Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1981
Autoren
Themen
Stichworte


Vom Psalmensingen und -beten
von Jürgen Boeckh

LeerWenn ich heute am Sterbebett eines 80jährigen evangelischen Christen stehe, kann ich damit rechnen, daß er aus seiner Kindheit einige Psalmen kennt. Das gilt auch, wenn dieser Mann oder diese Frau später „unkirchlich” gewesen ist. Wenn ich etwa den 23. oder den 90. oder den 121. Psalm laut bete, dann wird der Sterbende innerlich dabei sein und vielleicht sogar die Lippen bewegen. Vor einigen Jahren wollte ich mit einem Bruder, keinem Theologen, dessen letzte Stunde gekommen war, das Heilige Mahl feiern. Seine Frau lehnte das ab. Sie meinte: Er versteht das nicht mehr. Ich betete den 139. Psalm („... bettete ich mich im Reich der Toten, siehe, so bist Du auch da”). Die Atemzuge wurden ganz ruhig, solange ich diesen Psalm mit seinen 24 Versen las. Der Sterbende betete in der Stille mit. Er hatte auch das Abendmahl noch mitvollziehen können.

LeerAuch in geistlich dürren Zeiten haben evangelische Christen immerhin noch einige Psalmen als „eiserne Ration” mit auf den Weg bekommen. Vielleicht ist das Beten der Psalmen bei den einzelnen evangelischen Christen für längere Zeit sogar lebendiger gewesen als bei den Laien in der katholischen Kirche. Dort ist allerdings das Psalmengebet als Gebet der Priester, die ihr Brevier lesen, sowie der Mönche und Nonnen, die im Chor beten, nie verstummt.

LeerDas gemeinschaftliche Psalmengebet ist innerhalb der evangelischen Christenheit erst in diesem Jahrhundert wieder entdeckt worden, und vom gemeinschaftlichen Psalmengebet her haben evangelische Christen, besonders solche, die Bruder- und Schwesternschaften angehören, auch den Psalter in seiner Fülle für ihr persönliches Gebet übernommen. Im „Evangelischen Tagzeitenbuch” der Michaelsbruderschaft ist der ganze - wenn auch innerhalb der einzelnen Psalmen gekürzte - Psalter enthalten und für jedes Gebet zu den Tageszeiten sind ein oder mehrere Psalmen vorgesehen. Dazu heißt es (Seite 214): „Die Psalmen können in jeder angemessenen Weise singend gebetet werden, es sei gregorianisch, figural, liedförmig oder wie immer. In der Regel werden die Psalmen auf einem Ton rezitiert, wobei sich zwei Chorhälften nach jedem halben oder ganzen Psalmvers abwechseln.” Bis dahin war es ein weiter Weg. Im alten „Gebet der Tageszeiten”, das zwischen den Weltkriegen „im Auftrag des Berneuchener Kreises” von Konrad Ameln, Karl Bernhard Ritter und Wilhelm Thomas herausgegeben worden war (1. Aufl. 1926), sind die Psalmen nicht abgedruckt, nur beim „Gebet der Mittagsstunde” wird ein Orgelchoral, ein Gemeindelied oder ein Psalm vorgeschlagen. Und wo in der Regel der Bruderschaft vom Jahre 1937 empfohlen wird, daß wir unserem Gedächtnis einen Schatz von Liedern fest einprägen sollten, insbesondere auch die liturgischen Gesange und die Lieder, die bei den Feiern der Bruderschaft gesungen werden, steht nichts von den Psalmen. Einige Jahre früher, im Jahre 1925, hatte Karl Bernhard Ritter jedoch in der Schriftenreihe „Der Deutsche Dom” im Auftrag der Berneuchener Konferenz einen Psalter herausgegeben. Dabei handelte es sich um eine Auswahl aus dem biblischen Psalter. Die einzelnen Psalmen erschienen - thematisch geordnet - in einer neuen Reihenfolge und waren gekürzt. Verse, die nur in allegorischer Umdeutung von Christen heute gebetet werden können, waren fortgelassen, Der letzte Abschnitt des Vorwortes lautet: „Der Psalter ist Dichtung. Das soll in der vorliegenden Ausgabe sinnfällig werden. Zugleich ist durch dieses Satzbild der Gebrauch im liturgischen Wechselgebet ermöglicht: die eingerückten Zeilen fallen der Gemeinde zu. Wo es der liturgische Gebrauch wünschenswert erscheinen ließ, sind Wiederholungen und Erweiterungen der Art vorgenommen, wie sie bei der Vertonung des Psalters von jeher unbedenklich erschienen sind.”

