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Evangelische Spiritualität als Lebens- und Glaubenshilfe
von Hans-Christoph Schmidt-Lauber

LeerIn den letzten Jahren ist der Begriff „Spiritualität” immer mehr zu einem Schlüsselwort im ökumenischen Dialog und nun auch im deutschsprachigen evangelischen Raum geworden, an das sich Hoffnungen auf eine Erneuerung der Kirche und ihrer Sendung in die Welt knüpfen. Ein Gespräch über dieses Thema stellt sich in einen weltweiten Erfahrungsaustausch. Zugleich kann es Hilfe für unser eigenes geistliches Leben bedeuten, für den Dienst in Kirche und Gemeinde. Wir stehen vor einer Frage, die sich nicht mehr abweisen läßt. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat eine Studie ihrer Arbeitsgruppe „Spiritualität” unter dem Titel „Evangelische Spiritualität - Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung” herausgegeben und ein Meditationsbuch des Vorsitzenden dieser Arbeitsgruppe, des Erlanger Praktischen Theologen Manfred Seitz, „Leben aus dem Geist” angekündigt; Zitate, die hier ohne besondere Verfasserangabe verwendet sind, stammen aus der EKD-Studie, die 1979 in Gütersloh erschienen ist.

LeerDer Begriff Spiritualität findet sich in den älteren theologischen Nachschlagewerken noch nicht. In der Brockhaus Enzyklopädie (1973) jedoch wird Spiritualität aus der französischen katholischen Ordenstheologie abgeleitet und als „christliche Frömmigkeit, insofern sie das unter Mitwirkung des Menschen vollzogene Werk des Geistes Gottes ist”, bezeichnet, „weiterhin . . . die personale Aneignung der Heilsbotschaft . . . Durch das sich so entfaltende geistliche Leben soll der Mensch in eine immer tiefer ausreifende persönliche Beziehung zu Gott in Christus treten, die sich nicht nur im Gebet und Kult, sondern auch im Dienst an der Kirche und den Menschen ausprägt und mit den entsprechenden christlichen Haltungen auch die jeweils ausgeübten profanen Berufe durchformt”. Mit dieser Definition ist etwas richtig erkannt: In der evangelischen Theologie wird seit Schleiermacher der Begriff „Frömmigkeit” als Ausdruck für die subjektive Seite der Religion, als durch Ehrfurcht und Demut bestimmte Hingabe an Gott gebraucht, wahrend „fromm” zuvor einfach rechtschaffen, nützlich, tapfer bedeutete und so auch auf Gott angewendet werden konnte (O Gott, du frommer Gott). Mit Spiritualität ist mehr umfaßt, der Begriff schließt „Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung zusammen. Er bietet also eine Alternative zu spätprotestantischer, entweder einseitig wortorientierter oder ebenso einseitig handlungsorientierter oder ebenso einseitig stimmungsorientierter Frömmigkeit”. Allerdings muß bei der Brockhaus-Definition gefragt werden, ob die Verbindung von Glauben und Frömmigkeitsausübung so der Rechtfertigungstheologie standhält.

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LeerDie Sache Spiritualität ist allerdings nicht neu. „Für die alten Reformierten war theologica practica weitgehend die Lehre von der vita spiritualis der Gemeinde” (R. Bohren), und die in der lutherischen Orthodoxie zur Blute gekommene Aszetik, auch ebenfalls vita spiritualis genannt, verschwand erst im 19. Jahrhundert. Sie wird mit der alten Trias „meditatio - oratio - tentatio” in unserer Zeit wieder neu entdeckt und weist vor allem darauf hin, daß Theologie nicht getrieben werden kann, ohne persönliche Betroffenheit. Die römische Tradition kannte durch viele Jahrhunderte das Amt des Spirituals, des für geistliche Übung und Anleitung der Priesteramtskandidaten und Religiosen verantwortlichen Priesters.

