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Die Osterikone der Ostkirche
von Ludolf Müller

LeerWenn die frommen Maler der westlichen Kirchen das Ostergeschehen bildlich darstellten wollten, so wählten sie vor allem den Augenblick, da Christus als Sieger aus dem Grabe aufsteigt -jenen Augenblick, den Paul Gerhardt dichterisch gestaltet hat mit den Worten:
„Er war ins Grab gesenket,
der Feind trieb groß Geschrei;
eh er's vermeint und denket,
ist Christus wieder frei
und ruft Viktoria,
schwingt fröhlich hier und da
sein Fähnlein als ein Held,
der Feld und Mut behält.”
LeerDie Bildkunst der Ostkirche hat es bis ins 17. Jahrhundert bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie stark unter westlichen Einfluß geriet, vermieden, diese Szene zu malen. Sie wird uns in den Evangelien nicht beschrieben, kein menschliches Auge hat sie gesehen, und so tastet auch der Maler dieses größte Geheimnis der Heilsgeschichte nicht an, ebensowenig wie er sich vermißt, den ewigen, unsichtbaren Gott mit Linien zu umschreiben und mit Farben zu malen.

LeerZwei andere Szenen sind es, die auf den Osterikonen der Ostkirche dargestellt werden: die der „Höllenfahrt” oder, wie man besser sagen sollte, der „Hadesfahrt” Christi und die der Frauen am Grabe, der „myrontragenden Frauen”, wie man in der Ostkirche sagt; die eine dieser Szenen spielt kurz vor dem Augenblick der Auferstehung, die andere kurz danach. Da der myrontragenden Frauen aber am zweiten Sonntag nach Ostern in besonderer Weise gedacht wird, ist die Darstellung der Hadesfahrt Christi zur eigentlichen Osterikone der Ostkirche geworden. So lautet die Überschrift dieser Ikone denn auch „Hadesfahrt” oder „Abstieg unseres Herren Jesus Christus in den Hades”, meist aber „Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus”. Dargestellt wird auf dieser Ikone das Geschehen, das im Apostolischen Glaubensbekenntnis umschrieben wird mit den Worten: „hinabgestiegen in das Reich des Todes”. Während nach dem Tod Christi sein Leib im Grabe liegt, steigt seine Seele hinab in das Reich des Todes, das von den Griechen „Hades” genannt wurde. Hier befreit er Adam und Eva als die Repräsentanten des ganzen Menschengeschlechtes aus ihren Gräbern. Die Frommen des Alten Bundes, vor allem David und Salomo und Johannes der Täufer, schauen dem Geschehen in tiefer Anteilnahme zu.

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LeerIm Neuen Testament findet sich diese Erzählung nicht in ausgeführter Form, aber im 1. Petrusbrief (3,18) wird von Christus doch gesagt: „In demselben (d. h. im Geist) ist er auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Gefängnis”; und in der Offenbarung des Johannes (1,18) sagt der erhöhte Christus von sich selbst, er habe die Schlüssel der Hölle und des Todes.

LeerAus diesen Andeutungen und Bildern hat sich früh eine Geschichte entwickelt, die den „Descensus ad inferos”, den „Abstieg zur Unterwelt”, in den Hades, in lebendiger, eindrucksvoller Weise schildert. Die Erzählung findet sich bei Edgar Hennecke, in den „Neutestamentlichen Apokryphen in deutscher Übersetzung” (Anm. 1).

LeerIn die Dunkelheit des Hades dringt um die Stunde der Mitternacht so etwas wie Sonnenlicht. Die dort weilenden Toten werden von Freude und Hoffnung erfüllt, Johannes der Täufer tritt hervor und verkündet, was er von Christus weiß.

LeerNur Satan und Hades sind entsetzt; der Hades will Christus nicht in sein Herrschaftsgebiet hereinlassen, da er fürchtet, ihn nicht halten zu können und mit ihm auch die anderen Bewohner des Totenreiches hergeben zu müssen. Da tönt eine gewaltige Stimme: „Öffnet, ihr Herrscher, eure Tore, geht auf, ewige Pforten! Einziehen wird der König der Herrlichkeit” (Ps. 24,7). Und schon werden die ehernen Tore zerschlagen, und Christus bricht strahlend herein in das Dunkel der Unterwelt. Er streckt seine rechte Hand aus, ergreift den Urvater Adam, richtet ihn auf und geht mit ihm und mit allen, die durch Adams Schuld sterben mußten, aus dem Hades hinaus in das Paradies. Hier kommen ihnen zwei Greise entgegen: Henoch und Elias, die den Tod nicht gesehen haben und lebendigen Leibes in das Paradies eingegangen sind. (Vgl. 1. Mose 5,24; 2. Kön. 2,11.) Zu ihnen tritt jetzt ein dritter Mann hinzu: Es ist der Schächer, der, am Kreuze hängend, von Christus die Verheißung empfing: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein” (Luk. 23,43).