Linie

LeerWir sehen, wie Ritter hier die Psalmen als liturgisches, im Wechsel gesprochenes Gebet, sehr behutsam empfiehlt. Wurden doch derartige Praktiken damals als „katholisch” in breiter Front abgelehnt! Zur 3. Auflage 1935 erschien eine Beilage, in der auch Hinweise für das Singen der Psalmen gegeben wurden. Horst Schumann hat im 23. Jahrgang unserer Zeitschrift („Quatember” 1958/59, Seite 219-222) den Weg „Vom Deutschen Dom zum Stundengebet”, dem Bindeglied zwischen dem „Gebet der Tageszeiten” und dem „Evangelischen Tagzeitenbuch”, dargestellt. Als ich diesen Bericht, Abschnitt XXVII aus der Reihe „Nach einem Menschenalter” jetzt noch einmal las, fielen mir besonders zwei Stellen auf. Schumann berichtet, daß die Verhandlungen mit den Kirchenmusikern aller Gruppen besonders schwierig gewesen waren. Er stellt fest: „Sie schienen mir stets schwerer unter einen Hut zu bringen als die Theologen.” (Man ist versucht zu fragen: noch schwerer?) Und ein Stück weiter heißt es: „Ernst genommen sollte auch unsere alte Erkenntnis werden, daß man viele Dinge geistlichen Lebens nicht literarisch weitergeben kann. Wir bezogen damals auch sehr bewußt das Psalmensingen mit ein, bei dem sich ja eine ganz neue Welt für uns auftat. Die Psalmtontafel sollte nicht gedruckt werden; man sollte das Psalmsingen im leibhaften Vollzug lernen - und sich danach die Tafel abschreiben dürfen.”

LeerDiese Worte wurden vor mehr als 20 Jahren niedergeschrieben. Wie sieht es nun heute mit dem Psalmensingen und -beten aus? Aufgrund einer Umfrage, die zum Jahresthema unserer Bruderschaft „Das Beten der Brüder” stattfand, habe ich 25 Antworten auch zu der Frage vor mir, was die Psalmen dem einzelnen bedeuten. Nur ein einziger schreibt, daß er keine Erfahrungen mit dem (wohl persönlichen) Psalmenbeten hat. Ein über 60jähriger Bruder - kein Theologe - sagt: „Zum Psalmengebet macht man oder habe ich erstaunliche Erfahrungen gemacht. Ich bete sie seit 20 Jahren. Sie werden mir immer wertvoller. Immer wieder werden mir neue oder andere Verse oder ganze Psalmen bedeutsam. Je länger ich sie bete.” Und ein anderer, der mehr als 30 Jahre jünger ist: „Charles de Foucauld schreibt in einem seiner Briefe an Madame de Bondy, daß er das Brevier laut bete, um auch leiblich vom Beten erfaßt zu werden. Auch beim Beten eines einzelnen, was ja trotzdem kein privates, ein des Gemeinschaftsbezugs und der Gemeinschaft beraubtes Gebet sein kann, ist das laute und damit wenigstens zum Teil auch verleiblichte Beten eine große Hilfe, nicht zuletzt um der Konzentration willen. Nach dem Grundsatz, daß wer gut singt, doppelt betet, verfahre ich häufig, wenn die äußeren Umstande es mir erlauben. Eine unschätzbar wertvolle Schule des liturgischen Singens ist der gregorianische Choral für mich geworden, seit ich vor über 5 Jahren die Gelegenheit hatte, ca. sechs Monate in einem Benediktinerkloster am liturgischen Leben teilzunehmen und gregorianisches Singen praktisch zu erlernen.”

