinschaft in der Ehe nicht mehr eingeschränkt auf den Zweck der Erzeugung neuen Lebens. Die Unio mystica der Liebenden hat ihren Reichtum in sich selbst als leibhaftiger Ausdruck innigster Verbundenheit. Trotzdem darf man sich nicht darüber täuschen, es herrscht auch heute noch immer bei verkrampften Müttern und bei gehemmten Vätern und Lehrern erstaunlich viel Prüderie, Unfreiheit und Angst. Wo aber die rechte, verstehende Führung beim „Frühlingserwachen” fehlt oder versagt, da kann es im Erwachsenenalter zu zahllosen neurotischen Symptombildungen kommen. Waschzwang und Berührungszwang (in München „Tatscherlskranheit” genannt), Frigidität und Impotenz sind unter anderem die Folgen einer gesetzlich verkrampften Moraltheologie.

LeerNun kann es ja nicht Aufgabe kirchlicher Betreuung sein, eine derartig begründete Neurose heilen zu wollen. Es bedarf dazu der fachgerechten psychotherapeutischen Berufsausbildung, die in mühevoller, langwährender Einzelarbeit unter Umständen bis auf die orale und anale Regression zurückgehen muß, um das Übel an der Wurzel zu packen. Wohl aber kann kirchliche Verkündigung und Seelsorge an ihrem Teil zielstrebig dazu beitragen, daß gesetzliches Verhalten im Leben einer Gemeinde planmäßig abgebaut wird. Je mehr in dem Zusammenleben einer kirchlichen Gemeinschaft die Luft der Freiheit herrscht statt Richtgeist, Beargwöhnung und Verängstigung, um so weniger wird es zu ekklesiogenen Neurosen bei den Gliedern am Leibe Christi kommen.

LeerAber nun ist ja die Möglichkeit einer neurotischen Fehlhaltung auch von den zum geistlichen Amt bestellten ministri verbi divini behauptet worden. Inwiefern ist gerade der Beruf des Pfarrers und Priesters dafür besonders anfällig? Nach drei Seiten hin ist diese Gefährdung zu bedenken, im Blick auf ein zu hoch getriebenes Standesbewußtsein und im Blick auf das Problem der Macht und des Eros. C. G. Jung hat in die Psychotherapie den Begriff der Persona eingeführt und ihn völlig neu interpretiert. Jung denkt bei dem Wort nicht an die Persönlichkeitskultur, wie sie das 19. Jahrhundert in virtuoser Weise entwickelt hat. Er verwendet den Ausdruck auch nicht im Sinn der Existenzphilosophie, die dabei an den personalen Entscheidungscharakter in der Ich-Du-Begegnung denkt. Es wird vielmehr darauf zurückgegriffen, daß das Wort in der Antike ursprünglich die Maske bedeutet hat, die der Schauspieler beim Sprechen trug und die ihn in seiner Rolle als König oder Bettler, als Jüngling oder Greis charakterisierte. Wer seelisch gesund durchs Leben gehen will, braucht eine gute Persona. Gleichwohl sollte man sich niemals damit völlig identifizieren. Unter einer guten Persona ist zu verstehen, daß ein Mensch möglichst vollkommen die Voraussetzungen erfüllt, die zu seinem jeweiligen Berufsbild gehören.

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LeerSo erwartet auf dem Dorf und in der Kleinstadt die Gemeinde auch heute noch immer von ihrem Pfarrer, daß er ordentlich gekleidet, am besten dunkel oder schwarz, daherkommt. Es wird nicht gern gesehen, wenn er auf den Tanzboden geht oder in die benachbarte Großstadt zur Oper fährt, wenn er trinkt und raucht, wenn er spät aufsteht, wenn er gern mit Frauen schäkert, kurzum wenn er Feierlichkeit und Würde vermissen läßt. Was bleibt dem Armen anderes übrig, wenn er nicht ins Gerede kommen will, als daß er sich dem geschriebenen und ungeschriebenen Sittenkodex seiner konkreten Umgebung willig anpaßt. Gerade der gutherzige, aus Rücksichten zusammengesetzte Hirte einer Gemeinde wird sich viel Mühe geben, das in ihn gesetzte Erwartungsschema zu erfüllen, auch wenn vieles dabei gegen die eigene Wesensnatur läuft, die gern lockerer und weniger bevorschriftet leben möchte. Aber wird dieses Opfer der Anpassung und der Unterwerfung des eigenen und eigentlichen Wesens auf die Dauer gelingen? Eines Tages stellt man bei sich selbst fest, nachdem es die Pfarrfrau, die Pfarrkinder und vielleicht auch die Pfarrgemeinde längst gemerkt haben, daß Unmut und Unlust, Verdrossenheit und Freudlosigkeit im beruflichen Handeln immer mehr überhandnehmen. Man ist es müde geworden, ständig in der vorgeschriebenen Verhaltensweise einhergehen müssen. Und man weiß nicht, wie die auferlegte Rolle fernerhin durchgehalten werden soll.