LeerIch habe den Begriff Spiritualität in neuerer Zeit erstmals in einem 1974 in Korntal erschienenen Studienheft des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, „Interkommunion und Konziliarität” wiedergefunden. Als Spiritualität soll dort „der Primat des Geistlich-Pneumatischen (als) Grundlage des Gemeindebauens” bezeichnet werden. Es wird auf 1. Petr. 2,5 - Gemeinde als geistliches Haus und heiliges Priestertum - sowie auf Röm. 12,1 - den logischen Gottesdienst der Lebenshingabe - Bezug genommen. Vor allem aber ist es - neben und nach sicherlich vielen Ansätzen überall in der Welt - die 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates 1975 in Nairobi gewesen, die mit ihrer Botschaft „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt”, den Kirchen ein hoffnungsvoll aufgenommenes neues Schlüsselwort gab.

LeerDaß inzwischen auch der säkulare Sprachgebrauch sich dieses Wortes bedient, wenn etwa angesichts der Wachstumskriese der Wirtschaft und der Suche nach einer Neuorientierung von einer Spiritualität der „Lebensqualität” und eines „neuen Lebensstils” geredet wird, soll uns nicht hindern, diesen Begriff nicht allgemein als geistige Lebenshaltung zu verstehen, sondern seinem Ursprung entsprechend im Glaubens-Artikel vom Heiligen Geist verwurzelt zu sehen. Die neue EKD-Studie definiert Spiritualität unter Aufnahme des schon erwähnten Pauluswortes Rom. 12, 1 f „und im Sinne des Antwort-Charakters des Rechtfertigungsglaubens (als) das wahrnehmbare geistgewirkte Verhalten der Christen vor Gott”.

LeerAuch wenn wir den Zusatz zu unserem Thema ganz richtig als Hinweis auf die Bindung an Gottes Offenbarung im Evangelium von Jesus Christus verstehen können, entspricht es der Realität der getrennten Christenheit, daß dies „evangelisch” auch gesehen werden muß aus dem besonderen geschichtlichen Erbe und in einer Situation, in der die ökumenische Versöhnung noch nicht stattgefunden hat. Was ist nun evangelische Spiritualität etwa im Unterschied zu einer römischen Spiritualität?

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LeerAuf jeden Fall wird die reformatorische Formel „sola gratia, sola fide, sola scriptura, solus Christus - allein durch Gnade, allein durch den Glauben, allein durch die Schrift, Christus allein” die evangelische Spiritualität prägen. Wir müssen aber heute im gleichen Atemzug bekennen, daß die Theologie des Artikels vom Heiligen Geist im evangelischen Bereich entschieden zu kurz gekommen ist. Wahrscheinlich liegt das schon in der Reformation begründet, die, wie die EKD-Studie zu erklären sucht, in den schmerzlichen Erfahrungen mit den schwärmerischen Bewegungen eine deutliche Zurückhaltung gegenüber der Lehre vom Heiligen Geist entwickelte, wie überhaupt der Westen gegenüber dem Osten hier immer im Ruckstand gewesen ist. Die Betonung der reinen Lehre in der Orthodoxie unter Hintansetzung der Orthopraxie, die Umwandlung der Gemeinde des allgemeinen Priestertums in ein Predigtpublikum und des Predigers in einen Kanzelredner, dann der exklusive Gebrauch der Christologie, dem in der ersten Aufklärung und in der sich gegenwärtig kräftig zu Worte meldenden zweiten die anthropologische Wende fast zwangsläufig folgen mußte, haben die allein durch die trinitarische Einbettung zu legitimierende reformatorische Formel von dem vierfachen solus verkürzt und entstellt, so daß, um es mit einem vergröbernden Wortspiel zu sagen, die evangelische Spiritualität sich weitgehend durch das Fehlen von Spiritualität auszeichnete. Wir sind uns dessen bewußt, daß es auch Gegenbewegungen gegeben hat, nicht nur im Pietismus und den verschiedenen Erweckungsbewegungen, sondern auch innerhalb der Orthodoxie. Johann Sebastian Bachs geistliche Musik ist überhaupt nur zu deuten aus einem tief innerlichen Umgang mit Gottes Wort und dem spirituellen Erbe der Reformation. Claus Harms und Wilhelm Löhe sind Zeugen einer evangelischen Spiritualität zur Blütezeit von Rationalismus und Liberalismus. Man hat Weltoffenheit, Pluralismus der Lehrmeinungen und begrenzte Autorität der kirchlichen Obrigkeit als charakteristisch für protestantisches Christentum bezeichnet, und in diesen Begriffen kann sicherlich eine gewisse Beziehung zur evangelischen Spiritualität gefunden werden. Man denke an Luthers Lehre vom Beruf und dem Gottesdienst des Lebens, an das nicht durch einen hoheitlichen Eingriff von draußen hergestellte „ecclesiae magno consensu apud nos docent - Die Kirchen lehren bei uns in großer Übereinstimmung” (CA I) und an die brüderliche Struktur des neuen Gottesvolkes unter ihrem einen Haupt Christus. Aber werden diese Begriffe immer zureichend abgegrenzt etwa gegen Säkularismus, Liberalismus und Anarchismus? Sicher genügen sie nicht, das Phänomen „evangelische Spiritualität” genauer zu erfassen.

