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Die Anfechtung in Martin Luthers Leben und Theologie
von Albrecht Peters

LeerMit einem inneren Ungenügen an der Jurisprudenz und einem Fragen nach letzter Gewißheit in Leben und Sterben ist der Eintritt Martin Luthers ins Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten verknüpft. Auf der Heide bei Stotternheim, am 2. Juli 1505, brach im heftigen Gewitter die Angst vor bösem, schnellem Tod auf. Hierauf dürfte das Gelübde unter Anrufung der heiligen Anna hindeuten: „Hilf du, St. Anna, ich will Mönch werden!” Anna wurde verehrt als Helferin in Gewittersnot und Bewahrerin vor schnellem Sterben. Luthers Freunde und Klosterbrüder sahen in Bruder Martinus gleichsam einen zweiten Paulus, auch er galt als unmittelbar durch eine Himmelsstimme berufen; der enttäuschte Vater hingegen argwöhnte Verblendung und Hexerei. Im Kloster fand der junge Mönch zunachst wohl innere Ruhe, dann brach jedoch am Pensum des Stundengebets, an der Forderung, alle schweren Sünden mit ihren Umständen zu beichten, und am Darbringen des Christusopfers in der Messe erneut die Ungewißheit auf. Das Brevierbeten hat Luther bis 1520 durchgehalten; das Pensum der Woche holte er zumeist am Sonhabend unter Fasten nach. Schließlich war er ein Vierteljahr im Rückstand, holte diesen noch einmal unter Erschöpfung, Schlaflosigkeit und Sehstörungen auf und gab schließlich die Verpflichtung auf. In der Beichte quälte ihn kaum das Sexuelle; im Zentrum standen die Gedankensünden sowie der Wille, wirklich alles zu sagen, und die daraus resultierende Ungewißheit; einmal beichtete er sechs Stunden lang. Die Gewissensmarter gründete in der Pflicht, alle Todsünden zu beichten; die Ungewißheit erwuchs aus der Rückbindung der Absolution an Reue, Bekenntnis und Genugtuung. Dabei verwarf der Reformator schließlich derartige Absolutionsformeln, wie sie noch heute in der katholischen Praxis gebrauchlich sind. Staupitz verwies ihn auf Christus und dessen Wunden. Er suchte Luther vom Kreisen um sich selber zu befreien und auf Christus hin zu öffnen. Dabei verblieb er freilich im Horizont spätmittelalterlicher Kreuzesmeditation. Der Zuspruch der Absolution trat in seiner Leibhaftigkeit noch nicht präzise heraus. Seine Weisung, für die Luther ihm zeitlebens dankbar war, lautete: „Präge dir das Bild Christi recht ein,... so ist die Prädestination schon im Werk oder hinweg”. „Audi filium incarnatum, et sponte se offeret praedestinatio . . . Cur istis speculationibus te crucias? Intuere vulnera Christi et sanguinem pro te fusum. Ex istis fulgebit praedestinatio - Höre auf den fleischgewordenen Sohn, und von selbst wird sich die Gewißheit einstellen, daß Gott dich zum Heil vorherbestimmt hat. . . Warum willst du dich mit solchen Grübeleien qualen? Schaue an die Wunden Christi und das Blut, das für dich vergossen ist. Aus dem wird aufstrahlen die Vorherbestimmung zum Heil.”

LeerNach Luther hat Staupitz durch diese Hinweise „die doctrinam (Lehre) angefangen” (Tr. Nr. 526; Bd. I, 245, 12). Der Kanon der Messe sowie die Auslegung desselben durch Gabriel Biel ließen die Scheu vor Gottes Heiligkeit wachsen. Beim Hochgebet überkam Luther ein Schrecken; „er sah sich plötzlich in der Situation, mit Gott ohne Mittler reden zu müssen. Wie aber konnte er, der nichts als Sünder, Staub und Asche war, der Majestät Gottes ohne Christus als den Mittler begegnen?” (nach M. Brecht, Martin Luther, S. 79). Er wollte vom Altar fortlaufen, wurde jedoch von seinem Assistenten, dem Prior oder dem Novizenmeister, daran gehindert und zurückgehalten. Ausführliche Selbstzeugnisse zu seinen Anfechtungen tauchen erst 1518/19 auf; zugleich gewinnt das deutsche Wort eine eigene Prägung. In innerer Aufgeschlossenheit und mit lebhafter Vorstellungskraft legt Luther erneut die Psalmen aus; so finden sich die reichsten Texte in den Operationes in Psalmos. Mit der Tradition bezieht Luther sie auf Christus; auch Psalm 22,2, das „Eli Eli lama asabthani” (Mk 15,33) ist voll auf den am Kreuz Hängenden zu beziehen; die Lehre von den beiden Naturen Christi darf dies nicht hindern. Nicht lediglich im Blick auf uns Gottlose oder gar nur in unseren Augen, nicht allein in seinen leibbezogenen niederen Seelenkräften, sondern im Herzpunkt seiner Person selber hat unser Herr das Gericht des Heiligen über uns Abtrünnige durchlitten. Mit Apostelgeschichte 2,24 denkt Luther sogar an ein Leiden Christi über das Eintreten des Todes hinaus und bezieht die Hadesfahrt in die Gottverlassenheit ein; später freilich weist er diese Sicht zurück und laßt die Hadesfahrt vom Ostersieg überstrahlt sein.