LeerHaben wir vorhin gehört, daß es Aufgabe der Verkündigung und Seelsorge ist, gesetzliche Zwänge im Zusammenleben abzubauen, so sind ihrerseits die Gemeinden zu bitten, ihre Pfarrer nicht mit gesetzlichen Zumutungen übermäßig zu belasten, was sie neurotisch werden lassen kann. Gewiß, es hat sich in der Beziehung schon vieles herüber und hinüber gebessert. Besonders im Blick auf die Großstadt und dort wieder besonders im Blick auf das unbekümmerte Verhalten jugendlicher Vikare und Kapläne, die sich alle nur möglichen Freiheiten leisten, könnte dir aufgezeigte Problemstellung geradezu als veraltet erscheinen. Wer aber die Gesamtlage der Kirche und ihrer Diener überblickt, der weiß, daß es nicht ganz überflüssig ist, solche Dinge zur Sprache zu bringen.

LeerAber nun gibt es ja nicht nur Krisen im Pfarrberuf, die auf eine zu schlecht angepaßte Persona zurückzuführen sind und Konflikte mit der Gemeinde im Gefolge haben können. Nach der Schau von C. G. Jung ist es ebenso von Übel, wenn der Mensch ein so vollkommener Rollenträger wird, daß er meint, seine Amtswürde bei Tag und Nacht weiterspielen zu müssen. Immer ist man geistlich hoheitsvoll, auch im Urlaub, auch am Tisch der Familie. Man kann den Lutherrock überhaupt nicht mehr ausziehen und fühlt sich nur in dieser feierlichen Gewandung wohl und überlegen. Die Gefahr ist groß, daß ein solcher Mensch dann jäh absackt und in eine Neurose oder gar in eine Psychose hineinstürzt, wenn durch Krankheit, Pensionierung und Altersabbau das geliebte Rollenspiel ein Ende hat und sich zeigt, daß hinter der äußeren Würde nicht allzuviel an Wesensreifung und Wesenswandlung am Werk war.

LeerDer geistliche Beruf gibt dem Priester und Pfarrer ganz von selbst Macht über die Seelen. Es gibt Menschen, die sich ihrem Seelsorger völlig ausliefern, die sich wie Ertrinkende an ihn klammern. Wie groß ist da die Gefahr, daß das geltungssüchtige Wesen, das der menschlichen Natur tief eingewurzelt ist, bei dem Seelenhelfer verstärkt statt abgebaut wird. Pfarrer, die gern Seelen für sich hamstern, werden nicht nur selbstgefällig und eitel, sie werden prompt auch neidisch, wenn der Kollege in der Nachbargemeinde den größeren Predigtzulauf hat und bei der Herbstsammlung für Caritas oder Innere Mission erfolgreicher abschneidet.

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LeerDie Individualpsychologie von Alfred Adler und Fritz Kunkel hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Geltungsdrang und Minderwertigkeitskomplex einander korrespondieren. Einer Überbewertung von plus 100 entspricht mit gesetzmäßiger Zwangsläufigkeit einer Unterbewertung von minus 100. Je ehrgeiziger einer nach vorne drängt, um so mehr Ablehnung und Widerstand wird er einstecken müssen. Das Ende vom Lied aber ist am Abend des Tages und spätestens am Abend des Lebens die Depression, das Hineinstürzen in eine reaktive melancholische Phase, aus der noch einmal herauszufinden die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka allein kaum genügen dürfte.

LeerDie wirksamste Hilfe gegen eine derartig motivierte ekklesiogene Neurose ist eine rechtzeitig und regelmäßig geübte Meditation der Worte, die Johannes der Täufer im Blick auf seinen messianischen Nachfolger gesprochen hat: Illum opportet crescere, me autem minui. Dabei ist der Schwerpunkt auf den meditativen Charakter dieser Aussage zu legen. Der bloß theoretische Denkinhalt befreit nicht von dem amor sui. Es muß das Wort vom Weizenkorn, das durch Ersterben Frucht bringt, imaginiert werden. Erst dann entfaltet es eine befreiende und heilende Macht.

LeerAuch die Nichtbewältigung des Erotischen kann in der theologischen Existenz zu Neurosebildungen führen. Wer unter einer sinnenfeindlichen Jugenderziehung aufgewachsen ist, wem die Frau von den Kirchenvätern her als Inbegriff sündiger Gefahr und Verführung geschildert worden ist, der bleibt auch nach dem Empfang von Ordination und Priesterweihe im Umgang mit der Frau tölpelhaft-ungeschickt und befangen. Es kommt zum Erröten im Gespräch, bloß weil der Rock des Gegenübers kürzer ist als bei einer Diakonisse oder einer Nonne.