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LeerDiese apokryphe Erzählung des Nikodemus-Evangeliums braucht den lkonenmalern nicht in der uns vorliegenden Form bekannt gewesen zu sein. Ihre Grundzüge sind ein so fester Bestandteil der liturgischen Gesänge der Ostkirche, besonders der Gesänge des Karsamstags, geworden, daß sie von hier her jedem frommen Orthodoxen geläufig waren. Es mag hier offen bleiben, ob das Nikodemus-Evangelium die Quelle der entsprechenden Textstellen in den liturgischen Gesängen war oder ob umgekehrt sich die Legende von der Hadesfahrt aus liturgischen Gesängen gebildet oder zumindest angereichert hat. 5o heißt es etwa im Abendgottesdienst des Karsamstags:
„Heute ruft der Hades stöhnend:
'Besser wäre es für mich gewesen,
hätte ich nicht empfangen
den von Maria Geborenen;
denn da er über mich kam,
hat er meine Herrschaft aufgelöst;
die ehernen Pforten hat er zerbrochen;
die Seelen, die ich zuvor gefangen hielt,
hat er, da er Gott ist, auferweckt.'
Ehre sei, Herr, deinem Kreuze
Und deiner Auferstehung.

Heute ruft der Hades stöhnend:
'Aufgelöst ist meine Macht,
aufgenommen habe ich einen Sterblichen,
wie einen von denen, die gestorben sind. (Anm. 2)
Aber nimmer vermag ich,
diesen festzuhalten;
vielmehr werde ich mit diesem auch jene verlieren,
über die ich zuvor geherrscht;
ich besaß, die gestorben waren vom Beginn der Welt an,
aber dieser - siehe: alle erweckt er.'
Ehre sei, Herr, deinem Kreuze
Und deiner Auferstehung.

Heute ruft der Hades stöhnend:
'Verschlungen ist meine Herrschaft,
der Hirt wurde gekreuzigt,
und den Adam hat er auferweckt;
beraubt bin ich derer,
über die ich herrschte,
und die ich, sie überwältigend, verschlungen hatte,
habe ich alle ausgespien;
leer gemacht hat die Gräber der Gekreuzigte,
nichts vermag mehr die Herrschaft des Todes.'
Ehre sei, Herr, deinem Kreuze
Und deiner Auferstehung.”
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Hadesfahrt NowgorodWie gestaltet der Maler unserer Ikone, die im 15. Jahrhundert in Nowgorod (am Ilmensee) entstanden ist und sich auch heute dort (im Staatlichen Kunsthistorischen Museum) befindet, dieses Geschehen und wie verdeutlicht er dessen theologischen Gehalt (Anm. 3)? Die beherrschende Mitte der lkone ist die Gestalt Christi oder, in noch engerem Sinne, das Kreuz, das Christus in seiner linken Hand hält. Er selbst ist gehüllt in ein strahlend weißes Gewand. Es ist das gleiche Gewand, in dem er auf den Ikonen der Verklärung gezeigt wird; denn in gleicher Weise wie dort den drei Jüngern erscheint er hier den Toten im Hades in seiner göttlichen Majestät: „Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht” (Matth. 17,2).

LeerAußer dem weißen Gewand ist der Kreuznimbus (der Heiligenschein mit dem darin eingezeichneten Kreuz) Zeichen seiner göttlichen Würde. In die drei Kreuzarme dieses Nimbus sind die drei griechischen Buchstaben „ο ων” eingezeichnet, das heißt: „der Seiende”. Es ist die griechische Übersetzung des Namens des Gottes Israels, des Namens Jahwe, den Gott selbst nach 2. Mose 3,14 dem Mose am Sinai als seinen Eigennamen offenbart hat und den der Verfasser der Offenbarung des Johannes in erweiterter Form zum Würdenamen Christi macht, wenn er ihn sagen läßt: „Ich bin das Alpha und das Omega, der da ist (ο ων) und der da war und der da kommt, der Allherrscher” (Offb. 1,8).

