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Der Osterweg
von Edith Thomas

LeerIn der Festschrift "Kosmos und Ekklesia" die 1953 zu Wilhelm Stählins 70, Geburtstag erschien, fand sich ein Brief von Wilhelm Thomas, überschrieben "An meine Theologensöhne": Einige Zeit nach dem Tod ihres Mannes am 18. November 1978 übergab uns Edith Thomas ihre Aufzeichnungen über den Osterweg - mit dem Untertitel "Ein Brief an unsere Kinder".

LeerEdith Thomas, selbst durch ihre Veröffentlichungen über Gottesdienst, Kirchenjahr und Brauchtum vielen unserer Leser bekannt, weckt damit noch einmal die Erinnerung an ihren Mann, der im Jahre 1926 als Pfarrer in Marburg a. d. Lahn das Berneuchener Buch mitunterzeichnete, im Jahre 1931 zu den Stiftern der Evangelischen Michaelsbruderschaft gehörte und zwei Jahre später Schriftleiter der "Evangelischen Jahresbriefe" wurde, aus denen schließlich "Quatember" hervorging.


Leer"Vor einigen Jahren habe ich Euch unseren "Weihnachtsweg" niedergeschrieben. Vater sagte, nun müsse der Osterweg folgen. Damit hatte er sicher recht aber ich konnte den Anfang des Osterweges nicht finden. Gewiß gab es bunte Eier und Osterhasen, aber damit fängt der Osterweg nicht an. Im Gegensatz zum Karfreitag gehörte der Ostergottesdienst keineswegs zu Ostern. Es ist sogar möglich, daß in unserer kleinen Gemeinde nicht jedes Jahr ein Ostergottesdienst stattfand, weil in der Diaspora der Reiseprediger mehrere Gemeinden zu versehen hatte. Osterlieder kannten wir kaum. Etwa 1924 lernten meine Eltern durch den Rundfunk "Christ ist erstanden" kennen und waren überwältigt von dem Eindruck, den dieses älteste deutsche Osterlied auf sie machte. Man kann wohl sagen, daß den "Gebildeten" von damals die Osterszenen aus dem "Faust" wesentlich vertrauter waren als die Osterevangelien und Osterchoräle. Hier war also kein Anfang des Osterweges zu finden.

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LeerAber etwas anderes war da, schon sehr früh, was ja auch zu Ostern gehört: Gründonnerstag und Karfreitag. Ich könnte auch sagen: Donnerstag und Freitag; das waren andere Tage als die übrigen. Am Donnerstag gingen meine katholischen Mitschülerinnen nicht wie sonst vor der Schule in die Schulmesse, sondern um 8 Uhr gemeinsam in das feierliche Hochamt in der großen Pfarrkirche. Ich weiß nicht mehr, ob mir das erklärt wurde, aber der Donnerstag hatte eben ein Zeichen von jenem einen Donnerstag, dem Tag vor der Nacht, "da Er verraten ward". Vermutlich rührt es daher, daß mir der Gründonnerstag, obwohl er sehr profan ausgefüllt war mit Eiermalen und ähnlichem, irgendwie geheimnisvoll herausgehoben war, solange ich zurückdenken kann. Und ebenso hatte jeder Freitag sein Gepräge vom Karfreitag, an dem alle Glocken verstummten und nur die kleine Glocke unserer Diasporakirche läutete. Das hat sich mir stärker eingeprägt als die großen Gottesdienste; jeden Freitag um 11 Uhr schlug die Glocke an und erinnerte an den Todestag des Herrn.

LeerDer Karfreitag war für die Katholiken ein "halber Feiertag", das heißt der Kirchgang war nicht wie am Sonntag Pflicht und die Arbeit nicht untersagt. Wir trafen manchmal bei unseren Spaziergängen ein Bäuerlein beim Mistfahren und entrüsteten uns sehr. Es stimmt aber keineswegs, daß für die Katholiken ganz allgemein der Gottesdienst nicht zum Karfreitag gehörte, im Gegenteil: Der Besuch des "Heiligen Grabes", die Karfreitagszeremonien und die "Grabmusik" (z. B. die "Sieben Worte" von Haydn) sind in den katholischen Gemeinden immer wichtig gewesen.

