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Marburg 1981
von Paul Kramer

LeerGeleitet von den „dienstbaren Geistern”, fuhren die Michaelsbrüder am Tag des Erzengels Michael und aller Engel aus allen Gauen der deutschsprechenden Völker nach Marburg. So auch wir aus der Schweiz. Mit den drei Frauen, die sich anschlossen, zählten wir am folgenden Tag beim Frühstück zwölf Leute, ein volles Dutzend. Ein treuherziger, gutgeführter Gasthof in Caldern, ein paar Kilometer von der Stadt entfernt, nahm uns auf, beherbergte und verpflegte uns vorzüglich. In der romanischen Kirche des Dorfes hielten wir bereits am Abend das Nachtgebet. Sie empfing uns mit verdorrten Blumen. Aber das änderte sich bald. Am ersten Feiertag versammelten wir uns in diesem Raum zur Messe, zu den Horen und abends zur Beichte. Wir hörten die bekannten Lesungen, sangen die vertrauten Lieder, versuchten zu psalmodieren und in der Beichtfeier fröhlich zu werden. Das sollte uns auch gelingen. Die Atmosphäre wurde im Laufe unseres Beisammenseins zusehends brüderlicher, herzlicher.

LeerAm Tag der Rechenschaft legte uns Bruder Ehrat Rechenschaft und Weisung des Bruder Ältesten vor. Wir lasen sie abwechselnd und in Abschnitten. An der empfohlenen Treue, an den „einfachen Dingen”, an der klaren Weisung im „uferlosen Pluralismus”, am Auftrag unserer Bruderschaft blieben wir hängen. Die aufgeworfenen Fragen formulierte und faßte Bruder Ehrat folgendermaßen zusammen: Besteht nicht die Gefahr, daß die von den Vätern überkommenen Formen und Erkenntnisse uns binden und hindern, das uns Aufgetragene zu tun?

LeerWer ist durch mich zur Bruderschaft geführt worden? Und wem war ich ein Hindernis, den Weg zu ihr zu finden?

LeerWo ist Gemeinschaft lebendig? Sind wir ein gänzlich wohltemperierter Verein, kein Eros mehr? Wo doch an den Ursprüngen solch pulsierende Bewegungen wie jene der Wander- und Singvögel standen. Wenn wir sehen, wie heute in jungen Gemeinschaften die Menschen mit einer Zärtlichkeit aufeinander zugehen! (P. K. bemerkt: Eros und Zärtlichkeit - Erosionsgefahr!)

LeerHaben vielleicht andere viel entscheidender an der Kirche gebaut, sind wir in Geleisen festgefahren, mehr nur noch Wandanstreicher, nicht mehr Erbauer?

LeerNachmittags: Erquickende Wanderung über die schon etwas herbstlich getönten Marburger Berge. Der Blick schweifte über das Lahntal und seine Seitentäler zu den hochgelegenen Wäldern. „Luftkurort Caldern” steht auf der Ansichtskarte, die uns die Wirtin beim Abschied auf den Eßtisch legte.

LeerAnschließend konzentrierten wir uns auf zwei Texte aus dem Büchlein „Vom Aufgang der Sonne” (s. Quat. H. 3/1981, S. 181). Der Autor versuchte sie uns meditativ zu erschließen aus der Tiefe heraus, wo er die Dinge geschaut und reflektiert hat.