LeerDie ganze Gestalt Christi ist umgeben von einer kreisförmigen „Aureole”, einem Strahlenkranz, der außen hell ist und nach der Mitte zu immer dunkler wird. Ebenso wie das weiße Gewand, so zeigt auch die Aureole an, daß auf dieser Ikone Christus in einem solchen Augenblick der Heilsgeschichte gezeigt wird, in dem seine göttliche Majestät nicht verhüllt ist, wie etwa bei der Geburt in der Höhle oder bei der Kreuzigung, sondern offenkundig, wie bei der Verklärung oder der Himmelfahrt. Die Aureole ist Symbol der göttlichen Welt, der Fülle der Gottheit. Daß sie nach dem Mittelpunkt zu immer dunkler wird, entspricht der Lehre der Ostkirche, nach der die Lichtherrlichkeit der Gottheit dem menschlichen Auge als tiefe Finsternis erscheint. (Anm. 4)

LeerVon der Mitte der Aureole, die gleichzeitig die Mitte des Leibes Christi ist, gehen Strahlen in alle Richtungen. Sie zeigen, daß die Gottheit nicht in sich selbst verharrt in seliger Selbstgenügsamkeit, sondern daß sie, die Sonne des Seins, wie unsere irdische Sonne ihre wärmenden und lebenschaffenden Strahlen in alle Welt aussendet.

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LeerDer Rückenteil des Gewandes Christi flattert nach oben. Dadurch wird die rasche, stürmische Bewegung angedeutet, mit der Christus herabgefahren ist in die Tiefe des Reiches des Todes. Das entspricht den Vorstellungen des antiken und des mittelalterlichen Menschen von der räumlichen Anordnung in Himmel, Erde und Unterwelt; es zeigt aber gleichzeitig im theologischen Sinn, daß das Hinabsteigen in die Nacht des Todes die tiefste Stufe der Erniedrigung dessen ist, der als das Licht und das Leben gepriesen wird.
„Der du das Leben bist, o Christus,
du wurdest niedergelegt im Grabe;
und die Heerscharen der Engel erschraken,
dein Mit-Herabsteigen rühmend” (Anm. 5).
LeerIn seiner linken Hand trägt Christus das Kreuz. Das Werkzeug der Marter, das Zeichen der Erniedrigung ist jetzt zum Siegeszeichen geworden. Es ist die geometrische Achse des Bildes, wie es die Achse der Heilsgeschichte ist.

LeerAuf manchen anderen Darstellungen der gleichen Szenen trägt Christus in der linken Hand eine Schriftrolle. Sie soll hinweisen auf Christus als das Wort des Vaters (Joh. 1), in besonderer Weise vielleicht auch darauf, daß Christus nach 1. Petr. 3, 19 den „Toten im Gefängnis gepredigt” hat.