LeerIn der Diaspora ergibt es sich ganz von selbst, daß man auch das "andere Gesangbuch" kennen lernt, es sei denn man schirmt sich dagegen ab mit dem strengen Gesetz: Damit haben wir nichts zu tun. Eure Großeltern gehörten zum Glück nicht zu diesem Typ von Diasporachristen, und so lernten wir bei mancherlei Gelegenheiten die katholischen Feiern kennen. Nichts hat mich so ergriffen wie die Feiern der Kartage. Die reichen, zum Teil uralten Zeremonien waren sicher stark abgekürzt und ins Volkstümliche übertragen; erklärt hat sie mir niemand, und das Latein konnte ich nicht verstehen. Und doch habe ich damals gespürt, daß wir in der Kirche dem göttlichen Geheimnis begegnen, das größer ist, als unsere Worte auszusagen vermögen. Alles wies darauf hin: die halbdunkle Kirche, das verhüllte Kreuz und Altarbild, die knieenden Beter, der Priester, der sich bis zur Erde verneigte. Am Gründonnerstag bei den Trauermetten stand ein vielarmiger Leuchter vor dem Altar. Nach jedem Psalm, den der Chor betete, wurde eine Kerze gelöscht; schließlich brannte nur noch ein Licht, und auch dieses erlosch: Der Herr ist fortgegangen aus dem Kreis der Seinen. Am Karfreitag standen die sonst so reich geschmückten Altäre nackt und leer, keine Orgel, keine Glockerklang. Schweigend kniete die Gemeinde in den Bänken, während der Chor sang.

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LeerIn unserer Kirche war der Karfreitag der eigentliche Abendmahlstag. Bei der Sakramentsfeier waren wir Kinder natürlich nicht zugegen. Kindergottesdienst hatten wir nicht, so unterschied sich der Gottesdienst nur durch die Choräle von dem der anderen Sonntage. Zum erstenmal habe ich im Jahr 1921 in Nürnberg einen Versuch erlebt, dem Karfreitagsgottesdienst eine eigene Gestalt zu geben: der Knabenchor von St. Lorenz stimmte auf der Sängerempore den Choral "Wir danken dir, Herr Jesu Christ" einstimmig an, und die große Gemeinde stimmte ein. Das ist mir wie ein Vorbote der späteren Sitte, am Karfreitag den Gesang nur mit einstimmigem Orgelspiel begleiten zu lassen; dort, wo man auf die Orgel nicht ganz verzichten kann, sicher eine gute Lösung.

LeerUnd nun beginnt schon der Osterweg sich deutlicher abzuzeichnen, denn kurz nach diesem Karfreitag lernte ich Vater kennen. Unser erstes gemeinsames Osterfest in Augsburg-Hochzoll begann allerdings damit - Ihr werdet lachen! - daß wir in Ermanglung eines Besseren in aller Frühe ins breite Kiesbett des Lech gingen, und ich spielte auf der Geige: "Christ ist erstanden". Wandervogelromantik nennt man das heute - aber müssen nicht auch solch wunderliche Versuche gemacht werden, wenn man nicht nur das Alte fortsetzen will? Zu diesem Osterfest gehört nun auch das Wort: "Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten!" (Epheser 5, 14). Damit schloß Vaters Predigt, und seitdem begleitet es uns durch alle Osterfeste und Sonntage.