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LeerVoll Erwartung auf den zweiten Feiertag legten wir uns abends ins Bett. Dieser sollte nämlich die hergefahrenen Männer und Frauen in Marburg zusammenführen. Da standen wir auf einmal wieder vor der Kirche unserer Väter. Freundliche Gesichter, Händeschütteln, Umarmungen: Vor dreißig Jahren wurde ich an diesem Ort in die Probezeit aufgenommen. Wie wird sie den älter gewordenen, veränderten Bruder empfangen? „Diesmal, Tamino, macht mir das Wiedersehen heimlich bang . . .” Damals war für ihn alles neu, sehr feierlich, so ritterlich. Seine Frau stand vor der Pforte und wußte nicht: Läßt man mich hinein, oder muß ich draußen warten, bis der Gottesdienst vorüber ist? Auf einmal aber sei Vater Ritter erschienen, habe seinen Arm schützend um die kleine, schüchterne Frau gelegt und habe sie durch den langen Gang bis nach vorne geführt und ihr seitlich in der Loge einen Platz angewiesen. Nach der Feier habe sie Bruder Kühne mit den Worten getröstet: Wir nehmen Ihnen Ihren Mann nicht weg, wir geben Ihnen viele Brüder.

LeerIn der vollen Kirche begann nun die Messe zum Tag des Erzengels und aller Engel mit Orgel und Introitus: „Der Herr hat seinen Thron im Himmel errichtet. Seine Königsmacht gebietet über das All.” Mir bis dahin unbekannte, rhythmische Gesänge brachten Bewegung und aktivierten die Anwesenden zu konzentrierter Mitarbeit. Selber sang ich nicht mit. Ich höre immer zu, wenn mir etwas neu ist. Angenehm überraschte mich die Verbindung von Bläsern und Guitarre. Manchmal wurde ich etwas unruhig. Offenbar war meine Empfindungskraft etwas überfordert. Beglückt horchte ich auf bei den Klängen zum Opfergesang: „Aus der Hand des Engels steigt Weihrauch empor für die Gebete aller Heiligen vor Gott.” Den Text verstand ich kaum; aber der liebliche Gesang entzückte mich.

LeerEs war gut, daß an diesem Tag des Jubilierens das Meßformular von K. B. Ritter ungekürzt und unverändert gebraucht wurde. Nach so vielen Abänderungsversuchen vermochte ich wieder neu hinzuhören und war dankbar dafür.

LeerEntsetzt freilich war ich bei der ersten Lesung aus dem Alten Testament (2. Mose 20). Was für ein furchtbarer Jehovagott, der da zu uns redete! Mich schauderte. Die Sprache der zweiten Lesung vom Kampf Michaels und seiner Engel wider den Satanas und seine Engel verstand ich schon wieder besser, sowie die entsprechende Stelle aus dem Evangelium nach Lukas: „Ich sah wohl den Satanas fallen aus dem Himmel wie einen Blitz ... Freuet euch, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind” (10, 17 -20).

LeerDie „klassische” Festpredigt machte mir dann wieder Mühe. Sie war für meinen Geschmack zu festrednerisch, doch das ist nicht dem Prediger vorzuwerfen. Er war ja von uns darum gebeten worden.

Leer„Alles Leben dürstet nach Beseelung”, schreibt Hermann Hesse im bereits angeführten Gedicht „Mit der Eintrittskarte zur Zauberflöte”. Ich darf nicht bekennen, daß der Gottesdienst mich beseelt hätte. Wohl aber wurde ich dadurch, daß ich mich gehorsam einfügte in die Ordnung unserer Bruderschaft, reichlich belohnt. Nach der „Fütterung der Raubtiere” im Bürgerhaus gings hastig zur Stadthalle, wo wir Gelegenheit hatten, einander zu begegnen. Leider war ich zu wenig darauf vorbereitet. Mit so vielen Brüdern hätte ich so viel zu reden gehabt. Gings Euch andern auch so?