LeerChristus tritt auf zwei gekreuzt liegende Bretter; dies sind die „Pforten der Unterwelt”, die Christus bei seinem Einzug zerstört hat:
„Als zum Heile der ganzen Welt
niedergelegt wurde in dem leeren Grabe
der Erlöser der ganzen Welt,
da erschrak der Hades,
ganz zum Spott geworden,
da er dich sah;
die Riegel zerbrochen,
die Türflügel wurden zermalmt;
die Gräber öffneten sich,
die Toten standen auf.
Da rief Adam dir zu,
sich freuend in Dankbarkeit:
Ruhm sei deinem Mit-Herabsteigen,
du Menschenliebender” (Anm. 6).
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LeerDieser Text nennt in den letzten Versen die nach Christus wichtigste Gestalt auf dieser Ikone: Adam. Auf manchen Darstellungen unserer Szene ist diese aufs äußerste reduziert, aber niemals fehlt Adam. Die Gestalt Christi ruht nicht in sich selbst, wie auf den Verklärungsikonen, sondern sie tritt in starker Bewegung auf Adam zu: Ihm schreitet Christus entgegen auf den zerbrochenen Türflügeln; zu ihm neigt er sein gütiges Antlitz herab, ihm streckt er den rechten Arm entgegen, und die Bewegung dieses weißumhüllten rechten Armes Christi ist gleichzeitig Fortsetzung und Gegengewicht zu dem aufwärtswehenden Rückenteil des Gewandes Christi. Wie das Kreuz die vertikale Achse der Ikone ist, so die Bewegung, die von der rechten Hand Christi zur flatternden Spitze des Gewandes geht, die Diagonale, die Linie, in der Adam durch Christus herausgerissen wird aus dem Reich des Todes. Auf unserer Ikone kniet Adam auf der Erde; häufig wird er dargestellt, wie er aus einem Grabmal heraufsteigt, ebenso Eva. So hieß es ja auch in dem eben zitierten Lied: „Die Gräber öffneten sich”, und so heißt es in dem eigentlichen Osterlied der Ostkirche:
„Christus ist erstanden aus den Toten.
Durch den Tod hat er den Tod niedergetreten,
und denen, die in den Gräbern waren,
hat er das Leben geschenkt.”
LeerAus dem Vergleich von Bild und Lied wird deutlich, daß Adam hier nicht nur die konkrete Gestalt des „Ersterschaffenen” darstellt, daß er nicht nur als Individuum gemeint ist, sondern, wie es der Name Adam = „Mensch” ja auch sagt, daß er und Eva zusammen die gesamte, dem Tode verfallene Menschheit symbolisieren. So läßt die liturgische Dichtung den im Grabe liegenden Christus zu seiner weinenden Mutter sagen:
„Jubeln soll die Schöpfung,
frohlocken sollen alle Erdgeborenen,
denn der Feind, Hades, ist seiner Rüstung beraubt;
Frauen sollen mir mit Myron begegnen;
Adam und Eva erlöse ich mit ihrem ganzen Geschlecht
und am dritten Tage werde ich auferstehen” (Anm. 7).
LeerDie Beziehung zwischen Adam und Christus ist nicht einseitig. Adam bleibt nicht passiv in der Begegnung mit Christus. Er reicht ihm den linken Arm dar, an dem Christus ihn dann aus dem Grabe herauszieht, und erhebt den rechten Arm in anbetender Huldigung. Ebenso Eva: sie hat ihre Hände verhüllt, ein Zeichen der Ehrfurcht; ähnlich verhüllen auf der Ikone der Taufe Christi die Engel, die am Ufer des Jordan stehen, ihre Hände.

LeerDie Gruppe, die aus Christus und Adam und Eva besteht, ist theologisch und kompositorisch die Mitte der Ikone. Sie ist angeordnet in der Form eines Dreieckes, dessen untere Seite die Linie bildet, die von dem unteren Gewandende Adams über die Füße Christi zum unteren Gewandende Evas hinüberführt; die Schenkel des Dreiecks bilden die Rückenlinien Adams und Evas, den Scheitelpunkt die Spitze des Kreuzes Christi , und dies Kreuz selbst ist die Höhenlinie, die das beinah gleichschenklige Dreieck teilt. Dieses große Dreieck mit dem dahinter liegenden Kreis und mit dem Kreuz, das die Mitte von Kreis und Dreieck zugleich ist, weist auf das Geheimnis der trinitarischen Gottheit, deren innerstes Wesen sich im Kreuzestod des ewigen Sohnes offenbart.

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LeerDer Raum neben, unter und über dieser zentralen Gruppe ist gefüllt von Darstellungen, die die Aussage der Bildmitte verstärken und ergänzen. Im Gegensatz zu der lichten Helle, die durch Christus in den Aufenthaltsort Adams und Evas gekommen ist, steht die dunkle Schwärze des tieferen Abgrundes. Auf unserer Ikone ist sie nur mit allerlei Zubehör von Tür und Türschloß erfüllt, das bei der Zerstörung der Pforten des Hades abgerissen ist und jetzt überflüssig und ungeordnet herumliegt. Häufig wird auf den Ikonen der Hadesfahrt das dunkle Reich des Todes, das vom Licht Christi nicht erreicht wird, mit lebhafter Phantasie ausgemalt. Da kann man etwa sehen, wie nun der Satan gebunden und wie er dem Hades gleichsam als Ersatz für die vielen Seelen, die er loslassen mußte, übergeben wird oder wie die Engel die Dämonen bekämpfen und bestrafen, die dort unten weiterhin ihr Wesen treiben. Die Zurückhaltung, die der Maler unserer Ikone in dieser Hinsicht übt, ist besonders eindrucksvoll und liebenswert: Der dunkle Abgrund hat kein eigenes Interesse, er dient nur dazu, den Glanz umso deutlicher zu machen, den Christus in den Hades gebracht hat.

