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An Carl Happich 22. 10. 1939
von Wilhelm Stählin

LeerLieber Freund!

LeerDu hast mir wiederholt gesagt und geschrieben, wie sehr Dich eben jetzt die Frage beschäftigt, was denn der „Heilige Geist” eigentlich sei; Du hast mir von Deinen Unterredungen mit angesehenen und tüchtigen Theologen berichtet, die auf diese Frage auch keine rechte Antwort gewußt und anscheinend noch nicht einmal gründlich darüber nachgedacht hatten. Die Antwort, von der Du mir im Einzelnen erzählst, „darüber werde eben gearbeitet, und es seien schon zwei Bücher über den Heiligen Geist erschienen”, in der Tat - darin stimme ich Dir völlig zu - ein fast komisches Eingeständnis der Ratlosigkeit oder richtiger der beschämenden Tatsache, daß der Heilige Geist für diese Theologen eine Angelegenheit der literarischen Diskussion geworden ist. In dieser Lage hast Du einmal selber aufgeschrieben, was sich Dir bei Deinem Nachdenken über den Begriff des Heiligen Geistes ergeben hat; ich danke Dir sehr, daß Du mir diese Deine Überlegungen mitgeteilt hast; sie haben mich angeregt nun ein gleiches zu tun, und das ist, so viel ich sehe, auch die einzig sinnvolle Form, in der ich Dir antworten und das von Dir begonnene Gespräch meinerseits aufnehmen und fortsetzen kann.

LeerEs hilft mir und vielleicht auch Dir, wenn ich das, was ich zu sagen habe, in ein paar Gedankengruppen ordne und gliedere.

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Leer1. Du erinnerst mit allem Recht daran, daß ja wir alle sonntäglich in dem Bekenntnis der Kirche den Glauben an den Heiligen Geist bekennen; es sei also wohl notwendig, von dem auszugehen, was in den alten Bekenntnissen der Kirche über den Heiligen Geist gesagt ist. Du kennst meine Vorliebe für das „Nicaenische Bekenntnis”; einer seiner Vorzüge ist zweifellos, daß es sich nicht wie das Apostolicum mit der einfachen Nennung des Heiligen Geistes begnügt, sondern über ihn die schönen und sehr inhaltreichen Aussagen macht: Dominum et vivificantem, qui ex patre filioque procedit, qui cum patre et filio simul adoratur et glorificatur, qui locutus est per prophetas. Ich darf Dich aber dabei auf eine scheinbar geringfügige Äußerlichkeit aufmerksam machen, daß nämlich in diesem Nicaenum das lapidare Credo in Spiritum Sanctum durch die einfache Copula ersetzt ist: Et in Spiritum Sanctum. Das widerstreitet in gewissem Maß der Feierlichkeit, die wir gerade an dieser Stelle ungern entbehren, aber es enthält dafür den deutlichen Hinweis darauf, daß das, was die christliche Kirche mit dem Heiligen Geiste meint, nur im Zusammenhang des ganzen trinitarischen Glaubens recht verstanden werden kann, und man muß wohl auch die umstrittene Formel über das Hervorgehen des Geistes aus dem Vater und dem Sohn und das Wort über die Ehre und Anbetung, die dem Heiligen Geist mit dem Vater und dem Sohne gebührt, so verstehen, daß der Heilige Geist nicht außerhalb oder abseits der Welt der Schöpfung und Erlösung wirkt und nur im Zusammenhang mit dem Glauben an den Vater und den Sohn erbeten und angebetet werden kann. Ich hoffe zeigen zu können, daß das mehr als eine theoretische oder spitzfindige Erwägung ist.

