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Der Friedensgruß
von Jürgen Boeckh

LeerIm Osterheft 1967 unserer Zeitschrift habe ich einmal unter der Überschrift „Das Band des Friedens und der Liebe” einen Aufsatz über den Friedensgruß in der Eucharistischen Feier geschrieben. In den landeskirchlichen Abendmahlsfeiern ist der Friedensgruß meist zu einer rein verbalen Aussage zusammengeschrumpft, wenn man ihn nicht überhaupt wegläßt. In den Gottesdiensten des Berneuchener Dienstes und der Michaelsbruderschaft geben wir meist vom Altar aus den Friedensgruß so weiter, daß der eine dem anderen beide Hände reicht. Gelegentlich kommt es auch vor, daß der Liturg den Diakonen die „brüderliche Umarmung” gewährt und diese sie dann allen Versammelten weitergeben. Für viele ist das, wie sich vor kurzem zeigte, ungewohnt, vielleicht sogar „anstößig”. Schon aus dem dritten Jahrhundert haben wir übrigens Mahnungen, daß nur Männer die Männer und nur Frauen die Frauen „begrüßen” sollten. Im Mittelalter erfand man sogar das osculatorium, die Kuß- oder Paxtafel, die verhindern sollte, daß der „Heilige Kuß” (1. Kor. 16, 20) zu „unziemlichen” Berührungen führte.

LeerVor sieben Jahren, als ich jenen Artikel schrieb, hatte ich Thomas Manns „Zauberberg” noch nicht gelesen. Diese „Bildungslücke” ist inzwischen ausgefüllt worden. So kann ich als Nachtrag zum „Band des Friedens und der Liebe” eine Stelle aus dem siebenten Kapitel mitteilen, wo vom „russischen Kuß” die Rede ist, einem „von der Art derer, die in diesem weiten, seelenvollen Lande getauscht werden an hohen christlichen Festen, im Sinne der Liebesbesiegelung.” Zu der Frage, ob es bei diesem „russischen Kuß”, den Hans Castorp da von Clawdia er hält, um „Frommes” oder „Leidenschaftlich Fleischliches” geht, sagt der Erzähler: „Was würde man sagen, wenn wir uns schlechthin weigerten, dieser Frage auf den Grund zu gehen? Unserer Meinung nach ist es zwar analytisch, aber . . . geradezu lebensunfreundlich, in Dingen der Liebe zwischen Frommem und Leidenschaftlichem ‚reinlich’ zu unterscheiden. Was heißt da reinlich! Was schwankender Sinn und Zweideutigkeit! Wir machen uns unverhohlen lustig darüber! Ist es nicht groß und gut, daß die Sprache nur ein Wort hat für alles, vom Frömmsten bis zum Fleischlich-Begierigsten, was man darunter verstehen kann? Das ist vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit, denn Liebe kann nicht unkörperlich sein in der äußersten Frömmigkeit und nicht unfromm in der äußersten Fleischlichkeit, sie ist immer sie selbst, als verschlagene Lebensfreundlichkeit wie als höchste Passion, sie ist die Sympathie mit dem Organischen, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten, - Charitas ist gewiß noch in der bewunderungsvollsten oder wütendsten Leidenschaft.”

Quatember 1974, S. 190

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-12
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