Leer1925 kam Marburg, die zweite Station auf unserem Weg; und hier wird der Osterweg deutlicher sichtbar, an zwei Stellen. Hier erlebten wir zum erstenmal den Beginn des Ostermorgens mit der Feier des Heiligen Mahles in der kleinen Kreuzkapelle bei der Universitätskirche. Der vorherige Versuch, in der Universitätskirche eine Ostermorgenfeier neuer Art zu halten, mußte wieder aufgegeben werden. Die Universitätskirche war reformiert, die Gemeinde empfand schon Blumen und gar Kerzen auf dem Altar als ärgerniserregend und das Amtieren zweier Pastoren, die sich in den Dienst teilten und im Wechsel die Gebete sprachen, als ein "katholisches Theater". Ähnliches haben wir noch oft erlebt. Neuerungen in der Gemeinde soll man eben nicht einführen, ohne wenigstens einen Teil der Gemeindeglieder gut darauf vorbereitet zu haben. War also dieser Versuch verfrüht, so blieb doch die Abendmahlsfeier in kleinem Kreis am frühen Morgen Brauch, bis die Zeit reif war für die Begehung der Osternacht.

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LeerDas andere Ereignis, das für unsere Zukunft besondere Bedeutung gewann, hängt mit Vaters Dissertation zusammen. Er hatte ja zunächst eine ganz andere Absicht; ihm lag es an der Frage: Was kann die Kirche tun, um den Sonntag zu retten? Als er dann genötigt wurde, sich auf ein historisches Thema zu konzentrieren, wurde ihm die grundlegende Bedeutung dessen klar, was in der Christenheit weithin in Vergessenheit geraten war: Der Sonntag ist nicht ein um einen Tag verschobener Sabbat, er ist der immer wiederkehrende Tag der Auferstehung des Herrn und damit das Fundament der Kirche. "Und über acht Tage" (Johannes 20, 26) - das ist das erste Glied in der Kette der Sonntage. Es ist nicht unwichtig zu wissen, daß sich bei Luther nur die Vermutung findet, die Verlegung des Ruhetages vom letzten auf den ersten Tag der Woche könne mit dem Tag der Auferstehung zusammenhängen.

LeerAls wir 1930 nach Bremke bei Göttingen kamen und damit in die Hannoversche Landeskirche, waren wir zunächst dankbar überrascht, daß der Karfreitagsgottesdienst sein eigenes Gepräge hatte und nicht nach der Sonntagsliturgie gehalten wurde. Dort war es auch Sitte, daß alle Feste von den Posaunen eingeblasen wurden. Die Übungsstunden im Souterrain des Pfarrhauses waren zwar kein Ohrenschmaus, aber das Erklingen der Osterchoräle am frühen Morgen war doch schön. An einem Ostermorgen hatten wir dann alle Bläser eingeladen zu Riesenmengen von heißem Kaffee, Butterkuchen und Ostereiern. Da feierten sie dann, spielten bis zum Gottesdienst um 1/2 11 Uhr und freuten sich der Überraschung. Von Bremke aus haben wir auch das erste Erscheinen der Celler Passion erlebt. Ludwig Doormann ließ sie von seinem Chor in der Göttinger Marien- und Jakobikirche singen und holte Vater als Evangelisten dazu. Damals haben wir zum erstenmal eine Passion als Gottesdienst erlebt. Der Chor stand vor dem Altar; der Evangelist, im Talar in der Mitte stehend, kniete nach den Worten von Jesu Tod zum stillen Gebet vor dem Altar nieder. Es war Doormanns besonderes Anliegen, daß die gesungene Passion kein Kirchenkonzert, sondern ein Gottesdienst sein sollte. Die Beteiligung der Gemeinde durch Choräle kam freilich erst später. Wir haben es dann gewagt, die Celler Passion von unserem kleinen Bremker Chor singen zu lassen, die Einzelstimmen von den ganz ungeschulten Dorfleuten besetzt. Sie sangen durchaus nicht jedes Wort genau nach den Noten, und sangen doch genau wie es gemeint ist. Auch der Introitus an den Festen war damals schon Brauch, und natürlich besonders beliebt die große Doxologie von Bortniansky.

