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Sphärenharmonie und Engelsmusik
von Ekhard Nadler

LeerAnläßlich der 1500-Jahr-Feier für Benedikt von Nursia ist von vielen Seiten auf die religiöse und kulturelle Bedeutung des Begründers des abendländischen Mönchtums für die Geschichte Europas hingewiesen worden. Mit gutem Grund wird er auch als einer der Stifter der Musik des Abendlandes bezeichnet. Dies wurde mir besonders deutlich, als ich vor einiger Zeit ein frühmittelalterliches Kloster in der Provence besuchte. Nicht nur die Schönheit der Maße, sondern auch die Großartigkeit der Akustik in den romanischen Wölbungen erfüllten mich mit Erstaunen. So vorbereitet, war ich nicht überrascht, als ich las, daß die Kirchen dieser Zeit nicht nur als Gehäuse der Liturgie gedacht waren, sondern daß darüber hinaus die Liturgie von jenen frühen Mönchen als Echo auf die Harmonie der Schöpfung aufgefaßt wurde. Es zeigte sich mir, daß die Benediktiner hier wie auch sonst, ungeachtet der Neuheit ihres Beginnens, an biblische und antike Traditionen angeknüpft hatten. Für die Alte Welt war es nämlich ein weitverbreiteter Gedanke, daß der gesamte Kosmos, von den Naturelementen bis zu den Jahreszeiten, von der menschlichen Psyche bis zur Welt der Töne, vom Gesetz der alles durchwaltenden Harmonie beherrscht werde. Harmonie in dem Sinne, daß sich, wie in einem mehrstimmigen Chor, im All die einander widersprechenden Gegensätze letztlich vereinen. Pythagoras und sein Kreis kamen dazu, diesen harmonikalen Kosmos als durch die Zahl zusammengehalten anzusehen. Dieses Zahlenverhältnis, so nahm man an, lasse sich auch in musikalischen Symbolen ausdrücken. Entsprechend dem damaligen Weltbild glaubte man, den Abstand der Sonne zur Erde durch eine Quint, den der Sonne zu dem als fest gedachten Himmel (Firmament) durch eine Quart bezeichnen zu können. Entsprechende Tonverhältnisse wurden auch den Planeten zugeschrieben. Freilich könne man das Klingen dieser Harmonien nicht mit menschlichen Organen vernehmen; doch erklärte man diese „Taubheit” damit, daß die Menschen durch die Musik in gleicher Weise betäubt würden, wie ihre Augen vom Sonnenlicht geblendet wären.

LeerSache des Menschen sei es nun aber, und das war besonders der Gedanke Platons, durch die Musik den Weg zum Ort der ewigen Harmonie zu erschließen oder sie zum mindesten hier auf Erden nachzuahmen. Es waren nun keinesweg Phantasten, sondern rational denkende Mathematiker und Astronomen, die diese Lehren vertieften und weiter entfalteten. Heidnische und frühchristliche Denker wie z. B. Nikomachos von Gerasa und Boethius kamen so zur Unterscheidung einer „musica instrumentalis” (des menschlichen Instrumentenspiels) von einer „musica humana”, womit die Harmonie von Leib und Seele verstanden wurde, und einer „musica mundana”, dem Zusammenklingen der Naturelemente und der himmlischen Sphären.

LeerDie Kirchenväter wußten diese Ahnungen, wenn man sie so nennen darf, in der Weise zu verchristlichen, daß sie die Weltharmonie als Hinweis, ja als Beweis für den Schöpfer der Welten, auslegten. Ohne Schwierigkeit fanden sie im Alten Testament Andeutungen dieses Gedankens, so im Buch Hiob (38,7) in dem Satz: „da Mich die Morgensterne lobten. . .” oder in Psalmstellen wie „Lobet Ihn, Sonne und Mond!. . .” (148,3). In Fortführung dieser Überlegungen ging man dann so weit, die Musik als gleichzeitig mit den Engeln geschaffen anzusehen. Die Folge war, daß unter diesem Gesichtspunkt nur die geistliche Musik die wahre sein konnte, während die weltliche, so schon von Augustinus, abgelehnt wurde. Unmerkbar mündet an diesem Punkt eine andere - außergriechische, aber auch vorchristliche - Traditionsreihe ein, die bis zu Jesaja und Hesekiel zurückgeht, ihre Wurzeln mit ihren Engelsvorstellungen aber schon im alten Babylon hat.

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LeerFreilich, daß Himmel und Erde von „Engeln, Fürstentümern und Gewalten”, antik gesprochen: von Dämonen, zusammengehalten und regiert würden, war im Mittelmeerraum eine allgemein geltende Auffassung. Christlich aber war die erleuchtende Erkenntnis, daß die Engel jenseits aller Sphären schwebten, wo sie immer Gottes Angesicht sähen und ihm ohne Ende lobsängen, musikalisch gesagt: eine „musica coelistis sine fine” aufführten.

LeerImmer wieder werden in diesem Zusammenhang Visionen überliefert. So soll ein Mönch im Michaelsheiligtum auf dem süditalienischen Monte Gargano einen Engelschor gehört haben, der das Responsorium „Cives Apostolorum” sang, was ihn veranlaßte, dieses in die römische Liturgie einzuführen.

