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Ein Heiliger der Zeitenwende
von Gerd-Klaus Kaltenbrunner

LeerWer im Jahre 1982 Österreich besuchte, dem konnte kaum entgehen, daß allenthalben und auf die verschiedenste Weise eines seltsamen, geheimnisvollen Mannes gedacht wurde, der bereits vor 1500 Jahren in der Nähe von Wien gestorben war. Es handelt sich um Severin von Norikum, über dessen Leben wir verhältnismäßig gut unterrichtet sind, weil einer seiner Schüler, der neapolitanische Abt Eugippius, seine Biographie verfaßt hat. In der Bundesrepublik Deutschland ist diese „Vita Severini” wohl nur Althistorikern und Kirchengeschichtlern vertraut, obwohl zwei Geschichtswissenschaftler vom Range Jacob Burckhardts und Theodor Mommsens dieses Büchlein von knapp fünfzig Seiten als eines der kostbarsten Zeugnisse der Zwischenzeit zwischen untergehender Antike und frühem Mittelalter gerühmt haben. In Österreich hingegen kennt jeder Gymnasiast die lateinische Lebensgeschichte; ja, es gibt sogar in vielen Pfarrgemeinden eigene Gruppen, in denen Handwerker, Hausfrauen, Ingenieure und Bankbeamte die „Vita” lesen und darüber diskutieren. Doch damit noch nicht genug: Es existiert darüber hinaus eine St.-Severin-Bruderschaft, deren Mitglieder sich am 8. eines jeden Monats - der Heilige starb am 8. Januar 482 - treffen, um nach Stunden des Fastens zu meditieren und die Messe zu feiern; dlesem „Laien-Orden” gehören Männer und Frauen aller Berufsgruppen und Altersstufen an, die im Geiste des verehrten Heiligen insbesondere junge Menschen fördern und vereinsamte, pflegebedürftige Altersheimbewohner unterstützen. Die österreichische Bundespost brachte eine Sonderbriefmarke heraus, die an Severinus erinnert; der Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger eröffnete in der Donaustadt Enns eine „Severin-Akademie”, proklamierte das Jahr 1982 zu einem Jahr nationalen Gedenkens an den Heiligen und ernannte den höchstwahrscheinlich aus Italien stammenden „Apostel Norikums” geradezu zum „ersten Österreicher”. Im Linzer Anton-Bruckner-Haus wurde ein Severin-Oratorium uraufgeführt und im ganzen Lande warben Plakate für den Besuch einer großen Ausstellung „Severin zwischen Römerzeit und Völkerwanderung”, die zwischen Ende April und Ende Oktober 1982 in Enns stattfand. Der stattliche Katalog, erschienen im Oberösterreichischen Landesverlag (Linz an der Donau), umfaßt 672 Seiten mit Beiträgen von prominenten Historikern und Archäologen aus West-, Mittel- und Osteuropa. Er ist weit mehr als ein Führer durch eine vorübergehende Ausstellung, sondern stellt ein für noch viele Jahre gültiges Handbuch donauländischer Frühgeschichte dar.

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LeerWer war Severin, dem unser Nachbarland auf so vielfältige Weise gehuldigt hat, mit dem sich mehrere wissenschaftliche Kongresse befaßten, über den laufend neue Bücher erscheinen und dessen sogar das Österreichische Fernsehen mit einem dreistündigen Film gedachte, nachdem bereits früher sein Leben in historischen Romanen von Peter Dörfler (1947) und Alexander Giese (1979) behandelt wurde? Nun, wer Severinus kennenlernen will, muß seine von Eugippius verfaßte Vita lesen. Die wohlfeilste Übersetzung (ohne den lateinischen Originaltext) kann für etwa DM 6.- von der St.-Severin-Bruderschaft (Pfarrplatz 3.-, A-1190 Wien-Heiligenstadt) bezogen werden; einen vollständigen deutschen Text enthält auch das im Amalthea-Verlag (Wien-München 1981) erschienene Buch der führenden österreichischen Archäologin Johanna Haberl „Wien ist älter”. Eine knappe Zusammenfassung und populäre Interpretation der Lebensgeschichte gibt außerdem der Historiker Rudolf Zinnhobler in seiner Broschüre „Der heilige Severin” (Veritas-Verlag, Linz-Wien). Wer er wirklich war, darüber ließ Severinus auch gegenüber sehr neugierigen und ihm nahestehenden Menschen nichts verlauten. Seine Sprache, sein Auftreten und seine Art, mit Freunden und Gegnern umzugehen, ließen allerdings schon die Zeitgenossen auf eine vornehme römische Abkunft schließen. Kurz nach Attilas Tod (453) tauchte er, aus dem Osten kommend, wo er nach seiner Konversion eine Zeitlang eremitisch in der Wüste gelebt hatte, an der Donau auf. Es war dies die Zeit des untergehenden Weströmischen Reiches (das Oströmische mit seiner Hauptstadt Byzanz-Konstantinopel dauerte noch tausend Jahre, bis es den Türken erlag) und der Völkerwanderung. Severinus erkannte die Not der romanischen Siedler in den Donauprovinzen. Entgegen seiner Neigung zu einem Leben in kontemplativer Einsamkeit wirkte er am Limes als eine Art Volkstribun und „Interrex”. Er vermittelte zwischen germanischen Heerführern und den Resten römischen Militärs, bemühte sich um die Befreiung von Gefangenen, organisierte Lebensmittel- und Kleidersammlungen sowie Evakuierungen, gründete Kirchen und Klöster und scheint am Ende seines Lebens die einzige Autorität - nicht nur auf religiösem, sondern noch weit mehr auf politischem Gebiet - zwischen Passau und Wien gewesen zu sein. Obwohl ihn spätere Bilder meist als Abt oder sogar Bischof darstellen, ist es zweifelhaft, ob er überhaupt ein Mönch im üblichen Sinne war. Die Priesterweihe besaß er jedenfalls nicht. Doch er führte ein Leben strengster asketischer Disziplin: bedürfnislos, bescheiden und am Hunger seiner darbenden Mitmenschen weit mehr leidend als am eigenen. Die klösterlichen Niederlassungen, die er in .Passau-Innstadt, luvavum-Salzburg, Lauriacum-Lorch (Enns) und in Faviani (Wien) gründete, waren nicht nur Stätten des Kults und der Meditation, sondern auch karitative, diplomatische und teilweise sogar militärische Stützpunkte. Als einige Jahre nach seinem Tode die ehemals römischen Provinzen an der Donau immer mehr in den Sog germanischer Kriegslust und Beutegier gerieten, brachen mit großen Teilen der romanischen Bevölkerung auch die Mönche von Faviani mit den sterblichen Überresten des heiligen Severinus auf und zogen nach Italien, wo inzwischen Theoderich der Große einige Jahrzehnte hindurch den Frieden und ein weitestgehendes Überleben der lateinischen Kultur gewährleistete. Nach manchen Umwegen gelangten die Gebeine des Heiligen nach Neapel. Seit den Napoleonischen Kriegen ruhen sie in der Pfarrkirche „San Sosio e Severino” in Frattamaggiore, etwa zehn Kilometer nördlich von Neapel.