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LeerVon Bremke aus besuchten wir den Mann, dem die römische Kirche die Erneuerung des Osterfestes verdankt: Pater Odo Casel in Herstelle. Das Osterfest, das älteste und größte Fest der Christenheit, das früher mit seinen vielen Lesungen und feierlichen Bräuchen, Taufwasserweihe und Taufen die ganze Nacht bis zum Ostermorgen gedauert hatte, war im Lauf der Jahrhunderte auf' den Karsamstagmorgen vorverlegt und stark verkürzt worden. Die Gründe dafür kennt man nicht genau, aber vermutlich hat der Wunsch, das lange Fasten abzukürzen, dabei mitgewirkt. Pater Odo setzte sich dafür ein, daß die Osterliturgie wieder am Ostermorgen und mit der ganzen Gemeinde gefeiert wurde. Es dauerte noch zwei Jahrzehnte, bis sein Ziel - erst nach seinem Heimgang - erreicht wurde. Davon soll später die Rede sein. Noch sind wir in der Periode, in der die Osterfeier vom Klerus, fast ohne Gemeinde, am Morgen des Stillen Samstags begangen wurde. Aber die liturgische Ernerungsbewegung in der römischen Kirche hatte doch erreicht, daß man diese Dinge wieder ganz anders ernst nahm, und wir haben Vieles von ihnen gelernt. Deshalb ging Wilhelm Stählin in der Karwoche 1932 nach Maria Laach, um die Feiern der Heiligen Woche kennen zu lernen, ehe er in Bremke im Jahr 1933 in unserer Gemeinde seine erste Osterfreizeit hielt. Ich selbst habe nicht viel davon miterlebt, denn am Sonntag Lätare war unsere Maria geboren worden. Nur Stählins Predigt über Hesekiel 37 ist mir noch lebendig: "Und Er führte mich allenthalben hindurch." Der Seher kann nicht sagen: "Bitte, erspare mir diesen Anblick, er ist zu furchtbar". Nur wer das Todesschicksal der Welt in seiner ganzen Unerbittlichkeit erkennt, ohne Flucht in Gedanken, die dem Todesgrauen ausweichen, nur der kann erfahren, was es heißt: "Siehe, Ich will Eure Gräber auftun."

LeerAm Ostermontag feierten wir die Taufe. Vater hatte im Jahr zuvor am Ostermontag über Johannes 20, 11-16 gepredigt: Wenn Menschen einander nicht kennen, nennen sie ihren eigenen Namen, sie stellen sich vor. Jesus nennt nicht Seinen Namen; Er ruft Maria bei Ihrem Namen, und daran erkennt sie ihn. So steht dieses "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen" für immer über dem Leben Eurer kleinen Schwester, die Er dann so bald wieder zu sich rief.

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LeerHeute, wo wieder mehr als damals Erwachsene getauft werden, ist ganz gewiß die Osternacht der schönste Tauftermin. Bei Kleinkindertaufen ist die Durchführung schwierig, aber das lebendige Gedächtnis der Taufe gehört sehr wesentlich zur Osterfeier. Damals in Bremke hat mancher der Freizeitgäste gesagt, ihm sei erst bei der Feier der Taufe ganz aufgegangen, was Ostern bedeutet.

LeerDann folgte ein trauriges Ostern. Im Februar 1934 hatten es die Parteigrössen erreicht, daß Vater vom Amt suspendiert wurde. Der Konfirmation durch den Nachbarpastor wohnten wir noch bei; aber über Ostern flohen wir nach Hannover. Gründonnerstag feierten wir in Hildesheim in St. Michael und erlebten zum erstenmal im Dom eine gemeinsam zelebrierte Messe des Klerus. Das war damals nur an einem einzigen Tag im Jahr erlaubt, eben am Gründonnerstag. Sonst hatte jeder Priester jeden Tag selbst die Messe zu halten. Während der Gründonnerstagsfeier beim "Ehre sei Gott in der Höhe" sahen wir, wie vom hohen Chor aus (damals hinter dem Lettner) die Glocken geläutet wurden, ehe sie verstummten bis zum Gloria in der Osternacht. Sollte es nicht doch ein erfüllbarer Wunsch der katholischen Brüder sein, daß wir diese Sitte aufnehmen und uns dem Karfreitagsschweigen anschließen?

