Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1976
Autoren
Themen
Stichworte


Rede auf das Vaterland
von Adolf Köberle

LeerIm Oktober 1975 feierten die Konvente Bayern und Westfalen in dem unterfränkischen Marktheidenfeld zusammen das Michaelsfest. Nach altbewährter Überlieferung sind bei dem gemeinsamen Liebesmahl drei Reden zu halten: auf das Vaterland, auf die Bruderschaft, auf die Kirche. Schon bei dem allerersten Begrüßen schlugen mir auf Grund der Programmvorankündigung Verwunderung, Staunen, Erwartung und Worte des Dankes entgegen, daß ich es gewagt hätte, die Behandlung des ersten Themas zu übernehmen.

LeerWer ehrfürchtig auf die Schöpfungswerke Gottes hinblickt, dem muß sich die Erkenntnis aufdrängen: Gott schafft nicht nach dem Prinzip der égalité und der Uniformität, im Gegenteil, die Schöpfung zeigt uns eine überwältigende Mannigfaltigkeit an göttlichen Gedanken und Einfällen. Streng genommen gibt es nicht Obst, sondern Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Trauben, Aprikosen. Es gibt auch nicht Blumen, sondern Rosen, Tulpen, Narzissen, Nelken, Astern und Veilchen. Der Wald besteht aus Fichten, Föhren, Birken und Eichen, das Getreide aus Weizen, Gerste und Hafer. Das Neue Testament gibt uns den Schriftbeweis für diese göttliche Reichtumsfülle, wenn es im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes heißt: „Einen anderen Glanz hat die Sonne, einen anderen Glanz hat der Mond, einen anderen Glanz haben die Sterne” (V. 41).

LeerAuch die Menschheit ist von Gott nicht geschaffen als eine unförmige Masse, die am besten Esperanto spricht. Die Menschheit teilt sich auf in eine Fülle von Rassen, Völkern und Stämmen. Wer je einmal wachen Auges mit dem Zug von Stockholm nach Palermo gefahren ist, der merkt sehr wohl, daß es Völker unterschiedlicher Art gibt. Jedes Volk, so dürfen wir sagen, ist ein einmaliger geschichtlicher Gedanke Gottes. Mit jedem Volk verfolgt Gott einen Plan, einen Auftrag im Ganzen der Völkerwelt, den es wahrzunehmen gilt. Es muß uns zu denken geben, daß schon im 10. Kapitel der Genesis eine Aufzählung nach Völkerschaften erfolgt, ehe von der Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft durch den titanischen Turmbau die Rede ist. Also, nicht die Pluralität von Völkern und Stämmen ist die Urnot, die Urschuld, sondern das babylonische Herz, das vor lauter Selbstverherrlichung mit dem Nachbarn nicht mehr zu sprechen vermag.

LeerEin Volk wird bestimmt durch seine Sprache, durch die Landschaft, die den Charakter in so entscheidender Weise zu prägen vermag. Ein Volk wird bestimmt durch seine geschichtlichen Führungen und durch die individuelle Begabung, die es ins Dasein mitbekommen hat. Nicht nur von dem Leib, den wir tragen, auch von dem Leib eines Volkes gilt: „Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten, darüber will er früh und spät mit seiner Gnade walten”. Je tiefer ein Mensch die Wurzeln seiner Existenz im Heimatboden gegründet hat, um so origineller und überzeugender wirkt seine Lebensleistung. In dem Sinn gehören zusammen: Italien und Dante, Holland und Rembrandt, Österreich und Mozart, die Schweiz und Jeremias Gotthelf, Rußland und Tschaikowsky, Polen und Chopin, Frankreich und Maupassant, Deutschland und Hölderlin.

