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von Hans-Christoph Schmidt-Lauber |
In den letzten Jahren ist der Begriff „Spiritualität” immer mehr zu einem Schlüsselwort im ökumenischen Dialog und nun auch im deutschsprachigen evangelischen Raum geworden, an das sich Hoffnungen auf eine Erneuerung der Kirche und ihrer Sendung in die Welt knüpfen. Ein Gespräch über dieses Thema stellt sich in einen weltweiten Erfahrungsaustausch. Zugleich kann es Hilfe für unser eigenes geistliches Leben bedeuten, für den Dienst in Kirche und Gemeinde. Wir stehen vor einer Frage, die sich nicht mehr abweisen läßt. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat eine Studie ihrer Arbeitsgruppe „Spiritualität” unter dem Titel „Evangelische Spiritualität - Überlegungen und Anstöße zur Neuorientierung” herausgegeben und ein Meditationsbuch des Vorsitzenden dieser Arbeitsgruppe, des Erlanger Praktischen Theologen Manfred Seitz, „Leben aus dem Geist” angekündigt; Zitate, die hier ohne besondere Verfasserangabe verwendet sind, stammen aus der EKD-Studie, die 1979 in Gütersloh erschienen ist. Der Begriff Spiritualität findet sich in den älteren theologischen Nachschlagewerken noch nicht. In der Brockhaus Enzyklopädie (1973) jedoch wird Spiritualität aus der französischen katholischen Ordenstheologie abgeleitet und als „christliche Frömmigkeit, insofern sie das unter Mitwirkung des Menschen vollzogene Werk des Geistes Gottes ist”, bezeichnet, „weiterhin . . . die personale Aneignung der Heilsbotschaft . . . Durch das sich so entfaltende geistliche Leben soll der Mensch in eine immer tiefer ausreifende persönliche Beziehung zu Gott in Christus treten, die sich nicht nur im Gebet und Kult, sondern auch im Dienst an der Kirche und den Menschen ausprägt und mit den entsprechenden christlichen Haltungen auch die jeweils ausgeübten profanen Berufe durchformt”. Mit dieser Definition ist etwas richtig erkannt: In der evangelischen Theologie wird seit Schleiermacher der Begriff „Frömmigkeit” als Ausdruck für die subjektive Seite der Religion, als durch Ehrfurcht und Demut bestimmte Hingabe an Gott gebraucht, wahrend „fromm” zuvor einfach rechtschaffen, nützlich, tapfer bedeutete und so auch auf Gott angewendet werden konnte (O Gott, du frommer Gott). Mit Spiritualität ist mehr umfaßt, der Begriff schließt „Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung zusammen. Er bietet also eine Alternative zu spätprotestantischer, entweder einseitig wortorientierter oder ebenso einseitig handlungsorientierter oder ebenso einseitig stimmungsorientierter Frömmigkeit”. Allerdings muß bei der Brockhaus-Definition gefragt werden, ob die Verbindung von Glauben und Frömmigkeitsausübung so der Rechtfertigungstheologie standhält. Ich habe den Begriff Spiritualität in neuerer Zeit erstmals in einem 1974 in Korntal erschienenen Studienheft des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, „Interkommunion und Konziliarität” wiedergefunden. Als Spiritualität soll dort „der Primat des Geistlich-Pneumatischen (als) Grundlage des Gemeindebauens” bezeichnet werden. Es wird auf 1. Petr. 2,5 - Gemeinde als geistliches Haus und heiliges Priestertum - sowie auf Röm. 12,1 - den logischen Gottesdienst der Lebenshingabe - Bezug genommen. Vor allem aber ist es - neben und nach sicherlich vielen Ansätzen überall in der Welt - die 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates 1975 in Nairobi gewesen, die mit ihrer Botschaft „Wir sehnen uns nach einer neuen Spiritualität, die unser Planen, Denken und Handeln durchdringt”, den Kirchen ein hoffnungsvoll aufgenommenes neues Schlüsselwort gab. Daß inzwischen auch der säkulare Sprachgebrauch sich dieses Wortes bedient, wenn etwa angesichts der Wachstumskriese der Wirtschaft und der Suche nach einer Neuorientierung von einer Spiritualität der „Lebensqualität” und eines „neuen Lebensstils” geredet wird, soll uns nicht hindern, diesen Begriff nicht allgemein als geistige Lebenshaltung zu verstehen, sondern seinem Ursprung entsprechend im Glaubens-Artikel vom Heiligen Geist verwurzelt zu sehen. Die neue EKD-Studie