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LeerIn den langen Begrüßungsansprachen, die nun folgten, erschöpften sich meine Kräfte spürbar. Ich vermißte das herzliche, persönliche Wort, die Mitfreude, ich vermißte Ermahnung und Ermutigung. Allein der Hinweis des Bürgermeister-Professors auf die „Ratio” belebte mich. Ich finde auch, die Aufklärung sei etwas Schönes und Nützliches, ein gutes Heilmittel gegen alles Dunkle und Verschwommene. Eine Frage: Hätten wir, bei einer etwas anderen Organisation des Treffens, nicht etwas fröhlicher und unmittelbarer sein können? Wie, wenn aus der Fülle der Talente all der Brüder einige aufgedeckt worden wären: Ein Grußwort, eine Erinnerung, ein Gedicht, ein hübscher Witz, etwas Musikalisches, etwas Tröstliches und auch Kritisches? Die zu Hause sind in der Bruderschaft, lebten auf, als ein Bruder aus der DDR uns einen neuen Kanon beibrachte: „Gott ist groß, in seinem Schoß ruhen wir.”

LeerIch notierte mir schnell die Noten, damit ich ihn andern weitergeben kann.

LeerDann endlich, mit großer Verspätung, kam Abt Laurentius Klein zu seinem Festvortrag über „Brüderliches Beten”. Hier ein paar Sätze, die ich aufschrieb: „In der Hierarchie der Werte und Wahrheiten behält das Gebet den Primat. - Wir brauchen die Einheit nicht in der Zukunft zu suchen. Wo gebetet wird, da ist Einheit. - Die Spaltung ist nicht bis in die Wurzel gedrungen. Wir beten miteinander, haben die gleichen Lieder, leben in der Gemeinschaft der Hörenden. - Gebet ist die Artikulierung der intimsten Gefühle und Gedanken vor Gott. - Ohne Gotteslob und Bekennen würde unser Gebet verarmen. - Oekumenische Bewegung und liturgische Bewegung sind Geschwister. - Gebet verändert die Wirklichkeit, die Sachbezüge und die Personalbezüge. - Alle Umkehr vollzieht sich im Gebet. - Im Prinzip und in den Wurzeln sind wir geeint, Wir können heute nur noch von Konfliktresten reden.”

Leer(obwohl der Vortrag in diesem Heft abgedruckt ist, habe ich die Sätze hier nicht gestrichen. Sie machen deutlich, was ein Bruder, und mancher sicher mit ihm, gehört und mitgenommen hat. - Die Redaktion)

LeerHierauf begaben wir uns zu Fuß auf den Weg zur Elisabethkirche. Wieder erwachen selige Erinnerungen an die Zeit vor dreißig Jahren Hier sollte mich die Krönung der erlebnisreichen Tage meines ersten Michaelsfestes erwarten. Noch höre ich die Lesung, damals von der mächtigen Stimme eines Kantors vorgetragen. Nun: auch diesmal empfing mich wieder die betende Kirche, umfingen mich Brüder. Im dunklen Gotteshaus erstrahlten die Lichter. Wieder ertönte das starke Lied: „0 König Jesu Christe”. Und wieder die mir so lieb gewordenen Antiphonen:

Leer„Im Angesichte deiner Engel will ich dir lobsingen, mein Gott.” - „Der Herr hat seinen Engeln über dir befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen.” - „Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar.”

LeerLassen wir noch einmal den Dichter zu uns reden:
„So viele Male in so vielen Jahren /
Hab ich auf dieses Spiel mich tief gefreut /
Und jedesmal das Wunder neu erfahren /
Und das Gelübde still in mir erneut, /
Das mich als Glied in eure Kette bindet, /
Morgenlandfahrer im uralten Bund, /
Der nirgend Heimat hat im Erdenrund, /
Doch immer neu geheime Freunde findet.”
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LeerEs hätte in dieser Feier keiner Ansprache bedurft, doch auch dies ist kein Wort gegen den Redner, der ja ebenfalls von uns gebeten worden war, Die paar Erinnerungen aus der Vita der heiligen Elisabeth hätten vollkommen genügt. Sie erzählten vom unaussprechlichen, überschwänglichen Mysterium des Glaubens und der Liebe, vom Geheimnis der Gnade. Die tiefe Andacht einer solchen Abschiedsstunde vertrug wenig Worte mehr, sie war empfindlich für jede Störung. So hätte ich mir das Singen vom höheren Chor herab etwas hingegebener und weniger auffällig gewünscht.