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LeerEvangelische Spiritualität kann mit drei Kennzeichen umschrieben werden, nämlich mit der „unbedingte(n) Bindung an das Evangelium, dem als alleinige Norm alles Lehren und Tun der Kirche und des Christen unterworfen werden muß - auch unter Einsatz des Lebens” und damit einem „entschlossene(n) Pochen auf die Stimme des Evangeliums . . . auch vor den Mächtigen in Staat, Gesellschaft und Kirche”, in dem „reformatorischer Glaube das prophetische Erbe” aufnimmt (nach W. Dantine). Damit zusammen hangt die in der Spiritualität der reformatorischen Väter zentrale befreiende Erkenntnis von der Rechtfertigung allein aus Glauben, die das Beten, den evangelischen Choral, die neu entdeckte Gemeinsame Beichte, die wiedergewonnene Sakramentsfreudigkeit und den Hausgottesdienst mit Postille (Schriftauslegung) und Katechismus zutiefst geprägt hat. Endlich wäre zu nennen. das alleinige Herrenrecht Jesu Christi über alle Bereiche des Lebens in Kirche und Gesellschaft. Die erste Barmer These vom Jahre 1934 ist dafür ein klassischer Ausdruck.

LeerWir werden bei unserem Fragen nach der evangelischen Spiritualität als Lebens- und Glaubenshilfe aber, wenn wir tiefer in den Gegenstand eindringen, bald zu der Erkenntnis kommen, daß das Wort „evangelisch” hier nicht mehr vorwiegend konfessionell-partikular verstanden werden kann. Spiritualität hat es mit dem spiritus sanctus zu tun, der der Kirche als der verheißen ist, der sie in alle Wahrheit und zur Einheit führt. Ja, es muß ganz konsequent mit der großen Entdeckung von Neu-Delhi 1961 gesagt werden: Die Einheit der Kirche ist Gottes vorgegebene Gabe und wird darum, weil sie schon da ist, zur Aufgabe der getrennten kirchlichen Gemeinschaften; Christus kann nicht zerteilt werden. Es ist deshalb problematisch, von einer konfessionell begrenzten evangelischen Spiritualität zu reden im Unterschied zur katholischen Spiritualität, wiewohl es eine evangelische Frömmigkeit, die sich anders äußert als eine römische, sehr wohl nachzuweisen gibt. Wir stehen deshalb bei der Suche nach einer neuen Spiritualität vor einer der ganzen Christenheit gestellten Aufgabe: Lebens- und Glaubenshilfe brauchen wir alle, und der eine Geist will sie uns in einer Fülle von Charismen neu geben.

LeerLebens- und Glaubenshilfe in unserer Themenformulierung bringt ganz bestimmte Erwartungen zum Ausdruck angesichts der besonderen Situation, in der wir uns befinden. Eine genauere Analyse des Zustandes der Kirche, das heißt der inneren Verfassung der Gemeindeglieder, der Gemeinden, der Pfarrer und der Theologie, würde es schnell an den Tag bringen, daß wir in unserer Zeit wahrscheinlich viel mehr als frühere Generationen sowohl in der Lebensbewältigung als auch in den Fragen des Glaubens unsicher geworden sind.