definiert Spiritualität unter Aufnahme des schon erwähnten Pauluswortes Rom. 12, 1 f „und im Sinne des Antwort-Charakters des Rechtfertigungsglaubens (als) das wahrnehmbare geistgewirkte Verhalten der Christen vor Gott”. Auch wenn wir den Zusatz zu unserem Thema ganz richtig als Hinweis auf die Bindung an Gottes Offenbarung im Evangelium von Jesus Christus verstehen können, entspricht es der Realität der getrennten Christenheit, daß dies „evangelisch” auch gesehen werden muß aus dem besonderen geschichtlichen Erbe und in einer Situation, in der die ökumenische Versöhnung noch nicht stattgefunden hat. Was ist nun evangelische Spiritualität etwa im Unterschied zu einer römischen Spiritualität? Wir werden bei unserem Fragen nach der evangelischen Spiritualität als Lebens- und Glaubenshilfe aber, wenn wir tiefer in den Gegenstand eindringen, bald zu der Erkenntnis kommen, daß das Wort „evangelisch” hier nicht mehr vorwiegend konfessionell-partikular verstanden werden kann. Spiritualität hat es mit dem spiritus sanctus zu tun, der der Kirche als der verheißen ist, der sie in alle Wahrheit und zur Einheit führt. Ja, es muß ganz konsequent mit der großen Entdeckung von Neu-Delhi 1961 gesagt werden: Die Einheit der Kirche ist Gottes vorgegebene Gabe und wird darum, weil sie schon da ist, zur Aufgabe der getrennten kirchlichen Gemeinschaften; Christus kann nicht zerteilt werden. Es ist deshalb problematisch, von einer konfessionell begrenzten evangelischen Spiritualität zu reden im Unterschied zur katholischen Spiritualität, wiewohl es eine evangelische Frömmigkeit, die sich anders äußert als eine römische, sehr wohl nachzuweisen gibt. Wir stehen deshalb bei der Suche nach einer neuen Spiritualität vor einer der ganzen Christenheit gestellten Aufgabe: Lebens- und Glaubenshilfe brauchen wir alle, und der eine Geist will sie uns in einer Fülle von Charismen neu geben. Lebens- und Glaubenshilfe in unserer Themenformulierung bringt ganz bestimmte Erwartungen zum Ausdruck angesichts der besonderen Situation, in der wir uns befinden. Eine genauere Analyse des Zustandes der Kirche, das heißt der inneren Verfassung der Gemeindeglieder, der Gemeinden, der Pfarrer und der Theologie, würde es schnell an den Tag bringen, daß wir in unserer Zeit wahrscheinlich viel mehr als frühere Generationen sowohl in der Lebensbewältigung als auch in den Fragen des Glaubens unsicher geworden sind.
Entscheidend wird es sein, daß der alte Grundsatz in der ganzen Gemeinde Geltung findet: Seelsorge kann nur üben, wer an sich selbst Seelsorge üben laßt. Die praxis pietatis - oder hier spiritualis - ist nicht lehrbar, wohl aber erlernbar. Nun scheinen wir in unserer geschichtlichen Situation in einem Umbruch zu stehen von möglicherweise sehr weitreichendem Ausmaß. Die Grenzen des Wachstums (Club of Rome) stehen uns vor Augen, die Frage nach dem Überleben stellt sich angesichts der abnehmenden Ressourcen, der Bevölkerungsexplosion, der Umweltverschmutzung \und der Schwierigkeiten im Krisenmanagement. Das sind Probleme, die besonders in der Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Wahljahr erstmals existentiell von allen Bürgern begriffen wurden, wo sich die Zahlungsbilanz zu einem nicht mehr aufzuhaltenden Defizit zu neigen schien. Die von einigen schon lange gestellten Fragen nach der nicht mehr materiell begründeten Lebensqualität wird zur Frage sehr vieler Menschen. Ist dies nicht eine Herausforderung der Theologie ohnegleichen? Zunächst scheint Hilfe oder Lösung woanders gesucht zu werden, etwa:
Gegenüber einer resignierenden Gott-ist-tot-Theologie bezieht sich christliche Spiritualität auf das Handeln des lebendigen Gottes, das allem vorausgegangen ist. Das heißt: „Der Zuspruch des Evangeliums ist der konkreten Lebenspraxis nicht nur zeitlich, sondern sachlich vorgeordnet.” Damit hängt dann ein neues Bibelverständnis zusammen, das nach dem unbefriedigenden Ausgang der hermeneutischen Diskussion der 50er Jahre mit „anderen Kategorien den eigenständigen Erfahrungshorizont der Bibel zu erschließen” sucht, wobei die Seligpreisungen zur Magna Charta der christlichen Spiritualität werden. Gebet und Gottesdienst der Kirche mit einer neuen Offenheit für Liturgie und endlich der Zusammenhang von Nachfolge und Weltgestaltung mit der Spiritualität des Kampfes, des Friedens und der Befreiung sind die weiteren großen Themen der Überlegungen zur Spiritualität. Im letzten Abschnitt der Studie geht es dann um „Aspekte einer spirituellen Erneuerung”. Die Studie fordert auf, den „elementaren Erfahrungshunger”, der sich in vielfältigem Experimentieren äußert, zu beachten. Jede Gemeinde ist Ort der Erfahrung, aber auch andere Kirchen und Freikirchen, geistliche Zentren, Bruderschaften, evangelistische Teams und charismatische Gruppen. Dabei muß beachtet werden, daß Spiritualität nicht machbar ist. Sie übertragt sich aber durch Beispiele, Begleitung, Vorbild. Glaubwürdige Erfahrung und Lebensgestaltung als Werk des Heiligen Geistes gibt es zeichenhaft auch heute in unserer Mitte. Das bedeutet, daß Evangelisation mit Priorität gefordert werden soll: „Nicht nur die Informationsbedürftigkeit und die emotionale Bedürftigkeit, sondern die Gottesbedürftigkeit des modernen Menschen” gilt es zu bedenken:
Die ekklesiale Dimension des geistlichen Lebens kommt mit der Erinnerung an „das von Gott Eingesetzte” zur Geltung. Wenn Wort und Sakrament in der Eucharistie als „Ausgangs- und Sammelpunkt einer geistlichen Ökumene” erkannt werden, dann wird „der spirituelle Integrationspunkt, an dem sich der einzelne mit der ‚Institution Kirche’ trifft”, wie auch die „ständige Bemühung um Gemeinschaft im geistlichen wie im leiblichen Sinne” als Aufgabe der Spiritualität sichtbar. Endlich fordert die EKD-Studie zur Spiritualität, daß die „Elementarisierung christlicher Lehre” geübt wird. Die von der Bibel ausgehende Grundorientierung muß im Zusammenspiel von Verkündigungsdienst und Bildungsarbeit erfolgen. Der Inder M. M. Thomas hat in Nairobi 1975 dem neuentdeckten Schlüsselwort der Ökumene - Spiritualität - eine ganz spezifische Konnotation gegeben, indem er zu einer „Spiritualität des Kampfes” aufrief. Diese Formulierung nimmt die theologische Entwicklung der Genfer Ökumene mit ihrem Drängen nach Verwirklichung christlicher Weltverantwortung in der Nachfolge des Herrn auf, wie sie in der Programmeinheit II Gerechtigkeit und Dienst sowie in dem mit der römischen Kirche gemeinsam gebildeten Ausschuß für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden (SODEPAX) thematisiert wird. Sie kam aus einem Teil der Welt, in dem Religion und soziale Lebensbezüge, christliche Botschaft und traditionelle Kultur, kurz Glauben und Leben eine Einheit bilden. Spiritualität darf nicht zur Weltflucht und Weltverachtung führen, sie muß das ganze Leben durchformen und gerade auch in Beruf, Lebenswerk und allen sozialen Bezügen wirksam werden. Das Abseits, in das die Volkskirchen der Alten Welt geraten zu sein scheinen mit ihrer weitgehenden Trennung von geistlicher und weltlicher Ebene, hängt sicher mit dem Verlust einer umgreifenden Spiritualität zusammen. Für die Christen Europas kann die Wiedergewinnung einer neuen Spiritualität in der Tat die entscheidende Lebens- und Glaubenshilfe werden. Soll Hilfe zum Leben und zum Glauben aber gewonnen werden, so darf die neue Spiritualität jetzt nicht in den umgekehrten Fehler verfallen und zu einem bloßen Mittel zur Beförderung der innerweltlichen Verantwortung, der Veränderung der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen degenerieren. Spiritualität hat ihren Ursprung außerhalb unserer Taten und auch unseres Versagens, sie ist Wirkung des Geistes Gottes und damit auf Jesus Christus ausgerichtet. Im Abendland hat man das einmal sehr deutlich gewußt, das benediktinische „ora et labora” ist nie eine bloße Addition zwei verschiedener Verpflichtungen gewesen, von denen eine jetzt in das Belieben gestellt werden könnte: Beten und Arbeiten durchdringen und bedingen einander, weil beides im Namen Jesu zu geschehen hat. Der Kampf um die neue Spiritualität wird sich deshalb lohnen. Quatember 1981, S. 16-24 |
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