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Leer2. Wenn ich diese Aussagen des Nicaenischen Bekenntnisses in einen Satz zusammenzufassen suche, dann muß ich mir etwa folgende Formel zurechtlegen: Der Heilige Geist ist diejenige göttliche Aktivität (dominum), durch die Gott seinen Weltplan, der auf das Heil der Menschheit zielt, verwirklicht. Soferne man diesen ganzen Weltplan als einen Ausfluß der göttlichen Liebe verstehen muß, darf man auch den Heiligen Geist als eine Bewegung der göttlichen Liebe auffassen. Dieser Ausdruck wird nur dadurch, wie Du völlig richtig empfindest, bedenklich und verdächtig, daß wir diese Liebe selbst nach Art menschlicher Gutherzigkeit verstehen, wodurch dann aus dem Heiligen Geist eine lobenswerte Gesinnung tätiger Menschenfreundlichkeit wird; man muß schon eher, wenn man den Satz, daß das Wesen des Heiligen Geistes Liebe sei, verstehen will, sich daran erinnern, daß Dante auch über der Hölle geschrieben sieht: Fecemi. . . il primo amore! - Der Glaube an Christus, von dem der Glaube an den Heiligen Geist nicht losgelöst werden kann, ist nicht der Glaube an die Göttlichkeit des Menschengeschlechts, sondern an den Gott, der sich wunderbar, in dem Mysterium der Inkarnation, mit dem Menschengeschlecht verbunden hat; nicht der Glaube an den angeborenen Adel der Menschenseele, sondern der Glaube an die Selbsthingabe Gottes, der die Sünde der Welt tragt, bis an das Kreuz, an das ihn die Menschen schlagen, weil sie nichts anderes mit ihm anzufangen wissen; nicht der Glaube an die sieghafte Kraft ungebrochener Vitalität, sondern der Glaube an den Gott, der durch Seine Macht Christus von den Toten erweckt hat. Wenn Gott durch den Heiligen Geist das in der Menschenwelt verwirklicht, was in Christus urbildlich geschehen ist, dann ist das „Mysterium der Wandlung” der angemessene Ausdruck für dies Werk des Heiligen Geistes: die Einwohnung Gottes im Menschen und die Erfüllung seiner Bestimmung durch das in Liebe gebrachte Opfer und durch ein schmerzliches Sterben hindurch. Dann aber ist auch ohne weiteres verständlich, warum Sturmwind und Feuer, die beiden Elemente physischer Verwandlung, Zeichen und Träger dieses Geistes sind. Dann zielen auch alle möglichen, Dir besonders vertrauten Symbole mittelalterlicher Geheimweisheit, vor allem das ganze Bemühen der echten Alchimie, auf eben jenen geheimnisvollen Vorgang, dessen wirkende Kraft die Kirche den Heiligen Geist nennt.

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Leer3. Du nimmst Anstoß an der Behauptung, daß der Heilige Geist nur innerhalb der Christenheit und nur in der Gemeinde wirke. Diesen Deinen Einspruch gegen eine unerlaubte Verengung und Verkleinerung des Heiligen Geistes verstehe ich sehr wohl und versuche darum, das Anliegen, das hier um Ausdruck ringt, so zu formulieren, daß Deinem Bedenken zugleich Rechnung getragen wird. - Ich erinnere noch einmal an den trinitarischen Zusammenhang des ganzen christlichen Glaubens. Er schließt ja auch die Gewißheit ein, daß Christus bei der Weltschöpfung beteiligt ist, daß also grob gesprochen Christus, seine Menschwerdung und sein Erlösungswerk nicht nur eine Notlösung in einer durch das Dazwischenfahren des Teufels mißlungenen Welt, sondern die ursprüngliche Intention der göttlichen Weisheit und Liebe ist. Darf man das sagen, so darf, ja muß man auch das andere sagen, daß die göttliche Aktivität, durch die alle Dinge geschaffen sind, keine andere Kraft ist als die Aktivität, durch die die Menschenwelt zu ihrem Heile gewandelt wird. (Hier geht es um den unerbittlichen Gegensatz zu jedem gnostischen oder anderen Dualismus im letzten Weltverständnis!) Insofern ist der „Geist”, der im Anfang über den Wassern schwebt, der Heilige Geist, und der göttliche Odem, durch den der Mensch als solcher ins Dasein gerufen wird, ein Anfang der Bewegung, die der Heilige Geist vollendet. Die christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, ist - in ihrem wahren Sinn, von dem ihre Wirklichkeit oft gänzlich sich entfernt - der Ort in der Welt, wo diese Wandlung des Menschen in das Bild des „Sohnes” geschieht und dadurch die zerbrochene Welt zu einer neuen Einheit und Ganzheit geheilt wird; insofern stehen der Glaube an den Heiligen Geist und der Glaube an die Eine heilige Christenheit nicht nur äußerlich nebeneinander, sondern beides ist im tiefsten Grund eines und dasselbe. Aber so wie die ganze Schöpfungswelt und die ganze Geschichte „teleologisch”, von ihrem Ziel und Ende her verstanden werden muß, so ist diese in der Christenheit sich verwirklichende Kraft schon am Werk auf allen jenen sehr verschiedenartigen Wegen, auf denen die Menschheit diesem ihrem Ziele entgegengeführt worden ist und auch heute noch geführt wird. Die christliche Kirche hat diese göttliche Vorbereitung immer angeschaut an der Geschichte des „alten Bundes”; darum sagt das Bekenntnis, daß der Heilige Geist - nicht irgend etwas anderes - geredet habe durch die Propheten. Es ist nicht, wie Du argwöhnst, eine Ausrede, wenn wir sagen, daß diese ganze prophetische Predigt eine Vorbereitung gewesen sei; sondern es hängt der ganze Glaube, daß diese Geschichte wirklich einen Sinn, nämlich ein Ziel hat, an diesem Satz. Man muß ja hier nicht nur an die Propheten und ihre Reden, sondern an die ganze Geschichte denken, von der das Auftreten dieser Propheten gar nicht zu trennen ist. Alles, was darüber zu sagen ist, ist in dem doppelsinnigen Wort „vorläufig” enthalten, wenn man nicht nur, wie es meist geschieht, das Negative, sondern auch das Positive aus diesem Begriff der Vorläufigkeit heraushört. Eben dieses Positive ist gemeint in den sehr erstaunlichen Aussagen einzelner neutestamentlicher Stellen (vor allem des Johannes-Evangeliums und des Hebräerbriefes), wonach das Zukünftige, nämlich Christus, in diesen alttestamentlichen Geschehnissen und Gesichten schon gegenwärtig gewesen sei.