LeerOstern feierten wir in der kleinen Kirche in Hannover-Stöcken und sangen dort zum erstenmal mit der Gemeinde das Lied der Böhmischen Brüder "Singen wir heut mit gleichem Mund". Den Liedern der Böhmischen Brüder - "O wie lieblich ist diese Osterzeit" zählt auch dazu - gehörte Vaters besondere Liebe.

LeerDas Disziplinarverfahren verlief ohne Ergebnis; aber es genügte, um Vaters Bleiben in Bremke und auch die Übernahme einer neuen Pfarrstelle unmöglich zu machen. So waren wir dankbar, daß es den Freunden aus dem Kirchenkampf gelang, aus der Hilfsarbeiterstellung bei Bischof Marahrens einen Dauerposten zu machen. Aber es war doch, trotz aller Not in Bremke, sehr schwer, keine eigene Gemeinde zu haben. So flüchteten wir wieder, Ostern 1936, nach Soest, wo Stählin im Predigerseminar mit einer Freizeitgemeinde mehrere Jahre die heilige Woche hielt. Damals lag schon im Wesentlichen die Ordnung für Karwoche und Ostern vor, wie sie jetzt in dem Heft "Die heilige Woche" zu finden ist. Mir war besonders eindrücklich die Einführung in die österlichen Feiern der alten Kirche: Am Gründonnerstage lagen die Büßer, auf der Erde ausgestreckt, vor der Kirchtür und warteten auf die Wiederaufnahme in die Gemeinde. Zweimal trat ein Diakon vor sie hin, hob seine brennende Kerze - und blies sie aus. Erst der dritte Diakon, in einer Hand das Licht, faßt mit der anderen Hand den ersten Büßer und hebt ihn auf, dieser nimmt den zweiten an der Hand, und so führen sie einander in langer Kette durch die Kirche zum Altar, wo sie zum erstenmal seit langer Zeit wieder am Mahl des Herrn teilnehmen durften. Davon mußte ich Euch hernach immer wieder erzählen. Wie selbstverständlich verstehen Kinder die Gebärdensprache!

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LeerÜber der ganzen Freizeit stand Stählins These: "Wer verstehen will, worum es in der Kirche geht, muß vor allem die Gottesdienstordnungen kennenlernen. Die Dogmatik ist erst die nachträgliche Erklärung dessen, was im Gottesdienst geschieht."

LeerDamals wurde mir klar: Die schwierigste Frage bei Freizeiten ist die Gestaltung der freien Zeit. Was können wir tun, um still zu verweilen in dem, was wir gehört haben, zu verweilen im Gebet? Das ist ein Gebiet, auf dem wir Protestanten besonders hilflos sind. Es war kein Zufall, daß manche von uns am Nachmittag des Karfreitag im Patroklusdom einkehrten, wo in Gegenwart einer großen Gemeinde von vier Priestern abwechselnd die Klagelieder Jeremiae gesungen wurden. Wir selbst sangen zur Todesstunde Jesu die Improperien von Palestrina.

LeerDamals lernten wir auch das Lied kennen, das leider aus dem alten hannoverschen Gesangbuch nicht ins neue übernommen wurde:
Also heilig ist der Tag,
daß ihn niemand mit Loben erfüllen mag;
denn der einige Gottessohn,
der die Hölle überwand
und den leidigen Teufel darinnen band,
damit erlöst der Herr die Christenheit,
das war Christ selber. Kyrieleis!
LeerEs gehört zu den ganz wenigen Liedern, in denen der Satz "Niedergefahren zur Hölle" Gestalt gewonnen hat, wie in so vielen Bildern, und wie in dem Weihnachtslied "Nun ist geboren unser aller Trost, der die Höllenpfort mit seinem Kreuz aufstoßt". Der Stille Samstag, die Zeitspanne zwischen Tod und Auferstehung, ist wie kein anderer Tag angetan, sich in dieses Bild zu versenken: Der Herr, der den Tod erlitten hat, kehrt ein ins Reich der Toten; er faßt sie bei der Hand, Adam, Eva, die Frommen des Alten Bundes, und all die Namenlosen, die Ihn nicht gekannt haben, und führt sie aus dem Tod ins Leben.