LeerRechts und links von Christus, oberhalb der knienden Voreltern Adam und Eva, befinden sich zwei Gruppen stehender männlicher Personen.

LeerWährend Christus, Adam und Eva von starker Bewegung erfüllt sind, stehen diese beiden Gruppen in gemessener Ruhe, aber doch voll gespannter Aufmerksamkeit. Die (vom Betrachter aus gesehen) linke Gruppe ist stärker als die rechte auf Christus als die Mitte des Bildes bezogen, vor allem durch die Bewegung der fünf Hände, die auf Christus hinweisen, während von der rechten Gruppe höchstens die linke Hand der vorderen Figur auf Christus zu weisen scheint (in Wirklichkeit stützt sie nur das Buch oder die Tafel, die diese Figur in der rechten Hand hält). Auffällig unterschieden sind die beiden Gruppen auch dadurch, daß die Figuren der linken Gruppe Heiligenscheine haben, die der rechten nicht.

LeerWenden wir uns zunächst der linken Gruppe zu. Die beiden Gestalten der unteren Reihe sind durch ihre Kronen als Könige gekennzeichnet; ohne Zweifel handelt es sich um David, der durch seinen Bart als der Ältere, und Salomo, der durch seine Bartlosigkeit als der Jüngere gekennzeichnet ist. Offenbar wendet Salomo sich fragend an David, und dieser erklärt ihm die Bedeutung des Geschehens. Schon im Nikodemus-Evangelium wird die Rolle Davids bei der Hadesfahrt Christi hervorgehoben. Mit Worten aus dem 24. Psalm, einem Psalm Davids, wird die Ankunft Christi im Hades angekündigt: „Öffnet, ihr Herrscher, eure Tore, geht auf, ewige Pforten! Einziehen wird der König der Herrlichkeit.” Und David selbst sagt daraufhin zum Hades: „Weißt du nicht, du Blinder, daß ich, als ich noch in der Welt lebte, diesen Ruf vorausgesagt habe?” Wo David ist, darf Salomo nicht fehlen. Die beiden gelten ja auch nicht nur als Propheten des Kommens Christi, sondern sie sind gleichzeitig seine Vorfahren, und sie sind als die größten Könige Israels das Vorbild des Königtums Christi.

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LeerÜber Salomo steht Johannes der Täufer, kenntlich an seinen (meist ungekämmten) Haaren. Johannes der Täufer oder, wie er in der Ostkirche meist genannt wird, der „Vorläufer”, er, von dem Jesus sagt: „Er ist mehr als ein Prophet” und: „Er ist der größte unter allen, die vom Weibe geboren sind” (Matth. 11,9 ff.), er wird uns in jeder orthodoxen Kirche in der Mitte der Ikonostase (Bilderwand) mit Maria zusammen als der große Fürbitter vor dem Throne Christi dargestellt. Und so steht er auch hier in seiner unmittelbaren Nähe und fehlt fast nie auf den Ikonen der Hadesfahrt Christi. Auch im Nikodemusevangelium tritt er in dem Augenblick, als das Licht im Hades aufstrahlt, als der Zeuge dessen auf, der nun kommen wird. So heißt es: „Da trat in die Mitte ein anderer, ein Asket aus der Wüste. Die Patriarchen fragten ihn: Wer bist du? Er antwortete: Ich bin Johannes, der letzte der Propheten. Ich habe die Wege des Gottessohnes geebnet und dem Volke Buße gepredigt zur Vergebung der Sünden. Und Gottes Sohn kam zu mir. Als ich ihn von ferne sah, sprach ich zum Volke: 'Seht, Gottes Lamm, das die Sünden der Welt hinwegnimmt.' Und mit meiner Hand taufte ich ihn im Jordan und sah den heiligen Geist wie eine Taube auf ihn herabkommen und hörte auch die Stimme Gottvaters, der so sprach: 'Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.' Und deshalb sandte er mich zu euch, damit ich verkünde, daß der eingeborene Sohn Gottes hierhin kommt, damit, wer an ihn glaubt, gerettet, wer aber nicht an ihn glaubt, gerichtet werde” (Anm. 8). Unsere Ikone zeigt Johannes nun nicht mehr in dem Augenblick, da er den Bewohnern des Hades die Ankunft Christi im voraus verkündigt; sondern da dieser bereits erschienen ist, wendet er sich ihm zu mit einem Blick, der Liebe, Ehrfurcht und Vertrauen ausdrückt, und mit einer Handbewegung, die Hindeutung und Anbetung verbindet. Auf anderen Ikonen der Hadesfahrt (Anm. 9) ist die Gestalt des Täufers noch stärker der Art angenähert, wie er auf der „Deesis” dargestellt ist: Er ist stärker gebeugt und hat beide Hände fürbittend zu Christus hin ausgestreckt; aus dem Propheten und Bußprediger ist der Fürbitter geworden.