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LeerDoch die zentrale geistliche Einsicht bleibt: Es gibt keinen Abgrund der Anfechtung oder Gottverlassenheit, in dem Christus nicht schon vor uns und als der allein Sündlose deshalb auch für uns war und darum bei uns ist und in alle Ewigkeit sein wird.

LeerVor den abgründigen Aussagen zur Gottverlassenheit Jesu Christi aus den Operationes in Psalmos sind uns jedoch die stärksten Worte zu Luthers eigenen Anfechtungen überliefert; sie finden sich in der Resolution zur 15. Ablaßthese von 1518. In der christozentrischen Auslegung der Psalmen hat der Reformator anscheinend die eigenen Erfahrungen nicht nur bei den alttestamentlichen Betern, sondern auch beim Herrn selber wiedergefunden. Unter Rückgriff auf das „Ich kenne einen Menschen” (2 Kor 12,2) des Apostels spricht Luther über die eigenen Anfechtungen. In ihnen nimmt die „Gottverlassenheit” eine paradoxe Gestalt an. Wohl entzieht sich ihm der gnädige Gott, zugleich jedoch lastet der heilige schwer auf ihm. Luther leidet nicht wie etwa August Hermann Francke im Vorschatten neuzeitlicher Gottesfinsternis daran, daß das Mahlwerk einer kritischen Rationalität die Gottesgewißheit zu zerreiben droht, er muß vielmehr ähnlich wie Hiob die „Lichtwucht” (hebräisch: kabod) der Heiligkeit Gottes im Herzpunkt seiner Person erleiden. Ganz entsprechend legt er auch den Verlassenheitsschrei Jesu Christi aus. In der Resolution zu dieser These muß Luther vom Schrecken des Fegfeuers handeln, der an die letzte Verzweiflung rührt. Hierzu greift er zurück auf die alt- und neutestamentlichen Zeugnisse vom Gottesschrecken über die Feinde Gottes aber auch von der fröhlichen Zuversicht der Gottesfreunde selbst noch angesichts des Martyriums. Den Angriff des eiferheiligen Gottes mußten nun aber nicht nur die Feinde erleiden, ihn erduldeten gerade auch die Frommen; David zeugt in den Psalmen davon und Hiskia spricht dies in seinem Gebet aus (Jes 38). Noch gegenwärtig erfahren dies manche Gläubige; hierfür zieht Luther Johann Taulers deutsche Predigten heran, die freilich bei den scholastischen Schultheologen unbekannt und verachtet seien; abschließend verweist er auf die Gebete der Kirche für ihre Verstorbenen. Mitteninne findet sich jener Hinweis auf den ihm bekannten Menschen, der jene Strafen öfters erlitten habe. „Sie hätten zwar nur sehr kurze Zeit gedauert, sie waren aber so schwer und höllisch gewesen, daß ihre Gewalt keine Zunge aussprechen, keine Feder beschreiben, noch jemand, der es nicht erfahren habe, glauben könne; so daß, wenn sie ihren höchsten Grad erreichen oder eine halbe Stunde, ja nur den zehnten Teil einer Stunde anhalten würden, so müßte er gänzlich zugrunde gehen und alle seine Gebeine würden in Asche verwandelt werden. Hier erscheint Gott schrecklich zornig und mit ihm zugleich die gesamte Schöpfung. Alsdann weiß man nicht, wo aus noch ein; da ist kein Trost weder von innen noch von außen, sondern alles wird zum Ankläger ... In solchem Augenblick kann die Seele (es ist wunderbar zu sagen) nicht glauben, daß sie jemals erlöst werden könne; nur daß sie die Strafe noch nicht völlig empfindet . . . Hier ist die Seele mit Christus weit ausgespannt, so daß man gleichsam alle ihre Gebeine zählen kann, und es ist kein Winkel in ihr, der nicht mit der bittersten Bitterkeit, mit Schrecken, Zittern und Traurigkeit angefüllt wäre und zwar so, daß diese alle von ewiger Dauer sind. Und um einigermaßen ein Gleichnis zu geben: wenn eine Kugel über eine gerade Linie geht, so trägt ein jeglicher Punkt der Linie, der berührt wird, die ganze Kugel, ohne doch die ganze Kugel zu umfassen. Also auch die Seele in ihrem Punkte: indem sie von der über sie hingehenden ewigen Überschwemmung berührt wird, empfindet und trinkt sie nichts als die ewige Strafe, aber diese bleibt nicht, sondern sie geht über sie hin”. Eine derart plastische Schilderung der eigenen Anfechtungen kehrt auch beim Reformator nicht wieder. Nachdenkenswert ist, daß sie - wahrscheinlich - in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem sogenannten Turmerlebnis steht, mit dem Widerfahrnis der reformatorischen Wende. Hierin scheint sich eine Erfahrung anzudeuten, die ähnlich auch in der Psychotherapie gemacht wird, der Abgrund der Anfechtung erscheint eben vor dem Durchbruch zum Licht am schwärzesten.

