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Liebe, Ehe und Ehescheidung
von Siegfried Buddeberg

LeerDie Ehe befindet sich im westlichen Kulturkreis, aber auch darüber hinaus in der ganzen Welt, in einer zunehmenden Krise. Jahrtausende lang geübte und bewährte Formen des Zusammenlebens der Geschlechter zerbrechen, und die Fähigkeit, mit e i n e m Menschen auf Dauer, ja auf Lebensdauer, zusammen zu leben, scheint rapide abzunehmen. Während in der modernen Massengesellschaft die Menschen immer enger zusammenleben müssen, macht sich, oft unbemerkt, eine fortschreitende „hautnahe Vereinsamung” (Riesmann) bemerkbar, die mit einer der Gründe für zunehmende Ehekrisen, Sinnentleerung des Lebens und all deren Folgen ist. Diese Krisen machen auch nicht vor den christlichen Kirchen aller Konfessionen halt und greifen in den letzten Jahren auch auf Gruppen besonders engagierter Christen, wie Pfarrer- und Laienbruderschaften, über. Wie alle Krisen im geschichtlichen und persönlichem Leben, bereiten sich diese in langen Entwicklungen vor, bis sie, großen Überschwemmungen ähnlich, ganze Kulturen und Epochen verändern. Meine These ist, daß diese weltweite Krise unter anderen Faktoren, einerseits mit einer Unterbewertung, andererseits mit einer Überbewertung der Erotik zusammenhängt. Unter Erotik verstehe ich im Gegensatz zur Vulgärsexologie die mittlere Dimension der dreidimensionalen Ganzheit (Tillich) der Liebe, die als begehrende, erhebende und schenkende Weisen des Liebens in Sexualität, Erotik und schenkendpersonaler Liebe zum Ausdruck kommt, und damit auch der Ganzheit des Menschen aus Leib, Seele und Geist entspricht.

LeerWährend das Alte Testament in der Schöpfungsgeschichte, im Hohen Lied des Salomo, in vielen Psalmen und bei einigen Propheten von einer gesunden, vitalen Sinnenfreude ausgeht, und Jesus inmitten einer streng patriarchalen Religion und Gesellschaft eine geradezu revolutionäre Aufwertung der Frau heraufgefUhrt hat, kam schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert der entscheidende Rückschlag in der Bewertung der Erotik, die seither als böse Lust oder sogar als d i e Sünde verteufelt wurde und wird. Das liegt nicht nur an der Übernahme spätjüdisch-hellenistischer Anschauungen in die paulinische Theologie, sondern auch an der Abwehr der Gesamtkirche gegen die gnostische Bewegung, die in der Spätantike zusammen mit dem Christentum entstand, in die frühchristlichen Gemeinden eindrang und sie von innen her umzufunktionieren drohte. Die beiden Korintherbriefe sind dafür ein hochinteressantes religionsgeschichtliches Dokument. Den gnostischen Bewegungen, auf deren Ursprünge wir hier nicht eingehen können, lag durchweg ein leibfeindlicher Dualismus zugrunde, das heißt: Der Körper stammt vom Teufel, der die Welt regiert, und die Seele ist göttlich-himmlischen Ursprungs. In der Gnosis spielten priesterliche Frauen eine ganz besondere Rolle, und manche gnostisch-ekstatischen Versammlungen hatten den Charakter sakral-orgastischer Kulte, die modernen Sexpartys gar nicht so unähnlich waren. Gegen diesen Einbruch der Frau und der Erotik wandte sich das „frühkatholische Patriarchat”, welches der jungen Kirche nicht nur das hierarchische Bischofsamt, sondern auch die besondere Verehrung der Jungfräulichkeit brachte und damit die Verteufelung jeglicher erotischer Kultur. Auch den reformatorischen Kirchen ist es trotz Aufhebung des institutionellen Zölibates und Ablehnung des Jungfrauenkultes nicht gelungen, eine wirkliche evangelische Sexualethik zu entwerfen. Sie hielten sich vielmehr bis in die Gegenwart mehr an die Normen einer bürgerlichen Moral mit all ihren neurotisierenden Formen der Sexualverdrängung und der Erosfeindlichkeit.

