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Ein Weiser des inneren Weges
von Hermann Schwemer

LeerWer die Überschrift „Ein Weiser des inneren Weges” als doppeldeutig empfindet, empfindet richtig. Ich möchte hier das Lebenswerk eines Mannes skizzieren, der den inneren Weg gewiesen hat, Karlfried Graf Dürckheim. Er vollendet am 24. Oktober 1976 sein achtzigstes Lebensjahr. Durch mündliches und schriftliches Wort, durch beratendes Gespräch, besonders aber durch eine aus langer persönlicher Erfahrung des Übens und Anleitens entstandene Methodik der Meditation hat er uns den inneren Weg gewiesen. Man möchte ihn Meister nennen. Aber diese Bezeichnung läßt er für sich nicht aufkommen. So soll denn aber wenigstens in der Überschrift das Wort „Der Weise” anklingen. Denn er weist nicht nur den Weg, wie der Wegweiser, der selbst nicht mitgehen kann, sondern er geht ihn selbst, und von seinem Wesen strahlt das „Wissen” aus, das mehr ist als Verstandeswissen und auch mehr ist als die Summe aller reichen praktischen Erfahrung.

LeerDen inneren Weg gehen heißt nicht die „Innerlichkeit” pflegen. Es geht nicht darum, Gefühle zu kultivieren, sich aus dem Bereich der harten äußeren Tatsachen in ein inneres Reich der geistigen oder ästhetischen Werte zu flüchten. Es geht im Gegenteil um die Einheit von Außen und Innen, Sichtbarem und Unsichtbarem. „Alles Sichtbare ist ein in den Geheimnszustand erhobenes Unsichtbares”, sagt Novalis. Das Sichtbare ist transparent für das Unsichtbare - für den, der es erkennt. Erkennen kann es aber nur, wer die Spaltung überwunden hat, wer mit dem unsichtbaren Wesenhaften in Fühlung steht, das im Sichtbaren durchscheinen will. Wer an diesem Geheimnis teilhat, steht mitten im Äußeren, ohne selbst äußerlich zu werden. Der innere Weg ist der Weg der Teilhabe am Geheimnis des Innen. Es ist der, wie Dürckheim ihn nennt, initiatische, der hineingehende Weg.

LeerUnser eigener Leib kann für uns ein Außen werden, ein Objekt, das wir besitzen, Um das wir uns kümmern, das wir aber auch vernachlässigen können. In der Übung zur Wiederherstellung der Einheit, im exercitium ad integrum, geht es um den Leib, der wir sind. Von der leibseelischen Einheit, vom Sinn des Leibes, vom Mysterium, das man nicht besitzen, an dem man nur Anteil haben kann, haben wir immer wieder von Wilhelm Stählin gehört. Karl Bernhard Ritter berief sich oft auf jenes Novalis-Wort. Man darf also sagen, daß die Arbeit des Kreises, der sich um Graf Dürckheim und um die für die Entstehung und den Aufbau der „Existenzial-psychologischen Bildungs- und Begegnungsstätte Todtmoos-Rütte” ebenso wichtige Maria Hippius gebildet hat, von den gleichen Grunderkenntnissen ausgeht, die auch die Verfasser des „Berneuchener Buches” und die Begründer der Michaelsbruderschaft bewegt haben.

LeerAuch die geschichtlichen Anfänge sind ähnlich. Auch Graf Dürckheim gehört zu der Generation, für die der erste Weltkrieg zum umstürzenden Ereignis wurde. Da war ein Zeitalter zu Ende gegangen, da hatte ein Welt- und Selbstverständnis sich selbst widerlegt, brüchig gewordene Ideale waren endgültig zerbrochen. Es ging nun um ein neues Menschenbild, um einen neuen Sinn-Hintergrund des Daseins, der der alten Generation schon längst vor der Katastrophe abhanden gekommen war. An unzähligen Stellen, in den verschiedensten Kreisen wurde ein neuer Anfang gesucht und gefunden. Oft sind es größere Gruppierungen, aus der Vergangenheit überlebende Organisationen, wie etwa Jugendverbände und eben auch die Kirchen und ihre Gemeinden, in denen eine Gärung einsetzt. Im Unterschied dazu ist der Anfang bei Graf Dürckheim plötzlich und elementar, eine aus den Untergründen der Seele emporbrechende Entscheidung. Aus dein Bereich des Militärischen und Politischen führt der Weg in die Richtung des Dienstes am Menschen von seinem innersten Wesen her. Äußerlich sah das ganz einfach so aus, daß aus dem noch aktiven Offizier ein Studierender der Psychologie und Philosophie wurde.

