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Wilhelm Stählin als Ausleger der Heiligen Schrift
von Adolf Köberle

LeerWilhelm Stählin, dessen 100. Geburtstag dankbar zu begehen die ökumenische Christenheit allen Anlaß hat, war eine ungewöhnlich vielseitige Begabung. Noch an seinem 90. Geburtstag erweckte er den Eindruck einer ungebrochenen geistigen Vitalität. Er war „wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen des Lebens”. Was er geleistet hat als Pfarrer in Nürnberg, als Universitätsprofessor in Münster, als Bischof in Oldenburg, als Prediger, Schriftsteller und Seelsorger, als liturgischer Erzieher soll unvergessen bleiben.

LeerStellt man sich die Frage, was ihn zu einer so ungewöhnlichen Lebensleistung bevollmächtigt hat, so greifen wir nicht fehl, wenn wir feststellen: Wilhelm Stählin hat in vorbildlicher Ehrfurcht, Sorgfalt und Treue die Höhe, Weite und Tiefe des biblischen Wortes durchforscht und daraus geschöpft. Ausgerüstet mit einer ausgezeichneten philologischen Schulbildung, die er neun Jahre lang an dem Humanistischen Gymnasium St. Anna in Augsburg erhalten hatte, war er imstande, alle Feinheiten der hebräischen und griechischen Sprache im Alten und Neuen Testament nachzuempfinden. Er arbeitete mit Gerhard Kittels „Theologischem Wörterbuch zum Neuen Testament”. Er zog die wissenschaftliche Exegese der Fachliteratur zu Rate, aber es gelang ihm darüber hinaus, aus den biblischen Texten in schöpferischer Intuition Einsichten zu gewinnen, die in keinem Kommentar zu finden waren.

LeerWer einen umfassenden Eindruck davon gewinnen will, muß nach den vier Bänden „Symbolon” greifen, die in den Jahren 1958 bis 1980 im Evangelischen Verlagswerk Stuttgart erschienen sind: Vom gleichnishaften Denken / Erkenntnisse und Betrachtungen / Wissen und Weisheit / Freiheit und Bindung. Jeder der vier Bände bringt zum Auftakt ein breit angelegtes Kapitel mit der Überschrift: Zum Verständnis der Heiligen Schrift, Zur Auslegung der Heiligen Schrift. Nicht ersparen, wohl aber anregen möchten die nachfolgenden Ausführungen, in dieses reiche Erbe einzudringen.

LeerIn persönlichen Gesprächen hat sich Wilhelm Stählin zu wiederholten Malen als ein leidenschaftlicher Gegner des Nominalismus bekannt. Der Begriff stammt aus der mittelalterlichen Scholastik und war dort gemeint als Gegensatz zu einem platonisch geprägten Ideen-Realismus. Der Ausdruck hat sich dann von seinem philosophiegeschichtlichen Ursprung gelöst und hat die Allgemeinbedeutung angenommen: ein Denken, das sich zu bloßer Begrifflichkeit verflüchtigt, das nur noch Namensbezeichnungen meint, denen keine Erfahrungsgewißheit zugrunde liegt. Es wird dann zwar noch über Gott geredet, aber es fehlt die persönliche Überwältigung im Bewußtsein der göttlichen Gegenwart.

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LeerDer modernen Theologie konnte Stählin den einen Vorwurf nicht ersparen: sie hat die biblischen Texte in steigendem Maß dem neuzeitlichen rationalen Denken angeglichen und ist dadurch in eine Sackgasse geraten, aus der sie nicht mehr herausfindet. Von grundsätzlicher Bedeutung ist darum der Beitrag über „Mythisches Denken in der Heiligen Schrift”. Daß Stählin gerade diesen Text als einzigen zweimal in die Symbolonreihe aufgenommen wünschte, mag deutlich machen, wie sehr ihm dieses Thema am Herzen lag. Als erste Aufgabe mußte die weitverbreitete Meinung ausgeräumt werden, die bei schlichten Gemütern noch immer tief sitzt und die dann nichts wie Mißverständnis und Ablehnung schafft, als handle es sich um märchenhafte Geschichten, die nie wirklich geschehen sind und also nicht wahr sind. „Mythisches Denken ist etwas völlig anderes als heidnische Mythologie. Mythisches Denken ist der äußerste Gegensatz zu abstraktem Verstandesdenken”.