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LeerGegenüber dieser schicksalhaften geschichtlichen Entwicklung sollten wir uns auf einige exegetische Befunde Alten und Neuen Testamentes besinnen. Nach den beiden Schöpfungsberichten des ersten Mosebuches, die ihrem Alter und ihrer theologischen Zielsetzung nach recht unterschiedlich sind, wurde der erste Mensch, Adam, das heißt: Das von der Erde genommene Menschenwesen als Mann u n d Frau als Ebenbild des unsichtbaren Schöpfers verstanden. Die Ebenbildlichkeit des Menschen bezieht sich also nach den Schöpfungsberichten auf beide Geschlechter (v. Rad) und nicht nur auf den Mann. Die Freude an der Schönheit des Menschen findet bei dem Propheten Hesekiel eine geradezu hymnische Preisung: „Du warst das Abbild der Vollkommenheit, voller Weisheit und über die Maßen schön.” Daß Mann und Frau ursprünglich eine Einheit waren, wird im zweiten Kapitel des ersten Mosebuches dargestellt, eine mythische Überzeugung, die weltweit verbreitet ist. Nach dem zweiten Schöpfungsbericht könnte man daher Liebe geradezu als „Sehnsucht des Getrennten nach Wiedervereinigung” verstehen, wie es klassisch auch in Platons Dialog „Das Gastrnahl” zum Ausdruck kommt.

LeerAber dann kommt mit dem Sündenfall Scham und Angst in das Leben des Menschen: Scham als die Unfähigkeit zu erfüllter Gemeinschaft mit dem anderen Geschlecht und Angst als die Unfähigkeit, mit Gott Gemeinschaft zu haben. Zweifellos liegt hier e i n e der Wurzeln späterer Sexualängste. Aber es gilt zu beachten, daß die Scham im biblischen Sinn ja nur eine Seite im Verhältnis der Geschlechter zueinander ist, das gilt auch „nach dem Fall”, wie das Hohe Lied des Salomo mit seiner orientalischen Sinnenfreude zeigt. Jedenfalls ist mit der Scham eine Widersprüchlichkeit in das menschliche Sexualverhalten gekommen, was aber nicht nur in der Bibel, sondern auch in anderen Religionen kräftig zum Ausdruck kommt.

LeerAlle Schöpfungsgaben sind durch die Sünde widersprüchlich geworden. Sie können zur Erhaltung und Verschönerung des Lebens ebenso dienen wie auch zu seiner Zerstörung: „Wen Du ergreifst, der raset”, heißt es in der Antigone des Sophokles. Das sollte man heute, wo weltweit auch in den Kirchen eine Verharmlosung des Eros verkündigt wird, immer wieder mit Nachdruck betonen. Wie die Schöpfung aber durch die Erlösung nicht nur geheilt, sondern auch vollendet wird, so erfahren Sexualität und Erotik in der schenkenden und vergebenden Liebe des christlichen Glaubens als Agape ihre Vollendung. Die Isolierung der Erotik aus der begehrenden und schenkenden Dimension der Liebe im Lebensgefühl der Gegenwart scheint mir einer der Hauptgründe für gegenwärtige Ehekrisen zu sein. So unterschlägt einerseits eine aus ihrem leib-seelischen Zusammenhang herausgelöste, rein schenkende Liebe die menschliche Ganzheit. Hier wäre vielen von Sexualängsten geplagten Christen und christlichen Ehepartnern erst einmal eine gründliche Lektion von natürlicher Sexualpsychologie zu erteilen, handelt es sich bei der ganzheitlichen Liebe doch auch immer um ein Stück von Gott geschenkter Freuden. Die von Freud geprägte moderne Sexologie spricht von der Liebe meist unter dem mechanischen Aspekt der Triebabfuhr, die moderne Sexpresse von Spaß und Vergnügen, was einfach eine dimensionale Verarmung der Liebe bedeutet. Daß Liebe vor allen Dingen ein Ausdruck der Freude ist, findet man im heutigen Sprachgebrauch nur noch ganz selten. Auf der anderen Seite bedeutet die Ablösung der Erotik aus ihrer schenkenden und vergebenden Dimension, ihre Erniedrigung zum reinen Sex, einfach einen Rückfall des Menschen in eine frühere Entwicklungsstufe, also eine Regression, die ebenso zu neurotischen Störungen führen kann wie die erotisch-sexuelle Verkürzung der Liebe. Darauf müßte man alle die Personen hinweisen, die von den gegenwärtigen Sexwellen entwurzelt und zur Raserei getrieben werden. Nun gibt es gewiß auch eine gute und gesunde Raserei, eine echte Ekstase, ein Außer-sich-Sein, was geradezu notwendig ist, um das In- und An- und Für-sich-Sein des Geistes (Hegel) überhaupt aushalten zu können. Aber Raserei, die nicht mehr zu sich selbst zurückfindet, ist lebensgefährlich.