LeerNoch häufiger dürfte der umgekehrte Fall sein, daß die verdrängte Erotik reichlich ungehemmt in das seelsorgerliche Gespräch einströmt. Da hat ein Pfarrer stundenlang Zeit, sich mit einer anmutigen, geistvollen jüngeren Frau zu unterhalten. Das Altersheim dagegen, das zu seiner Parochie gehört, wo er von vielen vereinsamten Insassen sehnsüchtig erwartet wird, besucht er grundsätzlich nicht, mit der fragwürdigen Begründung: „Die alten Leute liegen mir nicht.” In die gleiche Rubrik gehört, wenn (als Ersatzbefriedigung für das Zölibat) Frauen im Beichtstuhl gelegentlich in schamlos aufdringlicher Weise nach der Intimsphäre ihres geschlechtlichen Lebens ausgehorcht werden, eine weibliche Kränkung, die schon zu Konversionen und Kirchenaustritten geführt hat.

LeerDie Psychotherapie weiß, daß es im Verlauf einer schulgerechten Analyse im Verhältnis von Arzt und Patient zu dem Doppelvorgang von Übertragung und Gegenübertragung kommt. Man versteht darunter, daß sich der oder die Hilfesuchende leidenschaftlich an den Helfer klammert, daß sowohl unerfüllt gebliebene Liebeswünsche aber ebenso auch unterdrückter Vater- oder Mutterhaß auf den Seelenarzt übertragen werden. Je völliger sich der führende Teil in eine solche Begegnung personal einschaltet, um so stärker wird auch er seinerseits davon in Mitleidenschaft gezogen. Die Meisteraufgabe einer jeden erfolgreichen Analyse aber besteht darin, die Übertragung anzunehmen und sich bei der Gegenübertragung zu beherrschen, durchaus mit dem Ziel, den Patienten mit der Zeit auf eigene Füße zu stellen und von erotischen Bindungen unabhängig zu machen.

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Leer In der Seelsorge können sich diese Vorgänge genau so abspielen, nur mit dem Unterschied, daß man dort auf derartige Abläufe meist in keiner Weise vorbereitet ist und ihnen infolgedessen um so hilfloser erliegt. Es ist darum dringend zu fordern, daß in der Ausbildung an den theologischen Fakultäten und bei der Fortbildung in Prediger- und Priesterseminaren eine psychotherapeutische Schulung mit eingebaut wird. Eine Kernneurose zu heilen, eine Platzangst abzubauen, einem Stotterer zu helfen ist gewiß nicht kirchlicher Auftrag und übersteigt zudem bei weitem unsere Möglichkeiten. Aber schon das muß gelernt werden, wo die Grenzen des geistlichen Amtes liegen, auf daß nicht unnötig gepfuscht wird. Überdies kann ein Seelsorger gar nicht genug wissen von der Struktur der Seele und ihren Ablaufgesetzen. Er muß darüber Bescheid wissen, im Blick auf sich selbst und im Blick auf die ihm anvertrauten Schafe seiner Herde. Ohne dieses Erfahrungswissen ist die Gefahr groß, daß er bei seinem poimenischen Handeln zu einem terrible simplificateur wird.

LeerIn unserer verwirrten Zeit sind wir alle an irgendeiner Stelle neurotisch, sei es im Blick auf den Willen zu Macht, die sinnliche Reizbarkeit oder die nichtbewältigte Persona. Auch Ärzte, Seelenärzte oder Seelsorger bilden darin keine Ausnahme. Um so dringender wird die Forderung, alles dafür einzusetzen, eine Ausweitung von Neurosebildungen zu verhüten. Theologen und Seelsorger, die ihrer Neurose freien Lauf lassen, die davon beherrscht sind, ohne es zu wissen, bedeuten eine schmerzliche Belastung für jede Gemeinde. Ihre Kränkbarkeit entstammt einem nichtbewältigten Geltungsbedürfnis, ihre ruhelose Verliebtheit einer fehlenden Anima-Integration, ihre Freudlosigkeit einer Persona-Uberanstrengung und ihre Selbstgefälligkeit einer übersteigerten Persona-Identifikation. Wie wichtig ist es deswegen, sich selbst zu durchschauen, sich selbst zu korrigieren, um in die Freiheit eines neuen Seins hineinzuwachsen!

LeerGewiß, die christliche Existenz lebt im Theologen- wie im Laienstand zuerst und zuletzt vom Gebet, vom Umgang mit dem göttlichen Wort, von der Bitte um den heiligen Geist, der in alle Wahrheit führt. Daß trotzdem die Zahl der ekklesiogenen Neurosen beunruhigend groß ist, macht deutlich, daß die zusätzliche Hilfe aus dem Erfahrungswissen der Psychotherapie nicht zu entbehren ist.

Quatember 1974, S. 152-158

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-09
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