LeerDie Kirche hat in einer grandiosen Schau eine Begegnung der irdischen mit der himmlischen Liturgie im Sanctus und seiner Präfatio bis heute bewahrt:
„durch welchen Deine Majestät loben die Engel,
anbeten die Herrschaften,
fürchten die Mächte,
die Himmel und aller Himmel Kräfte
samt den seligen Seraphim
mit einhelligem Jubel Dich preisen.
Mit ihnen laß auch unsre Stimmen uns vereinen
und anbetend ohn Ende lobsingen:
Heilig, Heilig, Heilig, Gott.
Herr aller Mächte und Gewalten.
Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit.”
LeerWird auf diese Weise die Musik über alle anderen Künste und Wissenschaften erhöht, so strahlt sie nach mittelalterlicher Auffassung auf die ausübenden Sänger und Musiker aus. So stellen die Cluniazenser die Klosterleute den Engeln gleich, was Hildegard von Bingen ausdrücklich damit begründet, daß die Mönche und Nonnen wie die Engel in ihren durch Tag und Nacht gehenden Stundengottesdiensten am unaufhörlichen Gotteslob beteiligt sind.

LeerTrotz ihrer unterschiedlichen historischen Wurzeln werden in jenen Jahrhunderten jene beiden Traditionsreihen in der Liturgie nicht als Gegensätze empfunden. Dante Alighieri vermag sie in seiner dichterischen Schau noch in der Weise miteinander zu verbinden, daß er die tönenden Sphären auf die sieben Planetenkreise beschränkt, während der Engelsgesang jenseits der Sphären im Fixsternhimmel ertönt.

LeerIn der Kirchen- und Musikgeschichte bis zur Gegenwart ist außerhalb der Liturgie eine Verflüchtigung der Engelsvorstellungen festzustellen. Freilich enthält unser Gesangbuch noch Lieder zum Fest des Erzengels Michael und aller Engel. Doch schon in der Kantate Bachs klingt es wie eine flehentliche Bitte: „Bleibet, ihr Engel, bei mir!. . .”

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LeerEin gewisser Wandel des Engelglaubens ist freilich schon bei Luther zu erkennen. Daß wir unter dem Geleit und Schutz der Engel stehen, ist zwar sein unerschütterlicher Glaube (vgl. seine Predigt zum Michaelsfest 1530). Aber zum Gesang der Engel haben wir, wie er meint, zu unseren Lebzeiten keinen Zugang. In der Vergangenheit war er geöffnet (EKG 135: „Jesaja dem Propheten das geschah. . .”). Und am Ende der Zeiten werden wir ihn wieder hören. In seiner Nachfolge dichtet J. M. Meyfart in seinem Jerusalem-Lied (EKG 320) eschatologisch:
„Das Halleluja reine
man spielt in Heiligkeit,
das Hosianna feine
ohn End in Ewigkeit.”
LeerFür William Shakespeare sind als letztem Dichter noch beide Bilder Wirklichkeit, wenn er Lorenzo zu Jessica im „Kaufmann von Venedig” sagen läßt:
„Sieh, wie die Himmelsflur
ist eingelegt mit Scheiben lichten Goldes!
Auch nicht der kleinste Kreis, den du da siehst,
der nicht im Schwunge wie ein Engel singt,
zum Chor der hellgeaugten Cherubim;
so voller Harmonie sind ew'ge Geister;
nur wir, weil dies hinfäll'ge Kleid von Staub
ihn grob umhüllt, wir können sie nicht hören.”
LeerIn den folgenden Jahrhunderten verläßt der Harmonie-Gedanke die Kirchen und findet bei Komponisten und Dichtern bis in die neueste Zeit immer neue Belebung. Merkwürdig erscheint, daß daneben Astronomen wie Athanasius Kircher († 1680) und Johannes Kepler († 1630) und Philosophen wie G. W. v. Leibniz († 1716) auf naturwissenschaftlicher Basis über den musikalisch organisierten Kosmos neue Erkenntnisse erschließen, wobei hervorzuheben ist, daß alle drei sich noch im christlichen (katholischen und evangelischen) Raum bewegen. Sicher hätten sie von ihrem Standpunkt aus Hermann Hesse widersprochen, der schrieb: „Von allen Vorstellungen reiner Seligkeit, die uns Völker und Dichter erträumt (!) haben, schien mir immer die höchste und innigste jene vom Erlauschen der Sphärenharmonie.”

LeerIm Laufe der Jahrhunderte, von Aristoteles über Augustinus bis zur Gegenwart, hat man der Musik den Vorwurf gemacht, daß sie Wahn, Ausschweifung und Magie fördere, sie sei die Kunst losgebundener Zeiten. In dieser Allgemeinheit kann dieser Einwand kaum ernst genommen werden. Keinesfalls dürfte er für die Zeiten gelten, in denen die Musiker in ihren Schöpfungen noch „dem gestirnten Himmel über ihnen” folgten. Nach der Ansicht moderner Musikwissenschaftler ist dies noch bis zu den Wiener Klassikern einschließlich Beethoven der Fall gewesen, in ihnen allen habe sozusagen noch ein Rest von Gregorianik nachgewirkt. Vieles, was wir heutzutage als rauschhaften Exzeß im Reich der Töne empfinden, läßt sich möglicherweise mit dieser These erklären.

LeerVergessen wir aber nicht, daß noch in Paul Hindemiths Symphonie und Oper „Harmonie der Welt” Keplers Visionen nachklingen und andere zeitgenössische Gelehrte und Komponisten bemüht sind, wieder den Anschluß an benediktinische Harmonieerkenntnisse zu gewinnen. Vielleicht könnte man - zum mindesten im Bereich der Musik - deshalb von einer „Widerrufung der Aufklärung” sprechen.

© Ekhard Nadler
Quatember 1982, S. 207-210

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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