Linie

LeerBei dem 4. Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren” haben wir gewiß zuerst zu danken in Erinnerung an die leibhaftigen Eltern, die uns das Leben gegeben haben. Wir tun aber gut daran, bei der Mutter auch an die mater ecclesia zu denken, die uns mit Jesus Christus in Verbindung gebracht hat. Dann aber ist es nur noch ein Schritt weiter, daß sich uns auch der Zusammenhang von pater, patria und Vaterland nahelegt. Das Wort Vaterland hatte im deutschen Bewußtsein einmal einen guten Klang. „Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, das halte fest!” So hat es jeweils die ältere Generation der nachkommenden zugerufen. Heute ist die Liebe zum Vaterland so zuschanden geworden, daß man das Wort kaum mehr in den Mund zu nehmen wagt. Und doch darf der Mißbrauch, der mit einer Gabe Gottes getrieben worden ist, uns niemals dazu verführen, die Gabe selbst zu verachten. Wer es dennoch tut, gerät auf die Abwege des Manichäertums und des Marcionitismus.

LeerAuch das Vaterland gehört zu den Geschenken, die wir aus Gottes Hand dankbar annehmen sollten. Wir wissen aus den Erfahrungen der Tiefenpsychologie: ein Kind, das keinen Vater gehabt hat, oder noch schlimmer, ein Kind, dessen Vater im Rausch die Mutter geprügelt und die Kinder besinnungslos geschlagen hat, ein solches Kind tut sich schwer, den Vaternamen im Gebet vertrauensvoll zu gebrauchen, weil von dem zerstörten Vaterbild her die Gleichnisfähigkeit in der Anwendung auf Gottes Vatergüte fehlt. Und ebenso gilt: wer die Heimat auf Erden weder kennt noch liebt, wie soll er je begreifen, daß Christus durch seine Auferstehung und Erhöhung uns Heimat bei Gott erworben hat, auf daß wir bei dem Aufbruch aus dieser Welt nicht in eine bodenlose Tiefe zu stürzen brauchen. Von den Glaubenszeugen im 11. Kapitel des Hebräerbriefs heißt es, sie hätten, „als Gäste und Fremdlinge auf Erden ein besseres, ein himmlisches Vaterland gesucht” (V. 14). Auch da ist zu fragen: wer vermag diese Analogie zu verstehen, wenn das irdische Vaterland für ihn keinen Wert, keine Realität bedeutet hat?

LeerWer das Vaterland nur sieht unter dem Vorzeichen der Schöpfung, der gerät leicht in die Gefahr einer romantischen Schwärmerei. Patriotismus kann zur Ersatzreligion werden. Wir rnüssen die Realität Vaterland auch sehen unter dem Vorzeichen der gefallenen Schöpfung, an der wir alle partizipieren. Wie sieht pervertierte Vaterlandsliebe aus? Sie äußert sich im ungereinigten, unerlösten Herzen als Nationaldünkel, als Rassenstolz, als hochmütige Überbewertung der eigenen Wesensart. Andere Volker müssen dann als dumm, schlecht und minderwertig gelten in majorem gloriam sui ipsius. Man erhebt das eigene Volk zu absoluter Große und erregt dadurch zwangsläufig Ärger, Angst und Haß bei den Nachbarvölkern.

LeerSchon im wilhelminischen Reich hat es angefangen, das Prahlen mit der schimmernden Wehr von Heer und Marine, das Säbelrasseln, verbunden mit dem anspruchsvollen Pathos: „Und es soll am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen”. Als Gymnasiasten marschierten wir in Augsburg durch die Turnhalle und hatten dazu ein dem Niederwalddenkmal gewidmetes Lied zu singen. Es begann mit den Worten: „Hurra, du stolzes, schönes Weib, / hurra, Germania! / Wie kühn mit vorgebeugtem Leib / am Rheine stehst du da!” Im Nationalsozialismus erreichte diese völkische Hybris dann ihren Höhepunkt. Hitler wollte in einem Jahr das Korn der Welt, die Ukraine, das Öl der Welt, den Kaukasus, und die Baumwolle der Welt, Ägypten, und bekam dafür Stalingrad. Seit der Karolinger Zeit haben christliches Erbe und deutsche Geschichte einander gefunden. Ungezählte Segensströme sind in Frömmigkeit und Kulturschaffen von diesem Bund auf unser Volk ausgegangen. Nun aber sollte eine germanische Religion, aus Blut und Boden gewachsen, das Zeichen des Kreuzes verdrängen. Das Ende des grausamen Spiels war nicht der Höhenflug des Reichsadlers, sondern ein geschlagenes, ausgeblutetes und zerrissenes Volk. Mehr als das halbe Vaterland ist uns verloren gegangen; und es besteht kaum eine Aussicht, das Verlorene jemals zurückzuerhalten.