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LeerDie Anfechtungen des Reformators blieben freilich. Sie konzentrierten sich zunehmend auf seinen Kampf um die rechte Verkündigung des Christusheils. Sie verdichteten sich zu dem Anwurf: „Meinstu, daß alle vorigen Lehrer nichts gewußt haben? Mussen dir alle unser' Väter Narren sein? Bistu alleine des Heiligen Geistes Nest-Ei blieben auf diese letzte Zeit? Sollt Gott so viel Jahr lang sein Volk haben irren lassen?”. Der Reformator muß die Gewißheit immer wieder neu erringen. Im Streit mit den Schleichern und Winkelpredigern tritt der Verweis auf das Doktorat hinzu; Luther weiß sich gegen seinen eigenen Willen von Gott selber in die Pflicht genommen: „Ich aber, Doktor Martinus, bin dazu berufen und gezwungen, daß ich mußte Doktor werden, ohn meinen Dank aus lauter Gehorsam. Da hab ich das Doktor-Ampt müssen annehmen und meiner liebsten heiligen Schrift schweren und geloben, sie treulich und lauter zu predigen und lehren”.

LeerIm Sommer 1527 mußte der Reformator eine Phase heftiger Depressionen durchstehen, Kreislaufbeschwerden, Steinleiden und Herzversagen kamen hinzu; heute ließe sich dies vielleicht diagnostizieren als „Melancholie mit leicht agitiertem Gepräge”. Es war die Zeit nach den Bauernkriegen, nach dem Streit mit Erasmus, während des Ringens um das Abendmahl mit den Schweizern und anhebender Fragen um das Gesetz, zudem herrschte in Wittenberg die Pest. Heinrich Bornkamm hat Belege für jene lange Periode, die bis Frühjahr 1528 nachwirkte, zusammengetragen (Martin Luther in der Mitte seines Lebens, S. 489 ff.). Daraus seien lediglich zwei Texte zitiert. In einem Brief an Melanchthon schreibt Luther am 2. August 1527: „Ich bin mehr als die ganze Woche so im Tod und in der Hölle hin- und hergeworfen worden, daß ich jetzt noch am ganzen Körper mitgenommen bin und an allen Gliedern zittere. Ich habe fast Christus ganz verloren und wurde von den Fluten und Stürmen der Verzweiflung und der Gotteslästerung geschüttelt. Aber von den Gebeten der Heiligen (der gläubigen Freunde) bewegt, hat Gott begonnen, sich meiner zu erbarmen und meine Seele aus der tiefsten Hölle herausgerissen. Laß auch du nicht ab, für mich zu beten, wie auch ich für dich. Ich glaube, daß mein Kampf auch anderen dient”. Ähnlich lautet ein Dankbrief vom 1. Januar 1528 an Gerhard Wiskamp in Herford; dieser hatte von Luthers Leiden gehört und ihm den Trost und die Fürbitte der Brüder vom gemeinsamen Leben übermittelt; Luther antwortet: „In der Tat, diese Anfechtung ist die weitaus schwerste. Sie ist mir von Jugend auf nicht unbekannt, aber daß sie sich so steigern würde, hätte ich nicht erwartet. Aber Christus hat bisher gesiegt, obwohl er einen hält, der an einem hauchdünnen Faden hängt. Ich befehle mich deinem und der Brüder Gebet. Ich habe andere retten können und kann mich selbst nicht retten (Mt 27,42). Gepriesen sei mein Christus, auch mitten in Verzweiflung, Tod und Lästerung, der uns ein Wiedersehen geben möge in seinem Reich”. In seinen Nachrufen auf die Prediger Georg Winkler in Halle (April 1527) und Leonhard Kaiser in Scharding am Inn (August 1527) spricht der Reformator seinen Schmerz darüber aus, daß er selber von Gott nicht des Blutzeugnisses gewürdigt wird: „Ach Herr Gott, daß ich so wirdig wäre gewesen oder noch sein möchte solchs' Bekenntnis und Tods. Was bin ich? Was tu ich? Wie schäme ich mich, wenn ich diese Geschicht lese, daß ich des gleichen nicht längest (wie wohl zehen Mal mehr vur der Welt verdienet) auch zu leiden bin wirdig worden. Wohlan mein Gott, solls so sein, so sei es also, dein Will geschehe”.