LeerEs ist der stammelnde Versuch, Unsagbares sagbar zu machen. Das mythische Denken läßt die Tiefendimensionen erahnen, in die wir mit unserer menschlichen Existenz eingebettet sind. Es bedient sich darum am liebsten der Sprache des Symbols, weil ein Symbol immer mehr aussagt als die wissenschaftliche Terminologie auszudrücken vermag. Die entscheidenden Realitäten des Glaubens: Ursprung der Schöpfung aus Gott, Urschuld, Heil und Weltvollendung können nur auf diese Weise angemessen bezeugt werden. Stählin war darum bekümmert und erschrocken, als in den fünfziger Jahren die evangelische Theologie und Kirche von einem wahren Entmythologisierungsrausch erfaßt wurde, der sich noch dazu in einem Kauderwelsch der Sprache niederschlug. Die Forderung, sich von allen Restbeständen der mythischen Sprache zu befreien und das Kerygma in dem Wortschatz der heutigen Philosophie auszudrücken, konnte nur zu einer schmerzlichen Verkümmerung im Schriftverständnis führen.

LeerIm Zusammenhang damit werden wir darauf aufmerksam gemacht: die biblische Rede von Gott ist mit sinnlicher Anschauung gesättigt. Sie spricht am liebsten in Gleichnissen. Gott ist Licht, der Fels, die Burg, die Quelle, der Same. Christus ist Hirte, Brot, Weinstock, der Weg, die Tür. Der Heilige Geist bricht an Pfingsten als Sturmwind und Feuer über die Jünger herein. Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Die Gerechten werden im Reich der Vollendung leuchten wie die Sonne. Mit dem Reich Gottes verhält es sich, wie wenn ein Mensch Samen auf das Land streut. Der Seher hört eine Stimme wie eine Posaune, und vor dem Thron Gottes war es wie ein gläsernes Meer. Gewiß bleiben alle Veranschaulichungen unangemessen, sie reichen nicht zu, das Eigentliche zur Sprache zu bringen. Weil aber Gott seine Herrlichkeit, seinen Glanz auf die Schöpfung gelegt hat, darum vermag Geschöpfliches zum Widerschein des Ursprungs zu werden. Das Kind, die Frau, sofern sie unverbildet sind, der Bauer, der Künstler, sie alle haben den Zugang zu der ursprünglichen Kraft des bildhaften Denkens sich bewahrt. Der Zugang zur Bibel muß ihnen erschwert, ja verbaut werden, wenn die biblische Rede in abstraktes Denken umgeformt und aufgelöst wird. Es ist ein „falscher Wahn” zu meinen, der Mensch komme dem göttlichen Geheimnis dadurch näher, wenn er statt in sinnlichen Bildern in philosophischer und theologischer Begrifflichkeit redet.

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LeerStählin ist an die Auslegung der Heiligen Schrift mit höchster Ehrfurcht herangegangen. Nichts konnte ihn mehr empören als schnoddriges Gerede aus Theologenmund, das sich womöglich noch einbildete, besonders geistreich und zeitnah zu sein. Er war sich klar darüber, wie sehr die Aufnahmefähigkeit für das Wort der Wahrheit in unseren Tagen abgenommen hat „durch die Sintflut von Geschwätz, die sich über uns ergossen hat, durch das Trommelfeuer von Propaganda, dem wir ausgesetzt sind”. Der Zugang zur Schrift führt über die Bitte: „Herr, öffne mir die Augen, daß ich sehe” und über die Zusage: „Der Herr hat mir das Ohr geöffnet, daß ich höre wie ein Jünger”. So hoch Stählin wissenschaftliche Forschung und Auslegung geschätzt hat, er schränkt doch ein: „Gelehrte Kommentare allein tun es nicht, die verstandesmäßige Interpretation greift zu kurz.” Es muß zu einem meditativen Umgang mit der Heiligen Schrift kommen. Ihr Wesen ist das umkreisende Denken, das Wiederholungen nicht scheut, das keine Hast kennt, „die uns weit mehr von der Bibel trennt als das Ptolemäische Weltbild oder seine mythische Sprache, von der das Evangelium angeblich gereinigt werden muß.”