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LeerDie großen Umfragen der Kirchensoziologie haben uns tiefere Einsichten in den Zustand der Christenheit in Deutschland gegeben, als sie die reine Statistik bisher vermitteln konnte, die sich mit dem Auf und Ab des Gottesdienstbesuches, mit Mitgliederbewegungen und Prozentsätzen befaßt. Mit humanwissenschaftlichen Methoden gewonnene Erkenntnisse lassen uns dazu das komplexe Motivgeflecht religiöser Sozialisation, die Kommunikationsvorgänge in Gottesdienst und Gemeindeleben und die Zugangsmöglichkeiten der Seelsorger besser durchschauen. Die wichtigsten Ergebnisse seien hier kurz angedeutet:
  • die Erkenntnis, daß Liturgiereform und Strukturveränderung die Einstellung zur Kirche nicht verbessert (EKD-Umfrage)
  • Die enge Verbindung von spiritueller Orientierung und sozialer Verantwortung (Katholische Synodenumfrage)
  • Die Entdeckung des „unwahrscheinlichen Gottesdienstbesuchers”, dessen Wertsystem von dem der Kirche stark abweicht und der trotzdem am Gottesdienst teilnimmt, während andere, deren Wertsystem mit dem der Kirche übereinstimmt, sich in der Kirche nicht sehen lassen. Das heißt: Tiefere religiöse Problematik und tragend vorhandene spirituelle Verankerung zeigen eine große Belastbarkeit für das Aushalten von Spannungen (VELKD-Umfrage).
LeerSo darf man folgern, daß missionarische Chancen in einer Kombination von spiritueller Grundorientierung und einem gesellschaftlichen Engagement liegen, das dieser Orientierung entspricht. Gesellschaftliches Engagement allein löst keine Glaubensprobleme. Wer aber von Glaubensgewißheiten bestimmt ist, möchte sie auch gesellschaftlich zur Geltung gebracht sehen. Die Umfragen zeigen uns neue Handlungsfelder, aber keine unmittelbaren Hilfen: Glaubenshilfe kann nur durch Glauben, spirituelle Hilfe nur durch Spiritualität gegeben werden. Die Erneuerung ist nicht machbar, wohl aber kann sie erwartet, erhofft und erbeten werden.

LeerEntscheidend wird es sein, daß der alte Grundsatz in der ganzen Gemeinde Geltung findet: Seelsorge kann nur üben, wer an sich selbst Seelsorge üben laßt. Die praxis pietatis - oder hier spiritualis - ist nicht lehrbar, wohl aber erlernbar.

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LeerHier mag an die Situation unserer Theologiestudenten, die voller Erwartungen ins Studium kommen, gedacht werden. Viele haben binnen kurzem von der Praxis im Gottesdienstbesuch, oft auch im Bibellesen und persönlichen Gebet Abstand genommen. In den am Ende des Studiums liegenden praktischen Seminaren sind sie dann unbeholfen in allien geistlichen Fragen. Woher das auch immer kommen mag - aus der Praxisferne vieler theologischer Disziplinen, durch das Übergewicht des Historischen vor allem in der Studieneingangsphase, von großen Belastungen zwischen der primären Motivation und der kritischen Methode - , es ist sehr bedenklich, aus dieser Notsituation eine Tugend zu machen, wie etwa mit der These: „Der Student hat grundsätzlich Abstand von kirchlicher Tätigkeit zu üben. Zu einer rechten Vorbereitung für die Praxis braucht er Distanz von der Praxis” (R. Bohren). Einen ähnlichen Bruch verursacht offenbar weitgehend die kirchliche Konfirmationspraxis: Nur sehr wenige Konfirmanden finden Zugang zum gottesdienstlichen und außergottesdienstlichen Leben der Gemeinde. Man mag vielleicht mit Recht einwenden: Hier folgen unsere Kinder ja nur ihren Eltern. Es bleibt aber die grundsätzliche Anfrage an Pfarrer, Religionsunterricht und Gemeinde unüberhörbar: Wo wird hier Lebens- und Glaubenshilfe in evangelischer Spiritualität erfahrbar?

LeerNun scheinen wir in unserer geschichtlichen Situation in einem Umbruch zu stehen von möglicherweise sehr weitreichendem Ausmaß.

LeerDie Grenzen des Wachstums (Club of Rome) stehen uns vor Augen, die Frage nach dem Überleben stellt sich angesichts der abnehmenden Ressourcen, der Bevölkerungsexplosion, der Umweltverschmutzung \und der Schwierigkeiten im Krisenmanagement.