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LeerNun beginnt wahrscheinlich für Euch selbst der Osterweg schon sichtbar zu werden. Denn in den kommenden Jahren - ich glaube 1937 - fing es an, daß wir im Freundeskreis mit unseren Kindern am Karfreitag im Friederikenstift die Celler Passion sangen und in der Osternacht die Auferstehung feierten. Es war ein ganz kleiner Anfang, und doch, wie viel hat er bedeutet, nicht nur für uns persönlich. Aber es war noch ein langer Weg. Zunächst wurde der Versuch gemacht, die Osternachtfeier in die Aegidienkirche zu verlegen, um die Gemeinden besser zu erreichen. Die Feier wurde eingeleitet durch den 116. Psalm, von den zwei Liturgen im Wechsel gebetet. Aber der Versuch war verfrüht. Auch der Versuch, die Auferstehung um Mitternacht und die Eucharistie am Morgen zu begehen, scheiterte an den großen Entfernungen in der Großstadt. Und dann kam der Krieg und unterbrach alles. Nächtliche Feiern waren nicht mehr möglich. Unser Weg führte 1943 nach Hildesheim an die Jakobikirche. Dort fanden wir zu unserer großen Freude auch den Brauch vor, früh am Ostermorgen das Heilige Mahl zu feiern. Damals geschah es oft, daß Menschen fremder Nation oder anderer Konfession in die Kirche kamen. So kam es dazu, daß nach der Feier vier Fremdarbeiter zum Altar kamen; sie konnten kein Wort deutsch, aber sie knieten nieder und begehrten die Kommunion. Vater sagte nachher: "Ich weiß nicht, ob ich berechtigt war, ihnen das Sakrament zu reichen, aber am Ostermorgen konnte ich sie nicht abweisen!" Dann kam die Zerstörung Hildesheims und der Karfreitag, an dem Vater seinen 40. Geburtstag feierte und Johannes in Gefangenschaft geriet. Es kam der Ostermorgen, an dem Vater den Gottesdienst wegen der Flieger unterbrechen mußte, und die Osterwoche, in der er fast unausgesetzt, ständig durch Alarm unterbrochen, auf dem Friedhof die Toten bestatten half. Es kamen die Jahre, in denen wir in der Friedhofskapelle, in den wiederhergestellten Gemeindesälen und als Gäste in den katholischen Kirchen unsere Gottesdienste hielten. Aber die Feier des Heiligen Mahls - in der Frühe des Ostermorgens - die durften wir auch jetzt wieder begehen. Nun wieder ein Blick auf die Entwicklung in der römischen Kirche! In den Jahren nach dem Krieg habe ich noch erlebt, wie am Karsamstag-Morgen die Osterzeremonien gehalten und Auferstehungslieder gesungen wurden. Aber dann kam der große Umschwung: 1949 am Karsamstag, als Pater Odo Casel eben das "Exsultet", den großen österlichen Jubelgesang, anstimmen wollte, wurde er vom Herzschlag getroffen; und am Ostermorgen, zu der Stunde, in der die Feier eigentlich stattfinden mußte, tat er den letzten Atemzug. Sieben Jahre danach, im Jahre 1955, kam von Rom die Genehmigung, die Auferstehung am Ostermorgen zu feiern. Odo Casel hat mit seinem Tod ein Zeichen gegeben; und viele haben das Zeichen verstanden.