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LeerDie Zeugnisse eigener Anfechtungen begleiten auch das weitere Leben, sie kulminieren öfters im Zusammenhang mit dem Steinleiden, aber auch mit erzwungener äußerer Muße. Sie verdichten sich zu Gedankengefechten mit dem altbösen Feind, zu nächtlichen Satansdisputationen, wie Luther sie in der Schrift zur Winkelmesse und Pfaffenweihe von 1533 schildert; hierbei verläßt ihn der Humor keineswegs: „Ich will an mir anheben und vür euch heiligen Vätern eine kleine Beicht tun, gebt mir eine gute Absolution, die euch selbs nicht schädlich sei: Ich bin einmal zu Mitter-Nacht aufgewacht, da fing der Teufel mit mir in meinem Herzen eine solche Disputation an (wie er mir denn gar manche Nacht bitter und saur gnug machen kann)”. Darauf schildert er ein blitzschnelles Hin und Her der Argumente für wie gegen die Winkelmesse und die Christusgegenwart in derselben. Dann kommt er wieder auf sein inneres Ringen zu sprechen: „Hie brach mir wahrlich der Schweiß aus und das Herz begonnst mir zu zittern und zu pochen. Der Teufel weiß seine Argument wohl anzusetzen und fortzudringen und hat eine schwere, starke Sprache; und gehen solche Disputation' nicht mit langen und viel Bedenken zu, sondern ein Augenblick ist ein Antwort umbs ander; und ich hab da wohl erfahren, wie es zu gehet, daß man des Morgens die Leute im Bette tot findet; er kann den Leib erwürgen, das ist eins; er kann aber auch der Seelen so bange machen mit disputieren, daß sie ausfahren muß in einem Augenblick, wie ers mir gar oft fast nahe gebracht hat”. „Melancholie mit agitativem Gepräge”, sicher, nur ist alles höchst intensiv bezogen auf letzte Sinnproblematik, auf eine Gewißheit, die angesichts des Todes standhält. In seinen Briefen von der Feste Koburg vor allem an Melanchthon in Augsburg im Sommer 1530 wird der Unterschied zwischen den beiden Reformatoren deutlich. Luther leidet an der Not eschatologischer Gewißheit; Melanchthon vermag das Geschick der reformatorischen Territorien nicht in Gottes Hände zu legen, er sucht es durch sein Taktieren zu retten und verstrickt sich dabei in Zweideutigkeiten. Luther ruft ihn unermüdlich zum Gottvertrauen auf und kämpft humorvoll gegen den hartnäckigen Blutegel der Sorgen an. Am 30. Juni schreibt er: Melanchthon sei in privaten Kämpfen tapferer, er hingegen in öffentlichen Nöten; dabei deutet er erneut auf seine Anfechtungen hin: „Ich will dir aber bekennen: ich bin in größeren Ängsten gewesen, als du jemals sein wirst; ich hoffe und wünsche es keinem Menschen, auch diesen nicht, die jetzt wider uns rasen, so verworfen und schändlich sie auch sein mögen, daß sie mir darin sollten ähnlich werden. Und dennoch ist mir in solchen Nöten oft Erleichterung geworden durch das Wort eines Bruders, bisweilen von Bugenhagen, bisweilen von dir, bisweilen von Jonas und von anderen. Warum also willst nicht auch du wiederum uns hören, die wir doch gewißlich nichts nach dem Fleisch oder der Welt, sondern nach Gott und ohne Zweifel durch den Heiligen Geist reden?”