LeerDas sind Probleme, die besonders in der Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Wahljahr erstmals existentiell von allen Bürgern begriffen wurden, wo sich die Zahlungsbilanz zu einem nicht mehr aufzuhaltenden Defizit zu neigen schien. Die von einigen schon lange gestellten Fragen nach der nicht mehr materiell begründeten Lebensqualität wird zur Frage sehr vieler Menschen.

LeerIst dies nicht eine Herausforderung der Theologie ohnegleichen? Zunächst scheint Hilfe oder Lösung woanders gesucht zu werden, etwa:
  • in fernöstlichen Meditationsmethoden (ZEN, Transzendentale Meditation des Yogi)
  • in den sogenannten Jugendreligionen (Vereinigungskirche, Kinder Gottes, Scientology Church)
  • in politischen Religionen wie dem Marxismus (Befreiung, Emanzipation, Gruppenspiritualität), oder
  • in Anleihen aus den Humanwissenschaften, die an sich hilfreich sind, aber durch Isolierung von dem entsprechenden Kontext geradezu pseudoreligiöse Qualitat erlangen (Individuation, Sozialisation und Kommunikation), die alle ihr Wahrheitsmoment haben, aber nicht immer den Menschen in seiner Gottesbedürftigkeit sehen und deshalb keine zureichende Antwort auf neu aufbrechende Fragen geben können.
LeerWird die Kirche imstande sein, das neue Fragen aufzunehmen? Und wie kann sie hierfür zugerüstet werden?

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LeerDie Studie „Evangelische Spiritualität” zeigt im dritten Abschnitt die theologischen Koordinaten auf. Dabei wird auf unter uns bereits vorhandene Bewegungen hingewiesen, die entweder schon Hinführung und Einübung anbieten können oder jedenfalls auf das Defizit aufmerksam machen. Natürlich muß der systematische Ansatz in einer neuen Theologie des Heiligen Geistes gesucht werden, die in ein entsprechendes theologisches Geleit der Einübung in Modelle gemeinsam gelebten Glaubens übergeht: „Ohne geübte, lebendige Spiritualität gibt es weder einen lebensfähigen Glauben noch eine aussagefähige Theologie”.

LeerGegenüber einer resignierenden Gott-ist-tot-Theologie bezieht sich christliche Spiritualität auf das Handeln des lebendigen Gottes, das allem vorausgegangen ist. Das heißt: „Der Zuspruch des Evangeliums ist der konkreten Lebenspraxis nicht nur zeitlich, sondern sachlich vorgeordnet.”

LeerDamit hängt dann ein neues Bibelverständnis zusammen, das nach dem unbefriedigenden Ausgang der hermeneutischen Diskussion der 50er Jahre mit „anderen Kategorien den eigenständigen Erfahrungshorizont der Bibel zu erschließen” sucht, wobei die Seligpreisungen zur Magna Charta der christlichen Spiritualität werden. Gebet und Gottesdienst der Kirche mit einer neuen Offenheit für Liturgie und endlich der Zusammenhang von Nachfolge und Weltgestaltung mit der Spiritualität des Kampfes, des Friedens und der Befreiung sind die weiteren großen Themen der Überlegungen zur Spiritualität. Im letzten Abschnitt der Studie geht es dann um „Aspekte einer spirituellen Erneuerung”.

LeerDie Studie fordert auf, den „elementaren Erfahrungshunger”, der sich in vielfältigem Experimentieren äußert, zu beachten. Jede Gemeinde ist Ort der Erfahrung, aber auch andere Kirchen und Freikirchen, geistliche Zentren, Bruderschaften, evangelistische Teams und charismatische Gruppen. Dabei muß beachtet werden, daß Spiritualität nicht machbar ist. Sie übertragt sich aber durch Beispiele, Begleitung, Vorbild. Glaubwürdige Erfahrung und Lebensgestaltung als Werk des Heiligen Geistes gibt es zeichenhaft auch heute in unserer Mitte.