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LeerEs ist aber zu allen Zeiten eine sehr ernsthafte Streitfrage gewesen, ob etwas Analoges auch von dem „heidnischen” Anmarschweg gesagt werden darf; oder richtiger: ob diese ganze Welt heidnischer Religion auch als ein Anmarschweg gesehen werden darf, oder ob hier nur ein ausschließender Gegensatz besteht. Die Missionsgeschichte der letzten Jahrzehnte, auch die Berichte von der Konferenz in Tambaram (Dezember 1938) spiegeln deutlich das heiße Ringen um diese Frage. Man muß die Angst vor einer falschen Verbindung, vor einer das Geheimnis der Erlösung auflösenden Vermengung und Verfälschung verstehen und ganz ernst nehmen; und man kann doch, wie ich das ebenso wie Du tun möchte, mil großer Entschiedenheit bemüht sein, auch in dieser Welt des vorchristlichen Heidentums die Annäherungslinien an die Zeit und den Ort der Erfüllung, also die Spuren des Heiligen Geistes zu sehen. (Niemand kann übersehen, daß hier einer der tiefsten und folgenschwersten Gegensätze innerhalb unserer theologischen Selbstbesinnung über das Christentum aufbricht.) Ich glaube, daß hier von Anfang an ein fühlbarer Gegensatz zwischen der rein theologischen Reflexion und der kirchlichen Praxis, vor allem auch der künstlerischen Gestaltung wirksam ist. Die Theologen glaubten das Christentum in seiner Absolutheit zu verteidigen, wenn sie nur den Unterschied und Abstand betonten; aber die christlichen Kirchen sind über heidnischen Opferstätten erbaut, heilige Zeichen der vorchristlichen Zeit und unzweifelhaft heidnische Feste sind in den Dienst des neuen Glaubens übernommen worden, und völlig unbedenklich hat die Kirche den Dies solis als den Tag ihres Herrn begangen. Mir ist immer das eindrücklichste Beispiel für diese Weitschaft das herrliche Chorgestühl des Ulmer Münsters gewesen, wo in drei Reihen über einander die drei Stufen und Stadien der Verwirklichung dargestellt sind: die Apostel und Märtyrer als die Zeugen des vollendeten Heils, darüber die Propheten des alten Bundes, und - die Philosophen und Sibyllen! Alle Bilder sind zur Seite des Weges, der zum Altar als der Statte des gegenwärtigen Heiles führt.

LeerBei den Beispielen, die Du anfuhrst, von dem chinesischen Abt, der regelmäßig das Neue Testament liest, oder dem indischen Tempel, in dem das Lukas-Evangelium feilgeboten wird, ist nur die Frage zu stellen, ob hier diese innere Ordnung gewahrt wird, oder ob, worin ja gerade die Inder erstaunlich weitherzig sind, Christus in dem großen Pantheon unzähliger Götter einen Nebenaltar eingeräumt bekommt.

LeerEs gehört nicht ganz in diesen Zusammenhang, aber ich kann es an dieser Stelle nicht unterdrücken: Der Versuch, der unmögliche Versuch, aus der Situation des nachchristlichen Heidentums in die Situation des vorchristlichen Heidentums zurückzuspringen, ist das, was die Bibel die Sünde wider den Heiligen Geist nennt. Denn es gibt ebenso im Leben der Menschheit wie in dem Lebensgang des Einzelnen eine vorchristliche und eine nachchristliche Situation.