LeerBis ans Ende seines Lebens mußte der Reformator die Last der Anfechtungen tragen; dies bezeugt der durch Justus Jonas und Michael Cölius verfaßte Bericht von seinen letzten Stunden sowie der berühmte Zettel mit seinen abschließenden Einsichten. Er stirbt mit den mehrmals rasch wiederholten Nachtbitten, mit dem Sterbegebet des frommen Israeliten sowie des christlichen Beters auf den Lippen: „(Pater), in manus tuas commendo spiritum meum, redemisti me, Domine, Deus veritatis” - „Vater im Himmel, in deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott” (Ps 31,6).

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LeerEr stirbt im Dank an Gott, den himmlischen Vater, daß er ihm den lieben Sohn geoffenbart hat, und bekennt sich zum Christus-Evangelium; selbst in dieser Extremsituation erfolgt noch ein rascher Seitenblick auf „den leidigen Papst und alle Gottlosen”, die Christus schänden, verfolgen und verlästern. Sodann wendet er sich unmittelbar an den Sohn: „Ich bitte dich, mein Herr Jesu Christe, laß dir mein Seelichen befohlen sein.” Darauf erneut zu Gott: „O himmlischer Vater, ob ich schon diesen Leib lassen und aus diesem Leben hinweg gerissen werden muß, so weiß ich doch gewiß, daß ich bei dir ewig bleiben und aus deinen Händen mich niemands reißen kann”. Sein letztes Wort ist ein deutliches Ja auf den charakteristischen Anruf, ob er auf Christus und die von ihm verkündete Lehre „beständig sterben” wolle. Der Anfechtung stemmt sich eine scharf angeblendete Gewißheit entgegen; einer derart bewußt urgierten Gewißheit muß wohl zwangsläufig eine gesteigerte Anfechtung korrespondieren.

LeerDer zwei Tage zuvor skizzierte Ertrag des Lebens bringt einerseits die heilige Schrift und andererseits das intensive Ringen um bestimmte Menschen betonter ein und deutet zugleich die abgründige Ohnmacht an, aus der heraus Gewißheit aufbricht, verweist auf jene Tiefen, über welchen uns das Seufzen des Geistes erhalten muß. „Virgil in seinen Bucolica oder Georgica kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte oder Landmann gewesen. - Cicero in seinen Briefen versteht niemand, er habe denn zwanzig Jahre in einer berühmten Republik geweilt. - Die heiligen Schriften meine niemand genug gekostet zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit den Propheten Gemeinden geleitet.... Versuche du nicht jene göttliche Aeneis, sondern bete tiefgebeugt ihre Fußspuren an. Wir sind Bettler, das ist wahr”.

LeerDies sind einige wenige Schlaglichter auf Luthers persönliche Anfechtungen. Er erfährt auch seine leiblichen Nöte, die ungesunde sitzende Lebensweise, das Steinleiden, die Ohnmachtsanfälle, die Angina pectoris, als satanische Bedrohungen seiner Lebens- und Sterbensgewißheit. In seinen Tischreden und Briefen, Predigten und Schriften agiert er dies gleichsam aus. In seinen Glaubenskämpfen gewinnt das teuflische Gegenüber ein personhaftes Antlitz und eine menschliche Stimme. In seinen nächtlichen Disputen jagen sich Argument und Gegenargument bis hin zu drastischen Gesten. Eine derartige innere Belastung konnte nur von einer ausgezeichneten leiblichen Konstitution durchgestanden werden. Wichtig dürfte fraglos auch gewesen sein, daß Luther den inwendigen Druck nach außen hin in Wort und Schrift hineingebannt und so die Nöte denkerisch durchgearbeitet hat. Von dorther konnte er auf die Argumente seiner Gegner souverän antworten, er hatte sie in seinen nächtlichen Streitgesprächen bereits durchlitten. Zugleich war er in Situationen äußerer Entscheidung ruhig und gelassen, er hatte sie zuvor in der Stille seiner Studierstube durchgekämpft. Nahezu alle seine Äußerungen stehen in einer lebendigen Beziehung zu ganz bestimmten Schriftworten, die er hierdurch verdeutlichen will. Die Schrift, vor allem die Psalmen und die Gleichnisse Jesu, leiten ihn dazu an, die inneren Konflikte in unmittelbarer Anrede, sei es an den Widersacher, sei es an Gott selber, zu überführen.

Quatember 1983, S. 19-25

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-01
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