LeerLinks von Johannes steht ein junger, bartloser Mann, der auf dem dichten Haar eine kleine rote Kappe mit weißem Haar trägt. Von anderen Ikonen des gleichen Typs, auf denen die einzelnen Gestalten durch Beischriften gekennzeichnet sind, wissen wir, daß dies der Prophet Daniel ist. Warum wird er hier dargestellt? Im Nikodemus-Evangelium wird er im Zusammenhang der Erzählung von der Hadesfahrt nicht erwähnt. Aber im Abendgottesdienst des Karsamstags, dem Gottesdienst, in dem in besonderer Weise der Hadesfahrt Christi gedacht wird, nimmt der Prophet Daniel eine bedeutende Stelle ein. Nachdem zunächst die Schöpfungsgeschichte aus dem 1. Kapitel der Bibel, dann das Buch des Propheten Jona verlesen ist, folgt eine lange Lesung aus dem Propheten Daniel: zunächst Dan. 3,1 - 23, die Geschichte von den drei Männern im Feuerofen, danach (aus den Zusätzen zum Buch Daniel, die nicht in der hebräischen Bibel, sondern nur in der „Septuaginta”, der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes und in der Luther-Bibel unter den sogenannten „Apokryphen” enthalten sind) das Gebet Asarjas und der Gesang der drei Männer im Feuerofen.

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LeerEinerseits wird durch diese Erzählung von den Männern, die in der Höllenglut des Feuerofens nicht aufhören, an Gott zu glauben und ihn zu preisen, der Sieg Christi über Tod und Hölle vorgebildet, andererseits kann man in den Worten des Lobgesanges „Ihr Geister und Seelen der Gerechten, lobet den Herrn, preiset und rühmet ihn ewiglich” einen direkten Hinweis auf die Hadesfahrt Christi und die Erlösung der „Seelen der Gerechten” sehen. Gegenüber dieser aus David, Salomo, Daniel und Johannes dem Täufer bestehenden, durch Heiligenscheine ausgezeichneten Gruppe steht eine Gruppe von sechs männlichen Gestalten ohne Heiligenschein. Von Christus aus betrachtet stehen die Männer mit Heiligenschein und Adam zu seiner Rechten, die ohne Heiligenschein und Eva zu seiner Linken. Diese Anordnung der Gestalten ist ein Hinweis auf die Rangfolge: Die höher geehrten befinden sich auf den Ikonen gewöhnlich auf der rechten, die im Rang niedriger Stehenden auf der linken Seite der zentralen Gestalt.

LeerAngeführt wird diese Gruppe zur Linken durch einen Mann mit einem Buch oder einer Tafel in der Hand. Auf anderen Ikonen dieses Typus ist er durch Inschrift oder Attribut deutlicher als auf unserer Ikone als Moses gekennzeichnet (Anm. 10). Er, als der Vermittler des Gesetzes, „das hinzugekommen ist um der Sünden willen, bis der Nachkomme da sei, dem die Verheißung gilt” (Gal. 3,19), hat nicht eine so unmittelbare Verbindung zu Christus wie die Vorfahren und Propheten Christi und sein Vorläufer auf der anderen Seite, aber doch weist auch das Gesetz des Moses, wenn man es nur recht versteht, auf Christus hin. Um dieses rechte Verstehen des Gesetzes kreist offenbar das Gespräch, das Moses mit den hinter ihm stehenden Männern führt.

