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Zu Gast bei Gästen
von Erhard Lerch

LeerWo die Christen zum ersten Male „Christen” genannt wurden (Apg. 11,26), in der Gegend um Antiochien (heute: Antakia), in der südöstlichen Ecke der Türkei, nahe der syrischen Grenze, ist die Heimat einiger hundert arabisch-orthodoxer Christen, die zwischen Tübingen und Heilbronn, zwischen Pforzheim und Schwäbisch-Gmünd, rings um Stuttgart also, leben und arbeiten. Einige sind als Gastarbeiter, andere als Asylanten hier; viele schon seit mehr als zehn Jahren. Den Behörden und der deutschen Bevölkerung gelten sie als Türken. Aber sie sind unter dieser Minderheit in unserem Land wiederum eine Minderheit. Nicht nur die Religion, auch die Sprache trennt sie von den übrigen in Deutschland lebenden Türken. Für die meisten ist Türkisch eine - wenngleich früh erlernte - Fremdsprache. Die Kinder und Jugendlichen können sich mit ihren türkischen Klassenkameraden nur in Deutsch verständigen. In den Familien, wie auch in den wenigen noch fast geschlossen christlichen Dörfern ihrer Heimat wird ein arabischer Dialekt gesprochen.

LeerKirchlich leben diese Menschen bislang in einer kaum vorstellbaren Diasporasituation. In ihrer Heimat gehören sie zum orthodoxen Patriarchat von Antiochien, das heute in Syrien seinen Sitz hat. Auf Weisung der türkischen Regierung ist die Verbindung zum angestammten Patriarchat offiziell unterbrochen worden. Mehr schlecht als recht werden die Gemeinden vom Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel (Istanbul) versorgt. Hier in Deutschland haben sie einen jungen Priester, Sergios Barbe, der in Krefeld wohnt und sich als Apotheker seinen Lebensunterhalt verdient.

LeerBis zum Osterfest dieses Jahres gab es für diese arabisch-orthodoxen Christen keine Möglichkeit, im süddeutschen Raum einen Gottesdienst ihrer Kirche zu feiern. Die Osternachtfeier war nun der erste in einer Reihe von Gottesdiensten, die sie in unserer evangelischen Kirche hier in Magstadt bei Stuttgart halten konnten. Am Pfingstmontag hatten wir dann sogar den Besuch des Vikar-Bischofs Gabriel aus Paris; Anlaß, um im Anschluß an den Gottesdienst ein großes Fest im evangelischen Gemeindehaus zu feiern; Anlaß auch, um eine Taufe zu halten, bei der das alte, vorreformatorische Taufbecken unserer Kirche in seiner ganzen Größe benutzt wurde - sicher das erste Mai seit mehr als 450 Jahren. Für die anwesenden evangelischen Christen war das ein eindrucksvolles und denkwürdiges Erlebnis. Zu der evangelischen Pfarrfamilie in Magstadt haben einige der in unserem Ort lebenden arabischen Familien inzwischen ein geradezu freundschaftliches Verhältnis entwickelt. So ergab es sich, daß ich in diesem Jahr die herzliche Einladung erhielt zu einem Besuch in ihrer arabischen Heimat. Die Hochzeit einer Tochter sollte gefeiert werden. Ich erlebte dann drei Hochzeiten in 14 Tagen. Und hätte ich noch eine Woche länger bleiben können, wären es fünf gewesen!

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LeerWenn man als Tourist dieses vom Fremdenverkehr noch nicht entdeckte Gebiet der Türkei besucht, kann man keine ungünstigere Zeit wählen als die Sommermonate. Wenn es abends bdquo;kühl” wurde, zeigte das Thermometer ca. 30°. Eine einzige Nacht ohne ein Moskitonetz über meinem Bett lehrte mich gründlich den Wert dieser Einrichtung schätzen. Aber solcherlei Plagen wurden bei weitem aufgewogen nicht nur durch die ja sprichwörtliche überwältigende Gastfreundschaft meiner arabischen Freunde, sondern auch durch die Eindrücke, die ich vom Leben der Christen in diesem heute fast völlig islamisierten Lande gewann. Überall begegnet man neuen, zum Teil architektonisch sehr reizvoll gebauten Moscheen. Für die Errichtung von Kirchen wird keine Bauerlaubnis erteilt. Ich vermag zwar keine Zeichen einer regelrechten Christenverfolgung zu entdecken, aber daß die Christen hier eine benachteiligte Minderheit sind, ist augenfällig. Ungläubig und verständnislos werde ich gefragt, ob es wahr sei, daß man in Deutschland den Moslems beim Bau von Moscheen sogar helfe. Meinen Hinweis auf die hoffentlich ansteckend wirkende Religionsfreiheit in unserem Land hält man für naiv. Leidvolle Erfahrungen haben diese Menschen bisher eines anderen belehrt.