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Leer4. Genau das Gleiche gilt für die Frage, ob der Heilige Geist nur in der Gemeinde oder auch in den Einzelnen wirke. Hier darf ich mich ganz kurz fassen; die Frage ist, gerade heute, wichtig genug, aber sie steht in unserem Gespräch eben nicht im Vordergrund. Wenn man den ungeistlichen oder zum mindesten langweiligen Zustand unserer „Gemeinden” betrachtet, so erscheint natürlich die Behauptung, daß hier und nur hier der Heilige Geist zu finden sei, als eine groteske Anmaßung, und wir flüchten uns in Gedanken zu den Einzelnen und Einsamen, die offenbar von dem Heiligen Geist durchdrungen, bewegt und gewandelt waren. Dennoch haben wohl gerade diese in Wahrheit „geistlichen” Manner und Frauen ein sehr deutliches Empfinden davon gehabt, daß sie durch die in ihnen wohnende und wirkende Gotteskraft in einen großen Zusammenhang eingefügt waren, nicht als „Gemeindeglieder” im heutigen Sinn, aber in dem Sinn, der mit diesem mißbrauchten Wort eigentlich gemeint ist: als Glieder an dem Leibe Christi, als Bausteine eines geistlichen Hauses; als solche zu dem Dienst der Liebe, zu einer priesterlichen Stellvertretung berufen. Wer das nicht will, sondern nur ein „privates” geistliches Leben „besitzen” will, der hat gewiß nicht den Heiligen Geist. Freilich ebenso wenig derjenige, der sich durch die Zugehörigkeit zu irgend einer „Gemeinschaft” dem strengen Gesetz persönlicher Heiligung und Wandlung entziehen will. Beide Gefahren sind nur scheinbar entgegengesetzt; der extreme Individualismus kann jählings in einen verantwortungslosen Kollektivismus umschlagen und es kann sich umgekehrt hinter einer lauten Gemeinschaftsideologie ein völliger Mangel wirklicher Verbindung zwischen Ich und Du verbergen. Zu der Lehre von dem Heiligen Geist gehört deswegen auch eine Lehre von der christlichen Idee der Gemeinschaft, und es müßte darin gezeigt werden, daß die Liebe, die etwas mit dem Heiligen Geist zu tun hat, über den Gegensatz zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft tatsachlich hinausführt und nicht zuläßt, daß das eine gegen das andere ausgespielt wird.