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LeerIn der kleinen St.-Jacobs-Kirche des Wiener Vororts Heiligenstadt, wo Beethoven eine Reihe seiner bedeutendsten Werke schuf, zeigt man seit etwa dreißig Jahren ein leeres Grab. Es wurde bei einer Restaurierung des Gotteshauses nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. Archäologische Untersuchungen ergaben: Das Grab stammt aus dem fünften Jahrhundert. war für eine angesehene Persönlichkeit bestimmt und diese war offenbar ein Christ. Dafür spricht auch ein frühchristliches Taufbecken unweit der Grabstätte. Nicht nur die Heiligenstädter, sondern auch so bedeutende Gelehrte wie Ernst-Karl Winter und Johanna Haberl halten dieses leere Grab für den Ort, an dem Severinus ruhte, bevor die Reliquien von seinen Mönchen exhumiert und nach Italien gebracht wurden. Schon der bis ins frühe Mittelalter zurückzuverfolgende Name der Pfarre ist ein Indiz: „Heiligenstadt” - die Stätte des Heiligen, der sich, wie Eugippius berichtet, immer wieder zu Gebet und Schriftlesung in eine „in den Weinbergen” gelegene Zelle zurückzog. Der auf den Hügeln um Heiligenstadt seit Römerzeiten gedeihende Wein ist heute noch ein von Kennern überaus geschätzter Tropfen. Rund um die romanische Jakobskirche mit dem leeren Heiligengrab gruppieren sich einige jener stimmungsvollen Weinschenken, die in Wien „Heurige” genannt werden.

LeerDoch es geht um mehr als ein frühchristliches Grab. Severinus, der Heilige zwischen Ost und West, zwischen Germanentum und römischem Erbe, zwischen Spätantike und Mittelalter, zwischen Heidentum und Christentum, geht uns heute mehr an als viele andere, zeitlich näherstehende Heilige der Christenheit. Als „Christ an der Grenze” in einer Epoche des Umbruchs war er ein Mann des Ausgleichs und der Vermittlung, weniger ein theologischer denn ein politischer Heiliger im anspruchsvollsten Sinn des Wortes. Aus christlich inspiriertem Ethos verschrieb er sich der Aufgabe, das humane Erbe der römischen Zivilisation zu retten. In immer neuen Grenzsituationen sich bewahrend, zeigte er auf exemplarische Weise, daß es möglich ist, einander sonst ausschließende Lebensformen polar zu integrieren: Kontemplation und Aktion, Mystik und Realpolitik, Askese und Diplomatie, soziales Engagement und prophetisches Charisma, Sehnsucht nach gotterfüllter Stille und Ausübung öffentlicher Autorität.

LeerDer aus protestantischem Pfarrhaus stammende Skeptiker Jacob Burckhardt nannte Severinus „eine der tröstlichsten Erscheinungen der Geschichte” und seine letzte Ruhestätte bei Neapel „ein Heiligtum”. Warum? Weil dieser Heilige der ungeteilten Christenheit „ausgehalten hat im Umbruch der Dinge”. Wie man sieht: Severinus ist in gewisser Weise sehr zeitgemäß, ja aktuell, und deshalb sollte man die Erinnerung an ihn nicht den ihm seit jeher besonders gewogenen Österreichern und Italienern ganz überlassen.

Quatember 1983. S. 37.39

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-01
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