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Leer1950 feierten wir Ostern wieder in Hannover im Friederikenstift. Die Jungbrüder sangen dabei das wunderbare Lied der Böhmischen Brüder "O wie lieblich ist diese Osterzeit". Die Ordnung der Osternacht war inzwischen von Christhard Mahrenholz überarbeitet, für den Gebrauch der Gemeinde etwas verkürzt und vereinfacht worden. Im Gegensatz zur Berneuchener Ordnung war der alte Aufbau wieder hergestellt worden, die Feier beginnt mit dem Ruf: "Lumen Christi - Christus unser Licht". Es ist besonders dankenswert, daß in dieser Ordnung das Osterevangelium von drei Liturgen gesungen wird. Während die gesungenen Passionen im Leben der evangelischen Gemeinden nahezu unentbehrlich geworden sind, ist die in der Reformationszeit entstandene Weise, das Osterevangelium zu singen, in Vergessenheit geraten. Ihre Wiedergewinnung macht den Bericht der Auferstehung zum festlichen Mittelpunkt der ganzen Feier. Zum erstenmal wurde es im Jahr 1951 in der Gartenkirche so gehalten. Ich werde nie vergessen, wie damals der Osterbericht nicht aufhörte mit dem Zittern und Entsetzen der Frauen, sondern weiterging, und wie dann die Stimme des Herrn selbst zu den Seinen spricht: "Seid gegrüßt!"

LeerDie Wiederaufnahme der Litanei stellt zwar in dem ohnehin langen Gottesdienst an alle Beteiligten eine große Anforderung, aber sie ist ohne Zweifel eine Hilfe gegen das Abgleiten in bloße Stimmung.

LeerNach wie vor war die entscheidende Frage: Die Teilnehmer mehren sich zwar von Jahr zu Jahr, aber gehen sie auch mit? Was kann man tun, daß aus Zuschauern und Zuhörern eine wirklich tragende Gemeinde wird'? Die Geschichte der Osternacht zeigt besonders deutlich, wie jede Gottesdienstreform einer geduldigen und sorgfältigen Vorbereitung aller Beteiligten bedarf, auch wirklich sicherer Sänger. Jede Unsicherheit überträgt sich auf die Gemeinde, während auch fremde Formen oft überzeugen, wenn sie mit Sicherheit durchgeführt werden.

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Leer1952 wurde in der Markuskirche am Karfreitag-Nachmittag eine Passion im Gottesdienst gesungen, abgeschlossen vom Litaneigebet der Gemeinde. Endlich die richtige Gottesdienstform für diesen Tag! Eben dort wurde auch die Osternacht gehalten. Sicher waren noch immer Zuschauer dabei (vor allem einige Pastoren), aber zum erstenmal hatten wir den Eindruck: die Gemeinde geht mit. Dann führte unser Weg nach Wunstorf. Beim ersten Osterfest 1955 feierten wir nur, wie dort üblich, am Ostermorgen die Eucharistie. Im nächsten Jahr schon konnte die Osternachtfeier gewagt werden, vom Vater und drei Söhnen getragen, Bernhard war Evangelist, Frieder sang den Engelpart (freilich in einer tieferen Lage), Konrad war Gemeindekantor. Wie zu erwarten, in einem kleinen Kreis, aber das Echo war so gut, daß Pastor Kurt Schmidt-Clausen schon im nächsten Jahr mit einer kleinen Schola die Feier durchführen konnte. Er hat auch die Erneuerung des Taufbundes, wie sie heute in der römischen Kirche üblich ist, aufgenommen. Vater hat zwar immer bedauert, daß das Gedächtnis der Taufe in der Ordnung der Liturgischen Konferenz so wenig entfaltet ist - ob das Gelübde die richtige Art des Taufgedächtnisses ist, schien ihm fraglich. Die Gemeinde soll aber gerade davon sehr beeindruckt gewesen sein. Wie wir hörten, wird die Osternacht noch heute in Wunstorf gefeiert, obwohl auch Schmidt-Clausen bald nach uns abberufen wurde.

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LeerAls wir 1960 wieder in Hannover Ostern begingen, war die Osternacht wirklich eingewurzelt und gewachsen. Sie wird heute in etwa acht Gemeinden begangen. Wir gingen wie in der Christnacht durch die Eilenriede nach Kleefeld. Am Eingang bekam jedes Gemeindeglied eine Kerze. Vor dem Osterevangelium gingen zwei Diakone mit der brennenden Kerze durch den Mittelgang, der erste in der Bank zündete seine Kerze an und gab das Osterlicht weiter, bis die ganze Kirche von Licht erfüllt war. Die Kerzen reichten diesmal bei weitem nicht aus für die große Gemeinde. Und wenn auch mancher kam nur um des herrlichen Chores willen - da war ein solcher Strom von Freude, gegen den niemand schwimmen konnte, wenn beim Laudamus zum erstenmal wieder Glocken und Orgel einfielen.