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LeerHier sehen wir auch die Erklärung dafür, warum die Wege so lang getrennt verliefen, so lang, daß noch vor zehn Jahren, zum siebzigsten Geburtstag, keine Würdigung des Wirkens von Graf Dürckheim in diesen Blättern erschien, so getrennt, daß etwa bei den Tagungen der Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger”, zu deren Teilnehmern und Referenten Dürckheim wie auch Karl Bernhard Ritter oft gehörten, doch offensichtlich keine nähere Begegnung zwischen beiden zustande gekommen ist. Die Berneuchener konnten die Frage nach dem neuen Menschen nicht ohne die Frage nach der neuen Kirche stellen und sahen sehr bald ihre Hauptaufgabe in der Erneuerung des Gottesdienstes. Dürckheim und seine Freunde versuchten jenseits aller traditionellen Bindungen, von vornherein in universaler Offenheit auch nach dem Fernen Osten hin, nach den Kräften, die aus der Sackgasse herausführen könnten, in die der abendländische Mensch mit seiner veräußerlichten Zivilisation und seiner zur bürgerlichen Moral verengten Religion geraten war. Gemeinsames und Unterscheidendes kommt sehr klar in dem zum Ausdruck, was Maria Hippius in der Festschrift zum siebzigsten Geburtstag schrieb: „Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Rückführung des Menschen an seinen Wesensgrund wurde evident. Auch konnte - das war die Einsicht - dieser etwas für sich tun, nämlich in übendem Bemühen durchlässig werden für die Sprache des unbedingten Seins und dabei seinshafter werden über dem Sich-Anjochen an diesen inneren Grund. Der Gedanke, das Säkulare mit dem Transzendenten im Exercitium zusammenzuführen und eine neue übergegensätzliche Daseinsform dadurch zu schaffen, war offenbar keine Illusion. Man mußte nur getreulich ans Werk gehen. Darüber herrschte auch Einigkeit im Kreis der Freunde. Von einem breiter organisierten „bündischen” Tun in Richtung auf initiatorische Wegweisung wurde wohlweislich Abstand genommen. Eine Veränderung der Menschheit konnte sich nur aus jedermanns eigenster Wandlungswilligkeit ergeben.” („Transzendenz als Erfahrung- Beitrag und Widerhall”, Festschrift zum 70. Geburtstag von Graf Dürckheim. Herausgegeben von Maria Hippius, Otto Wilhelm Barth-Verlag Weilheim 1966.) Die Brüder zur Wandlungswilligkeit im Exercitium hinzuführen, war ein Uranliegen der Michaelsbruderschaft. Freilich lag den Übungen des „Geistlichen Pfades” der Wille zur „initiatorischen Wegweisung” zugrunde - was eben mit der bündisch-ordensmäßigen Grundkonzeption zusammenhing.

LeerNach der zweiten historischen Katastrophe fingen Dürckheim und Hippius eigentlich in ähnlicher Weise wieder an, wie nach der ersten, doch nun in etwas stärkerer Verbindlichkeit durch die beginnende gemeinsame Arbeit in Rütte. Hinter Dürckheim lagen die langen Jahre in Japan, die Begegnung mit dem Zen-Buddhismus. Damit war ein konkretes Übungskonzept gegeben. Doch immer noch blieb alles in der Stille ohne irgend eine größer angelegte Strategie. Viele Einzelne suchten Rütte auf, um Hilfe, Rat und Wegweisung für sich zu erlangen, um Therapie an sich zu erfahren, ohne als „Patient” behandelt zu werden, um das Verhalten im beruflichen Wirkungskreis auf eine neue Grundlage zu stellen. So ist schon im Stillen eine Praxis der Menschenbildung, speziell eine Weise des Übens entwickelt, als in breiteren Kreisen jenes Verlangen nach Selbstfindung, nach Bewußtseinserweiterung, nach einer neuen Verwurzelung des Daseins im göttlichen Bereich einsetzt. Seit Mitte der sechziger Jahre kommen Menschen nach Rütte, die als Ärzte, Erzieher, als Ausübende der Heilgymnastik, als Physiotherapeuten und Psychotherapeuten, schließlich auch als Seelsorger neue Wege suchen. Sie geben die Übung weiter in Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit oder in besonderen sich sammelnden Kreisen. Graf Dürckheim selbst ist viel zu Vorträgen und Kursen unterwegs. Man weiß eigentlich nicht recht, wie man die Kurse bezeichnen soll. „Im Stil des Zen” bürgert sich als relativ noch am meisten zutreffende Bezeichnung ein. Diesen Kursen öffnen sich katholische Klöster, evangelische Akademien und sonstige Tagungsstätten, wie auch unser Berneuchener Haus Kloster Kirchberg.