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Leer5. Indem ich dies alles niederschreibe, kommt es mir alles so ganz selbstverständlich vor, daß es sich kaum lohnte, das alles noch einmal und kaum mit neuen Worten zu sagen. Zugleich aber erinnert mich Dein Brief und Deine Erfahrung daran, daß diese selbstverständlichen Erkenntnisse eben in unserer Evangelischen Kirche auch den meisten Theologen vielleicht nicht aus ihrem theologischen Lexikon, wohl aber aus ihrem unmittelbaren Bewußtsein entschwunden sind, und ich muß also mit Dir darüber nachdenken, wie das gekommen ist und was wohl der tiefste Grund dieses Mangels ist. - Du weißt, daß mir seit langem die Frage zu schaffen macht, ob nicht der Preis, der in der Reformation für die Reinigung der Kirche gezahlt worden ist, ein allzu hoher gewesen ist. Ich versuche den Schaden, der damals entstanden ist, auf eine einzige Formel zu bringen und müßte dann sagen, daß damals der wirklich trinitarische Charakter des christlichen Glaubens verloren gegangen ist. Natürlich dachte niemand daran, etwa - so wie es später die Aufklärung zu tun bereit war - den Dreieinigkeitsglauben als eine nicht heilsnotwendige Spekulation theoretisch preiszugeben; vielmehr wird diese Lehre in dem ersten Artikel der Augsburgischen Konfession ausdrücklich und feierlichst bestätigt. Aber die Erkenntnis, daß der christliche Glaube immer zugleich ein Glaube an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, anders ausgedrückt ein Glaube an Schöpfung, Erlösung und Heiligung ist, entschwindet aus dem unmittelbaren religiösen Bewußtsein. Ich glaube - dieser Gedanke verfolgt mich seit einer Reihe von Jahren, ohne daß ich die Zeit oder auch nur das wissenschaftliche Rüstzeug hatte, dem weiter nachzugehen -, daß diese Entwicklung in jenen Wandlungen des gesamten Denkens und Weltverständnisses wurzelt, die schon mit dem dreizehnten Jahrhundert einsetzen; ich kann eher die Wirkungen als die historischen Ursachen beschreiben. Das alte Luthertum hatte ebenso wie Luther selbst noch ein völlig sicheres Gefühl dafür, daß das erlöste Kind Gottes zugleich ein neues Verständnis der Schöpfungswelt gewonnen hat und nun erst recht gelernt hat, Gott um seiner Kreaturen willen zu loben. Wir kennen das ja alle aus den Liedern Paul Gerhardts. Aber der Zusammenhang ist doch schon irgendwie gelockert; die Bahn ist frei für eine Art von Frömmigkeit, die von einem Zusammenhang zwischen Christus und der Welt der Kreaturen nichts mehr weiß und sich dafür nicht mehr interessiert. Daraus entsteht dann auf der einen Seite eine naturfremde Christlichkeit, die den Boden unter den Füßen verloren hat und gerade dies für besonders christlich halt, auf der anderen Seite eine Naturbetrachtung, die gar nichts mit Christus anzufangen weiß und darum versuchen muß, den Sinn dieser Welt in ihr selber zu suchen. Aber - darauf kommt es für unser Gespräch allein an - genau die gleiche Loslösung vollzieht sich zwischen Christus und dem Heiligen Geist. Hier ist nun unzweifelhaft die vom Humanismus genährte Vorstellung schuld, daß man zu einer historischen Tatsache ein unmittelbares Verhältnis gewinnen könne, wenn man sich mit den literarischen Urkunden dieser Ereignisse beschäftigt. Aus dem Kampf gegen die menschlichen Traditionen wird die Verachtung der traditio als eines lebendigen Vorgangs, eben jenes Vorgangs, in dem und durch den der Heilige Geist am Werke ist. Die ganze Aufmerksamkeit der Theologen richtet sich auf die Person und das Werk Christi, und hier werden entscheidende urchristliche Erkenntnisse wieder ans Licht gebracht. Aber die ganzen Fragen der Verwirklichung, ebenso der persönlichen Heiligung wie die Fragen der kirchlichen Gestaltung rücken an den Rand des Sehfeldes. Der Heilige Geist war eine Vokabel, die selbstverständlich zu dem theologischen und erbaulichen Sprachschatz gehörte, aber die kein besonderes Gewicht hatte. Im Gegenteil, sie wurde aus bestimmten Gründen unheimlich und verdächtig. Es gibt ein sehr interessantes Buch von Rufus M. Jones, auch ins Deutsche übersetzt („Geistige Reformatoren”, charakteristischerweise im Quäker-Verlag erschienen), das sich gerade mit jenen Männern befaßt, die von den Reformatoren als Schwärmer abgetan worden sind; sie sind diejenigen, die vom Geist redeten und von diesem Geist leben wollten, auch in großer Zahl diesen ihren Geist-Glauben mit dem Märtyrertode besiegelt haben. Sie kämpften gegen den humanistischen Historismus der Reformatoren und verlangten ungestüm und oft unklar nach geistlicher Verwirklichung. Die Reformatoren witterten bei ihnen Selbstherrlichkeit des frommen oder sich für fromm haltenden Menschenherzens, weil diese Leute ebenso die Buchreligion wie die Priesterherrschaft, die Theologenkirche ebenso wie die Papstkirche verwarfen. Ich zweifle keinen Augenblick, daß alle mißtrauischen Vorwürfe der Reformatoren gegen die „Spiritualisten” Grund genug hatten, aber ich zweifle ebensowenig daran, daß in diesem leidenschaftlich geführten Abwehrkampf ebenso viel Unrecht geschehen ist wie in der Zerstörung aller als „katholisch” verdächtigen Tradition. Ja dieser Gegensatz zwischen der Reformation und den „Schwärmern” - bei Jones hat man einen starken Eindruck davon, daß das keineswegs lauter Schwärmer waren - ist das Symptom einer verhängnisvollen Verengung und Vereinseitigung des Christentums, bei der eben diese eigentliche „pneumatische Verwirklichung” verloren geht. Alle Mängel des „Protestantismus”, der Mangel an kirchlicher Gestalt, an wirksamer Seelsorge, der gesetzliche Biblizismus und die Vorherrschaft der Predigt und der lehrhaften Unterweisung hangen damit zusammen. Der Protestantismus hat aus Angst vor der Schwärmerei keine Lehre vom Heiligen Geist, ebenso wie er aus Angst vor dem Katholizismus keine Lehre von der Kirche entwickelt hat.