LeerDie Kleefelder Gemeinde hat als eine der ersten in Hannover die liturgische Kleidung für Liturgen und Chor eingeführt. Der Liturg trug über dem Talar einen weißen Überwurf nach altem lutherischen Brauch, der sich in manchen Gemeinden erhalten hat - so lange den meisten Gemeinden das weiße Gewand noch fremd und anstößig ist, wahrscheinlich die beste Lösung. Das erste Osterfest seit unserer Rückkehr nach Hildesheim im Jahr 1961 war verbunden mit unserer ersten Einkehrzeit über Karwoche und Ostern. Es war eine schwere, schöne Aufgabe. Wir wagten damals noch nicht, die täglich wechselnden Psalmen von der Freizeitgemeinde beten zu lassen; sie wurden von zwei Liturgen im Wechsel gesprochen.

LeerVon der Osternacht in St. Michael waren wir ein wenig enttäuscht. Man merkte, daß die Ordnung in der Gemeinde noch nicht recht verwurzelt war, auch fehlte damals die Mitwirkung des Chores. So eine Neueinführung braucht eben doch Jahre, bis die Gemeinde darin heimisch wird.

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LeerOstern 1962 brachte ein großes Wagnis: Eine fünfzehnköpfige Pfadfindergruppe mit drei Führern, deren Ehefrauen und fünf Kindern hatten sich zu den Einkehrtagen angesagt. An diese Tage denken wir mit besonderer Dankbarkeit. Zum erstenmal machte Vater den Versuch, seinen "Kreuzweg" im Wechsel von der jungen Gemeinde beten zu lassen. Dieser Versuch zeigte, daß dies eine gute Möglichkeit des meditativen gemeinsamen Gebetes ist. Seitdem gehört er zu unserer festen Ordnung der Karwoche.

LeerSeit 1964 dürfen wir nun Jahr für Jahr über Karwoche und Ostern die Einkehrtage in St. Michael halten und, was uns besonders beglückt, wir können beobachten, wie von Jahr zu Jahr die Gemeinde mehr mit der Ordnung der Osternacht vertraut wird. 1965 hat zum erstenmal der Chor mitgewirkt, es war ein wirklich lebendiges Einander-Zurufen und Antworten, wie die Liturgie sein soll, und die Gemeinde stimmte mit ein. 1966 wurde die Ordnung noch besser ausgebaut: Eine Schola stand mit den Liturgen im Chor der Kirche, die übrige Kantorei verteilte sich im Kirchenschiff. So war es sogar möglich, die Antiphon zum 42. Psalm von der Gemeinde singen zu lassen.

LeerZu unserer Osterfreizeit gehörte auch jedes Jahr die "Historia von der Auferstehung" von H. Schütz. Wir haben alle noch den Klang des großen Osterlobgesangs (Exsultet) im Ohr - und hören beglückt, wie dieser Klang in dem Schützschen Oratorium weiterklingt. Wenn ich zurückdenke bis dorthin, wo ich den Anfang des Osterweges kaum finden konnte, dann staune ich, wie viel sich in diesen Jahrzehnten gewandelt hat. Ostern-Sonntag-Eucharistie - das ist die große Drei-Einheit der christlichen Kirche. Daß wir den Weg, auf dem dieses Wissen wiedergefunden wurde, mitgehen durften, dafür sind wir dankbar.

LeerDenken wir noch einmal an den Leitsatz: "Wer verstehen will, worum es in der Kirche geht, muß ihre Gottesdienstordnungen kennenlernen; die Dogmatik ist erst die nachträgliche Erklärung dessen, was im Gottesdienst geschieht." Dies eine ist sicher: Es gibt keinen wichtigeren Dienst, als ein lebendiges Zeugnis der österlichen Freude."

Quatember 1981, S. 77-86

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-27
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