LeerDas Leben der Christen dort in der südostlichen Türkei läßt sich nur schwer mit unseren mitteleuropäischen Verhältnissen vergleichen. Unsere Ordnungsmaßstäbe, unsere Vorstellungen von dem, was sein muß, erweisen sich hier als völlig unbrauchbar. In Iskenderun zum Beispiel höre ich, wie man das Problem angeht, für den 84jährigen Priester einen Nachfolger zu finden: Die Gemeindevorsteher besuchen nacheinander ältere Männer der Gemeinde, die zwei Bedingungen erfüllen müssen, um dem Bischof zur Weihe gesandt zu werden. Sie müssen einen guten Leumund haben und die Liturgie in hocharabischer Sprache lesen und singen können, eine inzwischen selten gewordene Fähigkeit. Die jüngeren Christen verstehen Hocharabisch kaum noch; und lesen können sie es schon gar nicht. Bitter beklagen sie sich, daß nicht einmal die ohnehin seltene Predigt für sie verständlich sei. Ebenfalls in Iskenderun treffe ich Yussuf, einen Imbißstubenbesitzer, der mir als evangelischer Pfarrer vorgestellt wird. Zu welcher Kirche er gehört, weiß er nicht recht zu sagen. Ja, ich habe den Eindruck, er verstehe den Sinn dieser Frage gar nicht. Er sei früher orthodox gewesen, habe in Istanbul eine Schweizerin geheiratet, die dort einen evangelikalen Bibelkreis leitete, sei nun erst wirklich zum Glauben gekommen, habe sich noch einmal taufen lassen und dann in Iskenderun zu missionieren begonnen. Und jetzt ist er eben der Pfarrer einer kleinen Gemeinde, die jeden Sonntag in der armenischen Kirche Gottesdienst und für die Kinder eine Sonntagsschule hält. Wahrend er seine Gäste in der Imbißstube bedient, erklärt er uns in einem Gemisch von Arabisch und Englisch, wie er über die Kindertaufe denke. An den Wänden des kleinen Restaurants hängen Karten mit Bibelsprüchen in türkischer Sprache und anspruchslose Farbdrucke mit der Wiedergabe biblischer Szenen. Die - so erzählt uns bdquo;Pfarrer” Yussuf, wahrend er eine Salatplatte zusammenstellt - gaben ihm immer wieder Gelegenheit, auch Moslems von Jesus zu erzählen. Und wie um den Erfolg dieser Missionsarbeit zu dokumentieren, macht er uns mit einem jungen ehemaligen Moslem bekannt, den er erst vor kurzem getauft habe.

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LeerMeine orthodoxen Freunde erklären mir zwar, daß sie eigentlich alles, was sie über die biblischen Geschichten wüßten, von bdquo;Pfarrer” Yussuf gehört hätten, und zwar in seiner Sonntagsschule. Schließlich aber fühlten sie mich doch eher zu Hause in ihrer angestammten Konfession. Da ist und bleibt ihnen zwar vieles unverständlich, und doch vermittelt sie Heimat. Diese Heimat ist ein Glaube, der von unzähligen wunderbaren Geschichten und Erlebnissen gespeist wird. Erschreckend für mich ist demgegenüber die Unkenntnis im Blick auf die Bibel. Es geschieht nicht selten, daß ich, der Protestant, meinen orthodoxen Gastgebern die biblische Darstellung einer Ikone erklären muß. Und eine Frau, die in einer Kirche so etwas wie die Rolle einer Mesnerin übernommen hat, ist sogar sehr erstaunt, zu hören, daß Jesus nicht in Jerusalem geboren sei; fast so erstaunt wie die Weisen aus dem Morgenland, denke ich mir. Sympathisch dagegen wirkt auf mich der lebendige Umgang mit der Welt der Legenden und Sagen. Von einer Burg etwa weiß man zu berichten, daß dort einst ein Schlangenkönig gewohnt habe. Wer diese Burg wann erbaut habe, ist typisch mitteleuropäisches Interesse und wird beantwortet mit dem Hinweis, sie sei schon immer dagewesen und sicher fast so alt wie die Welt. Was sagen schon Zahlen und Namen über ein solch pracht- und geheimnisvolles Gebäude! Der kleine Prinz von Saint-Exupery hätte hier viele Geistesverwandte gefunden.

LeerSchwer läßt sich etwas über die Zukunft dieser Christen in und um Antiochien sagen. Ihre Zahl ist klein geworden. Die kirchliche Bindung ist zwar noch ungebrochen; aber die Kritik der Jugend an erstarrten und nicht mehr verstandenen Traditionen wächst. Ein junger Mann, der bei uns in Magstadt kirchliche Jugendarbeit kennengelernt hat und nun wieder in Iskenderun lebt, beklagt sich bitter, daß nichts dergleichen in seiner Heimat möglich sei.

Leerbdquo;Ich habe euren evangelischen Gottesdienst in Deutschland besser verstanden als unsere Liturgie in hocharabischer Sprache.” Und: bdquo;Es ist hier niemand, der uns die Bibel erklärt.” Das sind bittere Urteile und Klagen, die aber vielleicht vom Aufkommen einer neuen Frömmigkeit zeugen, die für die Zukunft hoffen läßt. Diese Frömmigkeit unter unseren Freunden zu stärken und zu fördern, ohne dabei Proselyten machen zu wollen, wäre eine lohnende Aufgabe evangelischer Christen in Deutschland.

LeerIch war dankbar, bei unseren Gästen zu Gast gewesen zu sein, und bin mehr denn je davon überzeugt, daß wir einander viel geben und voneinander lernen können.

Quatember 1983, S. 39-42

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-01
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