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Pfingsten über Europa
Alfred Radeloff

LeerVorbereitet vom Europäischen Komitee - das sind Verantwortliche der charismatischen Erneuerungsbewegung aus verschiedenen Kirchen Europas, Protestanten und Katholiken, - fand über Pfingsten 1982 in Strasbourg ein Kongreß statt, zu dem über 19.000 Delegierte aus den Ländern Europas anreisten, um sich auf dem Messegelände Wacken zu treffen. Fast 30.000 kamen zur Hauptversammlung am Pfingstmontag ins Mainau-Stadion der elsässischen Hauptstadt. Aus der DDR konnten 11 Mitarbeiter und Pfarrer der Kirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR teilnehmen, unter ihnen Dr. Paul Toaspern, Referent und Prediger auf dem Straßburger Treffen, und zwei Beobachter des DDR-Kirchenbundes, einer davon ich.

LeerBeobachter? Abstand? Ich merkte beim ersten Kontakt: du bist bei Brüdern und Schwestern. Ich fühlte mich zu Hause. Ein buntes Bild: junge und alte Christen aus ganz Europa. Das Volk Gottes von Europa mit vielen Sprachen. Die Computer des Straßburger Treffens notieren 24 Nationen, drei Viertel Katholiken und ein Viertel Protestanten aller Schattierungen - überwiegend jedoch aus den großen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen. Überraschend für mich die vielen Ordensleute, die in ihren Trachten bei der Hitze schwitzen wußten: Franziskaner, Benediktiner, Darmstädter Marienschwestern, Diakonissen von überall. Die Brüder von Taizé fehlten. Sie hatten über Pfingsten über 10.000.lugendliche zu betreuen. Das Grußtelegramm von ihnen wurde als erstes vorgelesen.

LeerDas ist ein Kirchentag, ein ökumenischer und ein singender. Gesungen wird in vielen Sprachen, in vielsprachiger Einstimmigkeit, im Stand. Das Lob Gottes ist laut und deftig, es reißt vom Stuhl. Manchmal jedoch sind es stille Lieder, die zum Nachdenken führen. Fast alle Lieder haben einen Refrain, den man beim zweiten Mal mitsingen kann. Die meisten neuen Lieder sind richtige Ohrwürmer. Aber es gibt auch Choräle: „Ist Gott für mich, so trete . . .”, und das in mehreren Sprachen.

LeerDie Menschen, denen ich begegne, zeichnet dreierlei aus: sie leben aus einer lebendigen Glaubenserfahrung, sie leiden unter der Spaltung der Kirche und sie lieben ihre eigene Kirche. Einer sagt und bekommt heftigen Beifall: „Man kann Jesus nur lieben, wenn man seine Kirche liebt”. Ich lerne: der charismatischen Bewegung geht es um die geistliche Erneuerung der Ortsgemeinde. Jeden Tag Heiliges Abendmahl. Ich, der Michaelsbruder, bin in Gottesdiensten, die nach unserer liturgischen Ordnung gehalten werden. Und ich hatte immer gedacht, die „Charismatiker” seien liturgiefeindlich. Ich bin sprachlos darüber, wie intensiv die Stücke des Gottesdienstes von der Menge der 6.000 mitvollzogen werden. Der evangelische Gottesdienst am Pfingstsonntag wurde für mich zum fröhlichsten Gottesdienst, den ich je erlebt habe. Der Gottesdienst endete mit einem Liedpsalm: „Tanzt vor Freude für Gott, die ihr ihn liebt!” und Hunderte faßten sich an der Hand und bewegten sich singend im Reigen. David tanzte vor der Bundeslade. Das Volk Gottes heute tanzt vor dem Tisch des Neuen Bundes. Und es tanzten die Protestanten, während die Katholiken bei ihrer Eucharistiefeier auf den Plätzen blieben.

LeerWenn Sie das jetzt lesen, denken Sie wahrscheinlich: Aha, ich habe es immer schon gewußt: die Charismatiker schweben 10 cm über dem Erdboden, gefühlsselig und unnüchtern. - Beim ersten Pfingstfest gab es denselben Vorwurf.

LeerIn unseren Tagen zeigt man wieder Gefühl - auch in Strasbourg. Aber gefühlsselig ist das nicht, daß man beim Gebet, wenn man will, die Hände erhebt wie in der alten Kirche, daß man sich beim Friedensgruß richtig und nicht nur symbolisch umarmt und daß man im ungebundenen Singen das Lob Gottes jubelt. Für mich war das die Einheit der Christen in der Vielfalt, Vorwegnahme der Zukunft, auf die wir zugehen. Und ich fühlte mich nicht ausgeschlossen.

LeerNüchtern sind sie, die Charismatiker. Es gibt keine Interkommunion. Katholiken und Protestanten feierten das Abendmahl in verschiedenen Messehallen getrennt. Der Erzbischof von Brüssel sagt, er habe während der katholischen Eucharistiefeier die Lieder der Protestanten aus der Nachbarhalle herüberwehen hören und darunter gelitten, daß eine gemeinsame Feier des Abendmahls nicht möglich sei. In Strasbourg wurden keine Aktionsprogramme zur Verbesserung der Kirche und der Gesellschaft verteilt. Ich fand das überraschend. Als Leiter eines Kirchenkreises stapeln sich auf meinem Schreibtisch Ausarbeitungen, Ideen und Empfehlungen: Die Kirche muß anders werden und so mußt Du's machen! Was ich in Strasbourg erfuhr, wußte ich schon: Gott um seinen Geist bitten, auf sein Wort hören, mit Schwestern und Brüdern enge Gemeinschaft haben und dann die Aufgabe übernehmen, die Gott einem stellt. Die Frau einer Pariser Kommunität führt Prostituierte ins normale Leben zurück. Ordensmitglieder kämpfen mit den Gewerkschaften um die Rechte der Arbeiter. Mutter Theresa teilt das Leben der Ärmsten. Bete und arbeite! Beides.

LeerUnd wie redet man in Zungen und heilt Kranke? In Strasbourg wurde es nicht vorgeführt. Wer Zungenrede und Heilung zur Reklame macht, hat nichts mit den Leuten aus Strasbourg zu tun. Im Tagungsheft ist der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald abgebildet. Er steht in Colmar, nicht weit von Strasbourg. Die Schwestern und Brüder, die für die geistliche Erneuerung ihrer Gemeinde beten und arbeiten, verstehen sich als deutlicher Zeigefinger auf Christus hin, auf ihn allein.

© Alfred Radeloff
Quatember 1982, S. 234-235

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-29
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