Linie

LeerEin Christenmensch sieht das Vaterland nicht nur unter dem Vorzeichen von Schöpfung und Sünde, er darf darüber nachdenken auch unter dem Vorzeichen des Evangeliums. Dieses aber verkündet uns Gottes Güte und Geduld, der wieder in Ordnung bringen will, was der „Diaballon” verwüstet hat. Gott hat es auch mit dem geteilten Vaterland nicht garaus werden lassen. Er hat uns in Westdeutschland über Bitten und Verstehen zu neuem Leben auferstehen lassen, wobei wir nie vergessen wollen, daß den deutschen Menschen im Osten, stellvertretend für uns, die Last des verlorenen Krieges recht eigentlich aufgeladen worden ist und zu tragen bleibt. Evangelium heißt nicht nur, sich der unverdienten Hilfe Gottes erfreuen. Evangelium heißt immer auch, in der Kraft Gottes mit dem anvertrauten Gut in rechter Haushalterschaft umgehen.

LeerIn dem Zusammenhang ist an unsere Verantwortung der Muttersprache gegenüber zu erinnern. Es ist schmerzlich, wie unsere Sprache sich zusehends verschlechtert durch amerikanischen Import und anderweitigen fremdartigen Kauderwelsch. Die Sprache von Luther, Goethe und Mörike liegt darnieder. Wir alle können und müssen dazu beitragen, daß die Verunstaltung dieses kostbaren Erbes nicht immer weiter um sich greift. Unseren Kindern wollen wir nicht nur die Muttersprache erhalten und lieb machen. Wir wollen auch darauf bedacht sein, daß sie vertraut werden mit den unermeßlichen Schätzen, die das deutsche Vaterland in Architektur, Dichtung, Musik und bildender Kunst hervorgebracht hat. Unsere Kinder sollten kennenlernen den Kölner Dom und das Ulmer Münster, Würzburg, Nürnberg und München, die Traumstraße, die von Rothenburg ob der Tauber über Dinkelsbühl nach Nördlingen führt, die Lüneburger Heide und den Schwarzwald. Erzählen wir ihnen, wenn auch ohne politische Absichten, von Königsberg, wo Kant geboren ist, von Eisenach, wo Johann Sebastian Bach das Licht der Welt erblickt hat, von Dresden, der Heimat Richard Wagners, von der Wartburg und von der Marienburg.

LeerDer Züricher Systematiker Emil Brunner hat den Unterschied von Eros und Agape auf die einprägsame Formel gebracht: der Eros spricht, ich liebe dich, weil du so bist und so lange du so bist, gesund und schön, reich und einflußreich. Die Agape aber spricht: Ich liebe dich, weil Gott mein Leben an dich gebunden hat und ich eine Aufgabe an dir habe. Diese Unterscheidung laßt sich sehr wohl auch auf die Größe Vaterland anwenden. Ein gesundes, heiles, angesehenes Volk zu lieben, fällt dem Eros leicht. Die Agape aber, dieses Widerspiel der Liebe, mit der Gott uns in Jesus Christus geliebt hat, bleibt dem Vaterland auch dann noch treu, wenn viele sich abwenden, und vergessen, was sie der Sprache, der Geschichte und der Landschaft der Heimat zu verdanken haben.

LeerWer die polnische Volksseele kennt, weiß, mit welcher Leidenschaft die Menschen dort an ihrem Vaterland hängen. Oftmals haben die Nachbarn in Ost und West sich dieses Landes bemächtigt und haben es geteilt und zerstückelt. Aber keine geschichtliche Erschütterung über Jahrhunderte hinweg hat diesem Volk sein Nationalbewußtsein rauben können. Bei uns haben 30 Jahre genügt, um das Wort Vaterland der Geringschätzung anheim fallen zu lassen. Sollten wir uns dessen nicht ein wenig schämen?

Quatember 1976, S. 159-162

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-28
Haftungsausschluss
TOP