LeerMit den sehnsuchtsvollen Liedern einer bedrängten und bedrohten Menschheit setzte sich der Lichterzug, von Kindern angeführt, in Gang. „Brüder, wir sind umgeben von Licht. Der Engel des Herrn geleite euch, einen jeden an seinen Ort.” Wissen wir auch, was uns mil dieser Entlassungsfeier geschenkt ist? Im Gasthof Waldheim in Caldern spät abends angekommen, erwartete uns ein schmackhaftes Abendbrot. Bald kam auch hier etwas in Bewegung. Bei festlichem Trunk, in notwendiger Ergänzung und Entspannung zu allem überheiligen und kirchensüchtigen Wesen, wurde gesungen und gelacht, wie wir's in der Schweiz gelegentlich auch noch zustandebringen. Mit „Ihr Brüder wißt, was uns vereint” gaben wir einander die Hand und gingen zu Bett, um anderntags zurückzufahren in die Stadt, wo wir mit anderen Konventen zusammen in der Universitätskirche uns vereinigten zur Bruderschaftsmesse. Diese Feier war stiller, intimer, meditativer. Bruder Pfalzgraf aus dem Elsaß wurde aufgenommen „Nimm hin das Zeichen des Kreuzes, zur Erinnerung, zur Mahnung, zur Stärkung.”

LeerEs war gut, daß unser Konvent nicht versuchte, den dritten Festtag selber zu gestalten. Der Rat unseres Ältesten, sich einem andern Konvent anzuschließen, verhalf uns zu einem schönen Ausklang. Jeder ging hernach auf eigenen Wegen, der eine hinauf zum Schloß, der andere noch einmal in die Elisabethkirche. Mich zog's zur Burg, wobei ich mir unterwegs die Pfarrkirche anschaute und in ihr einen aufgelegten Prospekt fand mit der Beschreibung des der Maria geweihten Gotteshauses, mit den Buchstaben Chr. Z. unterzeichnet. Aus der Sprache schloß ich auf einen uns allen bekannten Bruder. Der Rittersaal, die monumentale Schlichtheit der hochgotischen Architektur und die feingliedrige, farbige Schloßkapelle betrachtete ich lang, während mich in der Reformatorenstube peinliche Erinnerungen an das Jahr 1529 bedrückten. Peinlich im buchstäblichen Sinn. Denn pein-lich ist alle Theologie. Ob nicht schon die damals versammelten Theologen sich der Grenze ihres theologischen Denkens und Formulierens schmerzhaft bewußt geworden sind? Hat der junge Landgraf die Sprache dieser Dokumente verstanden?

LeerVerstehen wir sie?

LeerWas bleibt in mir zurück von diesem 50. Geburtstag unserer Bruderschaft? - Ich versuchte es in diesem gewiß mangelhaften Bericht zu sagen. Für alle, die dabei waren und die nicht kommen konnten, wollte ich die gefüllten Tage noch einmal erleben und festhalten.

LeerEs war ein grauer, regnerischer Nachmittag, als wir uns nach dem gemeinsamen Mittagessen auf den Weg nach Hause machten, die einen mit dem Wagen, die andern mit dem Zug. Aber der warme, rötliche Sandstein der alten Kirchen Marburgs hatte mein Herz warm gemacht. Ob sich in seinen Mauern doch eine innigere, menschlichere Frömmigkeit birgt, als in den sandgrauen Kirchen Berns? Wir sind den Gletschern und ihren Ablagerungen doch etwas näher.

LeerIch danke im Namen meiner Schweizer Brüder herzlich allen, die so viel an der Vorbereitung dieses Festes gearbeitet und uns ein so denkwürdiges Marburg 1981 ermöglicht haben.

Quatember 1982, S. 45-48

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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