LeerTrotz grundsätzlicher Bejahung des gemeinschaftlichen Psalmengebetes und wertvoller Erfahrungen der einzelnen in ihrem persönlichen Gebet geht jedoch aus den Antworten ein weitverbreitetes Unbehagen über die Praxis des gemeinschaftlichen Psalmengebetes hervor. So schreibt ein etwa 50jähriger: „Singen ist schön und sehr viel einprägsamer als sprechen, aber nur wenn es klappt und die jeweilige Gemeinde nicht ständig beim Beten (!) überfordert wird. Psalmodieren ist Sache einer Schola oder einer sehr geübten Gemeinschaft. Selbst die Benediktiner üben täglich (!) Gregorianik. Wir meinen oft, wir konnten das aus dem Handgelenk, und das ist eben nicht überzeugend und stößt - welch Wunder - bei Antiliturgikern bzw. bei Leuten ohne liturgische Erfahrung auf Ablehnung - sehr zu Recht! Eine Bitte und Anmerkung: Wenn sprechen, dann bitte im halbversweisen Wechsel.”

LeerUnd einer, der 30 Jahre älter Ist: „Ich bin für das Sprechen von Psalmen, da ich bei dem komplizierten Singen den Inhalt der Psalmen innerlich nicht aufnehmen kann.” - Kurz und bündig heißt es öfter: Besser gut gesprochen als schlecht gesungen!

Linie

LeerIn unserer Regel steht der Satz: „Die Bruderschaft bemüht sich um eine gemeinsame Form ihres täglichen Gebetes.” Das sollte auch für das Beten der Psalmen gelten! Im Jahre 1967 erschien das „Evangelische Tagzeitenbuch” mit Psalmtonmodellen und Antiphonen. Nur sechs Jahre später kam jedoch für den bruderschaftlichen Gebrauch ein „Kantionale” heraus, das sowohl in den Texten als auch in den Melodien viele kleine Änderungen bringt. Gerade diese kleinen Änderungen führen dazu, daß die Psalmen nach Wort und Ton den einzelnen nicht mehr in Fleisch und Blut übergehen. Wir sollten jetzt, vor einer Überarbeitung des „Evangelischen Tagzeitenbuches”, die kritischen Worte von Horst Schumann, die ich oben angeführt habe, noch einmal überdenken. Das heißt vor allem: Wenig erwarten von gedruckten neuen Ordnungen, alles erwarten von dem gemeinsamen Singen der Psalmen!

LeerEin Bruder fordert, daß man an Werktagen die Psalmen sprechen, an Festtagen sie aber sing en sollte. Dabei wird übersehen, daß das Singen der Psalmen an Festtagen nur gut geht, wenn es von allen Brüdern auch das Jahr hindurch geübt wird. Manchmal habe ich den Eindruck, daß über den vielen Versuchen und auch manchen Übungen im Singen der Psalmen vergessen wird, daß es tatsachlich um das Beten des Psalmes geht, das heißt also: um den innerlichen Mitvollzug. Wie dieser geschehen kann, darüber haben wir uns wenig Gedanken gemacht. Die „Psalmgebete” zeigen zwar durch die vorgenommenen Kürzungen, daß eine bestimmte Konzeption (die allerdings nicht durchgehalten werden kann) von den Verfassern vertreten wurde. Ein drastisches Beispiel: Der Psalm der 19. Woche nach Trinitatis ist von 72 auf 19 Verse gekürzt worden. Ich weiß nicht, inwieweit dies den einzelnen Brüdern bewußt ist, inwieweit darüber in Konventen gelegentlich gesprochen wird. Auf einem Konvent, wo dies geschah, drehte sich die Aussprache fast ausschließlich um die „Rachepsalmen”. Von ihnen heißt es in der Einführung zu den „Psalmgebeten” (Kassel 1959): „Die theologische Reflexion kann solchen blutrünstigen Versen durch allegorische Deutung einen einwandfreien christlichen Sinn unterlegen, so wie der schreckliche Vers Ps. 137,9 schon in der alten Kirche auf die bösen Gedanken gedeutet worden ist, die wir an dem Felsen Christus zerschlagen sollen. Wir sind in den Künsten solcher Umdeutungen nicht geübt und meinen, daß sie die geschichtliche Gestalt der Heiligen Schrift verdunkeln. Jedenfalls der einfältige Beter kann und will solche Verse nicht beten, die der Selbstgerechtigkeit und der Rachgier des natürlichen Menschen nur allzu viel Nahrung geben.” Das beste zur Frage, ob und wie der Christ die Psalmen - einschließlich der Rachepsalmen - beten kann, hat meiner Ansicht nach Dietrich Bonhoeffer in der kleinen Schrift „Das Gebetbuch der Bibel” (Neuhausen b. Stuttgart 1978) geschrieben.