Festtagsikone - SaweljewDas obere Viertel des Bildes, der Teil, der oberhalb des höchsten Punktes der Aureole und der Köpfe der Menschengruppen rechts und links von Christus liegt, ist fast leer. Stilisierte, stufenförmig aufsteigende Felsen charakterisieren die wilde, öde Landschaft, in der wir uns befinden, die Landschaft der Unterwelt. Nur ein schmaler Raum ist zwischen den eng zusammenstehenden Felsen geblieben, durch den Christus hinabgestiegen ist. Auf manchen Ikonen dieses Typus ist der Felsenraum ganz geschlossen, und der Hades wird vollends zur Höhle; auf anderen schweben dort oben Engel, so etwa auf einer schönen Ikone im Ikonenmuseum in Recklinghausen aus dem 16. Jahrhundert (Anm. 11). Der eine dieser Engel hält hier das Kreuz, das auf unserer Ikone Christus in der linken Hand trägt; der andere Engel hält einen Kelch: Es ist der Kelch des Leidens, den Christus genommen und getrunken hat, und gleichzeitig der Kelch der Eucharistie, in dem der Opfergang Christi, der mit der Inkarnation begonnen hat und der mit dem Abstieg ins Reich des Todes endet, in der Liturgie immer von neuem zu lebendiger Gegenwart wird. Zwischen den Felsen ist der Titel der Ikone in kirchenslawischer Sprache in jetzt stark beschädigter Zierschrift angebracht: „Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus”. Diese Inschrift dient weniger der Erläuterung des Bildinhaltes - der gläubige Betrachter weiß auch ohne sie, was auf dem Bild dargestellt ist. Sie ist eher zu vergleichen mit dem heiligen Wort, das im Sakrament zu den Elementen des Wassers, des Brotes und des Weines hinzutritt und das diese Elemente wandelt zum Wasser des ewigen Lebens und zum Leib und Blut Christi. Denn auch die Ikone ist so etwas wie ein Sakrament: nicht ein Sakrament im vollen Sinne des Wortes, aber doch eine Sakramentalie: ein irdischer Gegenstand, in dem das ewige Heil dem Menschen sichtbar, fühlbar, sinnlich gegenwärtig wird.


  1:4. Aufl., 1. Bd., Tübingen 1968, S. 348-353.
  2:D. h.: „Ich hielt ihn für einen solchen, wie all die andern waren, die bisher gestorben sind.” Daß Christus als „Sterblicher” bezeichnet wird, ist dogmatisch korrekt und außerdem aus der Situation des hier als sprechend eingeführten Hades voll verständlich.
  3:Siehe die nach S. 72 eingefügte Bildtafel. Die von dem auf dem „Heiligen Berg” (Athos) lebenden Archimandriten Damaskinos gemalte Ikone, die sich auf der Nonnenempore in der Kirche des Klosters Kirchberg befindet, folgt in allen Einzelheiten der Komposition genau dieser altrussischen Ikone, so daß die folgende Beschreibung und Deutung ihres Inhaltes auch auf die Kirchberger Ikone paßt.
  4:Vgl. dazu Konrad Onasch, „Ikonen”, Berlin (1961), S. 364.
  5:Aus dem Morgengottesdienst am Karsamstag, „Synekdemos orthodoxou christianou” (= „Mitpilger des orthodoxen Christen”), Athen, o. J., S. 825. - Zum Begriff des Mit-Herabsteigens (griechisch „synkatabasis”) vgl. Phil. 2, 5-8.
  6:Aus dem Abendgottesdienst am Karfreitag, „Synekdemos”, S. 816.
  7:Aus dem Morgengottesdienst des Karsamstags, „Synekdemos”, S. 825.
  8:Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen, S. 349.
  9:Vgl. etwa bei Onasch, „Ikonen”, Tafel 73.
 10:Z. B. wiederum auf der Ikone bei Onasch, „Ikonen”, Tafel 73. Auf der Kirchberg-Ikone trägt die Tafel hebräische Schriftzeichen.
 11:H. P. Gerhard, „Welt der Ikonen”, 6. Aufl., Recklinghausen, S. 188.
Bild oben: Die Höllenfahrt Christi (Nowgorod, Museum) nach der Abbildung in: Heinz Noack, Ikonen, Berghaus Verlag 1973
Bild unten: Festtagsikone Auferstehung - Ikonenzentrum Alexej Saweljew


© Prof. Dr. Dr. Ludolf Müller
Quatember 1982, S. 66-75

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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