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LeerFür dieses Überspringen des Funkens auf das Leben der Kirchen hatte sich ganz im Stillen aus der Sache heraus etwas vorbereitet. Zunächst hatte der Ansatz der Dürckheimschen Erkenntnis und Anleitung in einem Bereich gelegen, der für die Kirchen weltenfern zu sein schien. In Wirklichkeit ist die Entdeckung von „Hara” entscheidend für die Wiederherstellung einer echt christlichen Anthropologie. Wer nicht jene Verbindung zu den mütterlichen Untergründen, zu den vitalen Bereichen, die mit „Hara” gemeint sind, hat, der hat wahrlich den Artikel von der Schöpfung verloren, mag er ihn auch auswendig gelernt haben. Die Lehre von der „Erdmitte” des Menschen ist schließlich nur eine Anwendung dessen, was Genesis 2 von der Schöpfung des Menschen erzählt. Aber nun ist interessant, wie im Lauf der Zeit das Licht auch auf die andern Mitten fällt, aus denen der Mensch lebt. Ruht beim Üben mein Oberkörper gut im Bauch- und Beckenraum, dann fühle ich das ganz in mir liegende Zentrum, etwa in der Mitte des Kreises, den die im Schoß ruhenden Hände mit den Armen und dem Schulterbogen bilden: Die Herzmitte. Es ist die Region, die für die ostkirchliche Versenkungspraxis, vor allem für das „Herzensgebet” wesentlich ist. Schließlich aber: Wer in der Tiefe verwurzelt und gegründet ist, der ist gerade dadurch offen für die Sphäre des schöpferischen Geistes. Der Intellekt, der im Kopf seinen körperlichen Sitz hat, ist ohne die Wesenseinheit mit der Tiefe auch nach obenhin verschlossen, vom anderen, vom himmlischen Ursprung des Menschen abgetrennt. Das geeinte Wesen aber öffnet sich für das Überweltliche, für die „Transzendenz”. Der Mensch findet eine neue Verbindung mit seiner „Himmelsmitte”. Dies ist eines der vielen triadischen Modelle im Denken von Graf Dürckheim - das wichtigste ist neben dieser Lehre von den drei Mitten die vom Kosmos in seiner Fülle, seinem Gesetz und seiner Einheit -, die alle in irgend einer Beziehung zum trinitarischen Grundbekenntnis des christlichen Glaubens stehen.

LeerEine gesundheitliche Krise war für Graf Dürckheim das Signal, sich wieder mehr in die Stille zurückzuziehen. Ein Geschenk dieser Stille ist sein neuestes Werk: „Meditation wozu und wie” (Verlag Herder, Freiburg). Alles Wesentliche ist hier in einem klaren Aufbau dargestellt, verbunden mit vielen neuen Durchblicken und praktischen Hinweisen. Sein Grundanliegen kommt schon in der Überschrift des ersten Kapitels zum Ausdruck: „Von der Neuzeit in die Neue Zeit”. Das Kennzeichen der neuen Zeit wird etwa sein, was uns sowohl mit den Glaubensepochen der Vergangenheit wie auch mit der unmittelbar vorangegangenen Moderne verbindet. Es wird wieder eine Beziehung zum Überweltlichen dasein, aber nicht mehr in Gestalt eines Glaubens, der sich tapfer gegen die Erfahrung behaupten muß, sondern der beruht auf einer uns neu geschenkten „Seinsfühlung” und „Seinserfahrung”.

LeerDas Buch atmet Klarheit und Kraft, wie auch der Achtzigjährige in seiner persönlichen Erscheinung. Der Gruß zum Jubiläum der acht Jahrzehnte ist in erster Linie ein Dank für das Geschenk des abgeschlossenen Jahrzehnts, in dem sich dieser hilfreiche Einstrom in den Raum der Kirchen von Rütte her vollzogen hat. Der Dank verbindet sich mit der Hoffnung, diesen Weisen und Weiser noch eine Reihe von Jahren unter uns zu haben.

Quatember 1976, S. 223-226

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-08
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