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LeerNoch ein abschließendes Wort von der geistigen Dimension der Erotik muß in diesem Zusammenhang gesagt werden. Die Erotik stammt aus entwicklungsgeschichtlich sehr frühen und daher sehr tiefen Schichten des Menschseins, wirkt aber gerade deswegen auch bis in die höchsten Gipfel des Geistes hinein (Fr. Nietzsche). Die Geschichte der geistig-geistlichen Erotik deckt sich in der christlichen Geistesgeschichte weitgehend mit der Geschichte der christlichen Mystik und Meditation bis ins Neue Testament hinein. Im ersten Rundschreiben der Evangelischen Michaelsbruderschaft aus dem Jahre 1931 hat der inzwischen verstorbene Theologe Otto Haendler hierzu wertvolle Hinweise gegeben, aus deren Fülle ich nur einige angebe. Er sagt, Meditation, also der einzuübende und zu begehende Weg zur Mystik, heißt: Sich anschauen, sich berühren, sich hingeben, sich öffnen, eindringen, etwas in sich aufsteigen lassen, sich durchdringen lassen, sich lieben, eins werden u.s.w. Diese Dimension religiösen und theologischen Denkens ist bisher in den westlichen Kirchen noch gar nicht entdeckt worden, während sie in der ostkirchlichen Theologie eine Jahrtausende alte Tradition hat. Dogmengeschichtlich ist zu beachten, daß in der Ostkirche nicht die Mariologie und Jungfräulichkeit, sondern die Sophiologie im Vordergrund steht. Das Wesen der christlichen Ehe ergibt sich, so meine ich, weniger aus den Hinweisen auf die beiden Schöpfungsberichte in Matth. 19 als aus der Aufwertung der Frau im christlichen Personenverständnis schlechthin. Der Schenkungscharakter der christlichen Liebe steht in ihrem Mittelpunkt: Liebe als Geschenk Gottes an den Menschen, der es weitergibt an einen anderen. Geschenke aber kann man nicht zurücknehmen, es sei denn, man fordere sie zurück. An solchem Fordern aber zerbrechen sehr oft Schenkende, Beschenkte und schließlich das Geschenk selbst, wie aus den Lebensschicksalen so vieler Kinder aus geschiedenen Ehen immer wieder deutlich wird. Diese Zerbrechlichkeit der Liebe hängt ganz eng mit dem Wesen des Schenkens selbst zusammen. Im Akt des Schenkens werden Schenkender und Beschenkter nämlich verwandelt, und diese Verwandlung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Dem Zeitgenossen fällt es unheimlich schwer, sich etwas schenken zu lassen, noch viel schwerer, als selbst etwas zu schenken. Das hängt damit zusammen, daß die soziologischen Kategorien von Leistung und Lohn nicht nur in alle Sparten der Psychologie, sondern nun auch in den Bereich der Sexologie eingedrungen sind. Schenken wird zu einer Form der Unterdrückung. Daher erleben wir zur Zeit nicht nur eine zunehmende Unfähigkeit zu trauern, sondern auch eine Unfähigkeit zum Schenken, sich beschenken lassen, zum Danken und auch zum Lieben. Leistung und Lohn sind im Akt des Schenkens und Dankens nicht mehr möglich. Die Vergötzung von LeisWng und Lohn vernichten die Liebe in all ihren Dimensionen.

