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Vor 50 Jahren: „Apokalypse im Osten”
von Karl Bernhard Ritter

Aus dem Michaelisbrief 1932:

Leer. . . Das christliche Europa versteht bisher den Sinn dessen schlecht, was im Bolschewismus geschieht. Ökonomische Interessen, „bourgeoise” Angst oder aber eine instinktlose Bewunderung des „kühnen Experimentes”, das die russischen Machthaber versuchen, lassen ein Eindringen in die geistigen Hintergründe der russischen Revolution nicht zu. Der Bolschewismus ist aber in erster Linie kein politisches oder ökonomisches Experiment, sondern eine geistige Erscheinung. Mit unerhörtem Radikalismus ist in Rußland die Frage nach dem sozialen Neubau der Menschheit gestellt worden. Diese Frage ist aber die Frage unserer Zeit, und Bußland gibt die Antwort, die allein übrig bleibt, wenn die christliche Antwort auf diese Frage nicht gegeben wird. Der russische Bolschewismus zieht die unvermeidlichen Konsequenzen aus der Entchristlichung Europas. Oder anders ausgedrückt: die christliche Wahrheit ist in Europa nur „bekannt” und nicht verwirklicht worden. Das führt notwendig zur Katastrophe. Denn wenn die „Guten” versagen, unternehmen es die „Bösen”, die Wahrheit zu verwirklichen. „In Freiheit und Liebe wollte man die Wahrheit nicht verwirklichen, nun verwirklicht sie sich in Haß und Zwang. Zwang ist eine Strafe für die Freiheit, die die Wahrheit nicht hervorgebracht hatte, Haß eine Strafe für die Liebe, die tot und rhetorisch geblieben war . . . Die innere Struktur des Seins ist so, daß es einfach nicht geht, die Wahrheit nicht zu verwirklichen, seine Freiheit nicht zum Wohle anderer zu nutzen, die Liebe nicht im Leben zu betätigen. Die Apokalyptik wohnt dem Leben inne, das furchtbare Gericht ist unvermeidlich.”

LeerDiese Sätze schreibt der russische Religionsphilosoph Nicolai Berdjajew in einem Aufsatz über den religiösen Sinn des Bolschewismus. (Orient und Occident. Heft 9. Verlag der J. C. Hinrichs'schen Buchhandlung in Leipzig.) Berdjajew gibt darin eine wahrhaft christliche Schau des Zeitgeschehens, die unsere stärkste Aufmerksamkeit verdient. Es sollte uns Christen vertraut, ja unerschütterlich gewiß sein, daß alle echte Erkenntnis nur im Leiden gefunden wird. Und es sollte uns in ganz anderem Maße als bisher zum Bewußtsein kommen, daß heute die russische Christenheit stellvertretend für die ganze Christenheit leidet und daß wir allen Anlaß haben, auf die Stimmen der Erkenntnis zu hören, die aus diesem Leiden zu uns dringen. Dann könnte es nicht geschehen, daß die deutsche Christenheit so ratlos, so in sich zerfallen, so erkenntnislos in dem gewaltigen Geschehen unserer Zeit den nur allzu flachen, allzu kurzsichtigen Parolen des politischen Tageskampfes folgt. Ist es sinnvoll, daß die deutschen Christen eine Antwort auf die Lebensfragen der Zeit von den Politikern oder den Nationalökonomen erhoffen? Wie sinnlos ist es, gegen das Böse im Kommunismus zu kämpfen, indem man ihm den Nationalismus oder den Kapitalismus entgegenstellt! Aber wie sinnlos ist es ebenso, wenn man auf der anderen Seite das Christliche an die sozialistischen Ideen einer entchristlichten Epoche anhängt! Darf das Christentum sich zur religiösen Verbrämung oder Übersteigerung säkularer Utopien irgend welcher Art hergeben?

LeerDer Kampf mit dem Bolschewismus ist allein auf der Ebene echter religiöser Besinnung mit Aussicht auf Erfolg, mit Aussicht auf eine wirkliche Begegnung mit den treibenden, geistigen Kräften des Bolschewismus aufzunehmen. „Das Problem des ‚täglichen Brotes’ hat eine religiöse Tiefe und fordert eine christliche Lösung. Nur im Lichte einer religiösen Besinnung kann man den Sinn der in der Welt sich vollziehenden Katastrophen verstehen.”

Quatember 1982, S. 176

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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