LeerEine weitere Frage, die in erster Linie wieder die Praxis des gemeinsamen Sprechens oder Betens betrifft, ist diese: Kann oder soll man die Psalmen beten wie ein Fürbittengebet, bei dem jedes Wort bewußt ausgesprochen und bedacht wird, Oder sollen wir sie so beten, daß „der Akt des Betrachtens sich mit dem gesprochenen Wort” verbindet? Romano Guardini bezeichnet diesen Typus des Betens als den dritten, der zwischen dem kürzeren oder längeren Gebet und der Meditation liegt. Von diesem dritten Typus, der dem Rosenkranz entspricht, sagt er weiter: „In ihm verbindet sich der Akt des Betrachtens mit dem ausgesprochenen Wort. Dieses bildet einen Raum des Verweilens, Anschauens, inneren Umgehens mit der betrachteten Wahrheit.” (Das Jahr des Herrn, Mainz 1949)

Linie

LeerMan kann darüber streiten, ob man Psalmen so beten soll, aber von dieser Entscheidung hängt es zum Beispiel ab, ob ich im Stundengebet die Psalmen nicht nur spreche oder singe, oder ob ich sie beten kann. Davon hängt es auch ab, ob ich beim Sprechen Pausen nach Wortsinn und Satzzeichen mache, oder ob ich mich allein an die vorgegebenen Verse halte. Schließlich hängt mit der Frage, wie ich die Psalmen bete, auch die Entscheidung zusammen, wie viele Psalmen ich hintereinander beten kann. Das frühere „Stundengebet” hatte jeweils drei Psalmen vorgesehen, im Tagzeitenbuch wird von vornherein die Anzahl der Psalmen offen gelassen. Die protestantische oder vulgäre Kritik an einem zeitlich langen Gebet, sei es der Rosenkranz, seien es mehrere Psalmen, hat nicht im Blick, daß es sich dabei um meditatives Beten in dem von Guardini aufgezeigten Sinne handelt.

LeerManchmal kommt heute von einer ganz anderen „Ecke” mehr Verständnis für eine Praxis, die von vielen Christen als überholt angesehen wird. In seinem Buch „Vom Sinn des menschlichen Lebens” (Rombach/Freiburg 1971) hat Milan Machovec den Psalm 119, der 176 Verse zahlt, als Beispiel für den „inneren Dialog” angeführt, den der Mensch braucht, um Mensch zu sein. Der Tscheche Machovec ist kein Christ, er glaubt nicht an Gott, aber er hält es für wichtig, daß der Mensch sich Zeit nimmt, um etwa wie der Beter des Psalmes zu bedenken, „daß das Leben des Menschen ein ‚Weg’ ist, daß man im Leben gehen muß und daß es um etwas geht.” Er stellt fest, daß der Psalm aus Meditationen mit subtilen Varianten besteht. „Stereotypie mischt sich mit einer gewissen Variabilität: der Fluß der Verse bietet keine Lösung der angesprochenen Probleme, es wird kein Standpunkt festgelegt. Der in dieser Weise dargestellte Reflexionsprozeß findet keinen Abschluß, sein Sinn liegt in ihm selbst.” Es ist bemerkenswert, daß ein atheistischer Marxist - ein Außenseiter allerdings! - dies erkennt. Fragen wir nicht heute - wieder - viel zu viel nach dem Zweck? Machovec sagt weiter im Blick auf den 119. Psalm: „Der moderne Mensch, der gewohnt ist, ständig Neuem zu begegnen, immer neuen Reizen ausgesetzt zu sein, findet schließlich den Psalm langweilig - er schafft es kaum, ihn bis zu Ende zu lesen; die Abwechslungslosigkeit wirkt auf ihn einschläfernd. Für den modernen Menschen geht es hier in der Tat um nichts, sofern ‚Modernität’ sich in der Jagd nach Dingen ausdrückt: man will Dinge begreifen (Wissenschaft) und für den Menschen nutzbar machen (Praxis).”

LeerUnd er sagt schließlich: „Im Vergleich mit dem modernen Menschen ist der mittelalterliche, seinen Meditationen hingegebene Mönch, was den Einstieg in den inneren Dialog betrifft, eigentlich fortgeschrittener.”

Quatember 1981, S. 97-102

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-27
Haftungsausschluss
TOP