LeerDas bedeutet, daß Evangelisation mit Priorität gefordert werden soll: „Nicht nur die Informationsbedürftigkeit und die emotionale Bedürftigkeit, sondern die Gottesbedürftigkeit des modernen Menschen” gilt es zu bedenken:
  • „Gott hat einen Plan für mein Leben, weil er mich liebt und in der Taufe aufgenommen hat.
  • Ich erfahre, daß ich durch Sünde von ihm abgetrennt bin.
  • Jesus Christus ist Gottes einziger Ausweg.
  • Ich nehme Jesus Christus als Herrn und Erlöser in mein Leben auf.”
LeerVier klare einfache Satze, die an den Aufbau der urchristlichen Predigt, wie wir sie in der Apostelgeschichte finden, erinnern. Zum Zeugnis muß die dauerhafte Begleitung treten unter der Frage nach dem gemeinsamen Leben in der Gemeinde und einem alternativen Lebensstil.

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LeerKristallisationskerne spiritueller Übung in besonderen Lebensgemeinschaften und in bestimmten, gerade in der evangelischen Kirche herausgebildeten Veranstaltungsformen, wie Kirchentagen, Missionsfesten, Glaubenskonferenzen, dienen der spirituellen Erneuerung; die Kirche braucht nicht nur eine im pflegerischen und sozialen Bereich tätige, sondern „auch eine spirituelle Diakonie”.

LeerDie ekklesiale Dimension des geistlichen Lebens kommt mit der Erinnerung an „das von Gott Eingesetzte” zur Geltung. Wenn Wort und Sakrament in der Eucharistie als „Ausgangs- und Sammelpunkt einer geistlichen Ökumene” erkannt werden, dann wird „der spirituelle Integrationspunkt, an dem sich der einzelne mit der ‚Institution Kirche’ trifft”, wie auch die „ständige Bemühung um Gemeinschaft im geistlichen wie im leiblichen Sinne” als Aufgabe der Spiritualität sichtbar.

LeerEndlich fordert die EKD-Studie zur Spiritualität, daß die „Elementarisierung christlicher Lehre” geübt wird. Die von der Bibel ausgehende Grundorientierung muß im Zusammenspiel von Verkündigungsdienst und Bildungsarbeit erfolgen.

LeerDer Inder M. M. Thomas hat in Nairobi 1975 dem neuentdeckten Schlüsselwort der Ökumene - Spiritualität - eine ganz spezifische Konnotation gegeben, indem er zu einer „Spiritualität des Kampfes” aufrief. Diese Formulierung nimmt die theologische Entwicklung der Genfer Ökumene mit ihrem Drängen nach Verwirklichung christlicher Weltverantwortung in der Nachfolge des Herrn auf, wie sie in der Programmeinheit II Gerechtigkeit und Dienst sowie in dem mit der römischen Kirche gemeinsam gebildeten Ausschuß für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden (SODEPAX) thematisiert wird. Sie kam aus einem Teil der Welt, in dem Religion und soziale Lebensbezüge, christliche Botschaft und traditionelle Kultur, kurz Glauben und Leben eine Einheit bilden. Spiritualität darf nicht zur Weltflucht und Weltverachtung führen, sie muß das ganze Leben durchformen und gerade auch in Beruf, Lebenswerk und allen sozialen Bezügen wirksam werden. Das Abseits, in das die Volkskirchen der Alten Welt geraten zu sein scheinen mit ihrer weitgehenden Trennung von geistlicher und weltlicher Ebene, hängt sicher mit dem Verlust einer umgreifenden Spiritualität zusammen. Für die Christen Europas kann die Wiedergewinnung einer neuen Spiritualität in der Tat die entscheidende Lebens- und Glaubenshilfe werden. Soll Hilfe zum Leben und zum Glauben aber gewonnen werden, so darf die neue Spiritualität jetzt nicht in den umgekehrten Fehler verfallen und zu einem bloßen Mittel zur Beförderung der innerweltlichen Verantwortung, der Veränderung der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen degenerieren. Spiritualität hat ihren Ursprung außerhalb unserer Taten und auch unseres Versagens, sie ist Wirkung des Geistes Gottes und damit auf Jesus Christus ausgerichtet. Im Abendland hat man das einmal sehr deutlich gewußt, das benediktinische „ora et labora” ist nie eine bloße Addition zwei verschiedener Verpflichtungen gewesen, von denen eine jetzt in das Belieben gestellt werden könnte: Beten und Arbeiten durchdringen und bedingen einander, weil beides im Namen Jesu zu geschehen hat. Der Kampf um die neue Spiritualität wird sich deshalb lohnen.

Quatember 1981, S. 16-24

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-27
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