LeerDie christliche Liebe ist aber nicht nur die Weise schenkender Liebe, sondern auch der Liebe, die um einen Menschen ein Leben lang kreist, kreisen hier im östlich-meditativen Sinne gemeint. Das echte Verhältnis zweier Geschlechtspartner ist im eigentlichen Sinn auch gar keine Beziehung, wo in einer direkten Konfrontation einer den andern an sich zieht und bindet oder auch wieder abstößt, sondern ein liebendes Umkreisen. Auf dieser kreisenden Umwanderung von der Jugend bis zum Alter ergeben sich immer neue Aspekte des sich ebenfalls wandelnden Wesens. Eine gelungene Ehe wird daher auch auf Dauer nicht langweilig, sondern kann bis zum Ende interessant bleiben. Muß man auf dieser Wanderung Durststrecken durchstehen, liegt die Abwanderung natürlich nahe. Ganz abgesehen von dem Geschenkcharakter der christlichen Liebe, sind wir ja auf diesen Weg der Liebe von Gott geschickt worden, der uns allein auch die Kraft schenken kann, in seinem Namen den Weg zu vollenden. Eheberater machen auch immer wieder die Beobachtung, daß nach Überstehen einer ehelichen Krise sich ein neues, intensiveres Liebesverhältnis entwickeln kann. Aber niemand, auch kein Christ, kann über Gott verfügen und damit für sich selbst garantieren. Im letzten Grunde bleibt schenkende Liebe eine Kraft der Gnade und ich meine noch mehr: ein Sakrament, das heißt eine natürliche Weise des Lebens, wie sich waschen, essen, trinken und sich lieben. Alle diese Weisen kann Gott durchsichtig machen für sein Verhältnis zum Sohn und für das Verhältnis des Sohnes zu uns. So ist ist nicht nur das Bild in Epheser 5, sondern auch das „gegenseitige Insein” des johanneischen Christus zu verstehen (z. B. Joh. 17, 22 und 23). Beachten wir dazu auch die entsprechende Äußerung des jungen Luther in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 (Corrolarium zu Röm 8, 26)! In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, daß Gott und sein Sohn nicht im biologischen Sinn männlich differenzierte Wesen sind, sondern jenseits der sexuellen Dialektik der Schöpfung stehen, ja diese dialektischen Gegensätze in idealer Weise in ihnen integriert sind.

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LeerHier ist auch der Ort, von dem Recht und Dienst des ehelosen Standes in der Kirche zu sprechen. Erotisches Erleben ist nicht unabdingbare Voraussetzung lebendig-mystischer Gotteserfahrung, da jeder Mensch in sich männliche und weibliche Strukturelemente vereinigt. Diese können, besonders bei einer angeborenen Fähigkeit dazu (Matth. 19,12), zu einer vollen Ganzheit zusammenwachsen und so zu jener Schönheit des Menschen werden, die anderen in der Liebesvereinigung geschenkt werden kann. Die christliche Mystik ist dafür ein uraltes Zeugnis. Das Zwangszölibat der römischen Priester halte ich für eine unbiblische Institution, das sich auf die oben erwähnten „frühkatholisch-patriarchalen” Motive der Hierarchie und der Verehrung der Jungfräulichkeit zurückführen läßt. Die christliche Ehe ist kein Gesetz, schon gar kein bürgerliches Gesetz, sondern ein Geschenk der göttlichen Gnade, über die niemand verfügen kann. Darum gibt es auch eine christliche Ebescheidung, eben weil auch ein Christ vom Wege abkommen und Gott sich ihm entziehen kann. Ist das der Fall und wird so die Ehe zur gegenseitigen Quälerei für Eltern und übrigens auch für die Kinder, dann ist eine Scheidung besser als ein Leiden ohne Ende. In solchen schmerzhaften Entwicklungen sollten aber Mann und Frau daran denken, daß, wie es bei der Kindertaufe so etwas wie einen „fremden Glauben” (Luther) gibt, der stellvertretend für das noch nicht glaubensfähige Kind eintritt, es auch in der Ehe tatsächlich so etwas wie eine „fremde Liebe und Treue” gibt, die stellvertretend einer für den andern durchhält oder auch ein begnadeter Dritter. Sind wir als Christen doch alle Glieder an dem einen Leib Jesu Christ und wissen von dem Leben Jesu her, daß auch Leiden einen verwandelnden Sinn haben kann. Von dem oben aufgezeigten Verständnis christlicher Liebe und Ehe her dürfte es deutlich werden, daß die in den letzten Jahrzehnten aufgekommenen neuen Formen der Geschlechtergemeinschaft wie freie Partnerschaft, offene Ehe oder Ehe auf Zeit einen problembeladenen Rückschritt in der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Liebe darstellen. Daß sie in manchen Fällen, zum Beispiel bei psychiatrisch Erkrankten, geradezu hilfreich sein können, muß auch gesagt werden. Man sollte sie daher nicht moralisch verteufeln, sondern solche Verhältnisse begleitend reifen lassen. Denn christliche Liebe und Ehe sind kein moralisches Gesetz, sondern Geschenk Gottes, das den Menschen seiner eigentlichen Lebensaufgabe ein Stück näher bringen kann: Abbild des schenkenden und treuen Gottes zu werden.

© Pfarrer i. R. Dr. med Siegfried Buddeberg
Quatember 1982, S. 228-233

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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