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Leer6. Damit aber rücken theoretisch alle diejenigen Aussagen der Heiligen Schrift ins Halbdunkel zurück, die von dem Geist Gottes als der Kraft der Verwirklichung sprechen. Nicht mehr dies ist das Kennzeichen christlicher Existenz, daß man von diesem Geist getrieben und geführt wird (Rom 8,14), sondern daß man die Heilige Schrift liest und eine Predigt hört. Ganz praktisch: Man gewohnt sich daran, daß in dieser christlichen Kirche und bei den Christen nichts passiert - das was geschehen soll, wird einmal in der Auferstehung der Toten geschehen -, man begründet theologisch, daß es keineswegs zu den Kennzeichen der Kirche gehöre, daß da wirkliche Kräfte verwaltet werden und Menschen in einer spürbaren Weise gewandelt werden, und man rechnet es schon zu sektenhafter Schwärmerei, wenn man irgendwo von dem göttlichen Geist solche Wirkungen auf irdische Menschen erwartet. Diese Kirche hat dann natürlich nichts mehr von Sturm und Feuer in sich, sondern es bleibt alles in der Sphäre der Gedanken und der sie begleitenden Gefühle. „Erlebnis” wird ein verdächtiger Begriff - er ist ja auch nicht gut, so sehr er etwas sehr Wichtiges meint -, und Menschen, denen das dann einfach langweilig und uninteressant wird, flüchten sich entweder in die Anthroposophie, wo zwar nicht immer von dem Heiligen Geist, aber doch wenigstens vom Geist sehr große Dinge behauptet und erwartet werden, oder in die Gruppenbewegung, wo die Menschen anfangen, der Führung durch Gott sehr reale Wirkungen zuzutrauen. Und schon kommen die theologischen Verkehrspolizisten und schreien „Halt”! Entweder Kirche oder Gruppe! Lieber kein Leben als Enthusiasmus! Und es ist ganz in Ordnung („in Ordnung”!), daß die Prediger des Evangeliums nicht selber brennen. Das alles ist nun natürlich sehr einseitig und ungerecht gesagt, und man könnte natürlich auch auf die offenbaren Wirkungen des Heiligen Geistes in eben dieser armen verdorrten Kirche hinweisen. Es lag mir nur daran, die Zusammenhänge aufzudecken und die Erscheinungen, über die Du Dich mit Recht aufregst, verständlich zu machen.

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Leer7. Die Aufgabe, die uns aus diesen Erkenntnissen zuwächst, liegt auf zwei sehr verschiedenen Gebieten. Wir können den Heiligen Geist nicht herbeizwingen, und die Kirche kann sich durch keinerlei Anstrengungen mit Leben erfüllen. In dieser Hinsicht hat es mich immer stark berührt, daß alle unsere Pfingstlieder (mit einer einzigen Ausnahme) nicht die Tatsache der Geistesausgießung verherrlichen, sondern um die Gabe des Heiligen Geistes bitten. Die Erfüllung dieser Bitte ist gewiß nicht abhängig von dem Maß unserer Einsicht oder von unserer Lehre über den Heiligen Geist; aber doch, meine ich, ist dieser theologische Mangel auch eine geistliche Gefahr, und es ist notwendig, daß wir mehr als bisher darüber nachdenken, was der Heilige Geist ist, und warum alle anderen Aussagen des christlichen Glaubens verkehrt und unglaubwürdig werden, wenn nicht zugleich von der göttlichen Energie der Verwirklichung geredet wird. Die allumfassende Formel „Ehre sei dem Vater durch den Sohn in dem Heiligen Geist!” ist der Ausdruck dieses unauflöslichen Zusammenhangs, in dem die Schöpfungswelt, die geschichtliche Erscheinung Christi und seine heilige Kirche jedes an seinem Platze ist und zugleich deutlich wird, daß man nur im Heiligen Geist, das heißt als ein entzündeter, erleuchteter und von Gott bewegter Mensch überhaupt von Gott dem Vater und dem Sohne reden kann. Dies also sind die Gedanken, die ich mir, durch Deinen Brief angeregt, zurechtgelegt habe; und Du wirst die Länge dieser Epistel mit der dringlichen Wichtigkeit der Sache freundlich entschuldigen.

Mit herzlichem Gruß Dein

Wilhelm Stählin

Quatember 1983, S. 140-148

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-03
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