LeerDer intensive Umgang mit der Heiligen Schrift hat Wilhelm Stählin den Blick geschärft für die Realität des Satanischen. Paul Schütz und Karl Heim gehören zu den Wenigen, die ihm darin gefolgt sind. Der moderne Fortschrittsglaube, den es ja auch in religiöser Ausprägung gibt (es genügt, an den Namen von Teilhard de Chardin zu erinnern), träumt von einer kontinuierlich fortschreitenden Verchristlichung der Welt. Die Bibel stellt diesem Optimismus die Gestalt des Antichrist entgegen. Als seine charakteristischen Erscheinungsformen werden genannt: Der Arge kommt in seinem eigenen Namen. Er nimmt Ehre von den Menschen. Er erhebt Anspruch auf göttliche Glorifizierung. Er tritt in verführerischem Glanz auf. Er verspricht gleiches Glück für alle. Er widersetzt sich den Ordnungsmächten, die dazu bestimmt sind, menschliches Leben und Zusammenleben zu schützen und zu erhalten. Der Widersacher ruft auf zum Abfall von Gott. Er haßt die Kirche Jesu Christi. Er schleicht sich in sie hinein mit der Absicht, ihr Wahrheitsgut zu verfälschen. „Dabei ist die Angst, um jeden Preis zeitgemäß zu scheinen, eines seiner wirksamsten Mittel.” Wir haben die Zeichen des Antichrist mitten unter uns. Als Hitler auf der Höhe der Machtentfaltung stand und das deutsche Volk ihm in rauschhafter Begeisterung zujubelte, hat Stählin an die Worte des Johanneischen Christus erinnert: „Ich nehme nicht Ehre von den Menschen. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werden sie annehmen” (5,41).

LeerGewiß mag man auch den religionsgeschichtlichen Hintergründen und Zusammenhängen nachspüren, inwiefern der Parsismus und die antike Dämonologie an biblischen Vorstellungen mitgearbeitet haben, nur sollte man darüber nicht die Frage vergessen, ob sich in dem Überlieferungsmaterial eine Wirklichkeit ausdrückt, der wir selber ausgesetzt sind. Mit der historischen Gescheitheit, die Wurzeln zu kennen, sind wir der existentiellen Bedrohung noch lange nicht entnommen. So warnt Stählin vor der securitas, als wäre der Mensch ein Wesen, das seiner selbst mächtig ist. „Niemand ist gesichert vor unheimlichen Einbrüchen von Seiten widergöttlicher Mächte.”

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LeerIn einer Betrachtung über die Heilung des mondsüchtigen Knaben heißt es: „Es ist eine gefährliche Selbsttäuschung zu meinen, man könnte Besessenheit durch Ansprachen heilen”. Die Frage, die der Vater des kranken Kindes damals an Jesus gerichtet hat „Kannst du was?”, wird heute an die Kirche gerichtet. Theologische Schulung und psychologische Bildung vermitteln noch lange keine Vollmacht. Mag das Wort vom Beten und Fasten nicht zur gesicherten Textüberlieferung gehören, wir tun gleichwohl gut daran, es ernst zu nehmen, denn der Dämon erweckt in dem Menschen tausend Wünsche und Gelüste, Bedürfnisse und Süchte. Darum bedarf der Christ der geistlichen Waffenrüstung im Kampf mit dem altbösen Feind.

LeerEin Religionslehrer hatte Stählin brieflich geklagt und um Hilfe gebeten, weil er im Unterricht mit der Behandlung der biblischen Wundergeschichten nicht zurechtkam. In dem Antwortschreiben heißt es: „Es ist gewiß keine leichte Aufgabe, eine Wundergeschichte mit Kindern zu besprechen”, doch wird alsbald die Warnung hinzugefügt: ,,Es ist kein Meisterstück, einen ungebrochenen Wunderglauben zu zerstören”. Offen wird zugestanden: Wenn einmal die kritischen Fragen aufgebrochen sind, lassen sie sich nicht beiseite schieben oder unterdrücken. Es muß ihnen standgehalten werden. Die Bedenken kommen nicht nur aus dem Raum des naturwissenschaftlichen Fragens. Sie melden sich ebenso im Namen religionsgeschichtlicher Vergleichung, etwa mit der Begründung: „In der außerbiblischen Überlieferung wimmelt es von Wundertätern. Warum sollte, was wir dort für Phantasie und Legende halten, plötzlich wahr sein, wenn es in der Bibel erzählt wird?” Doch der Angriff wird zurückgeschlagen mit der Gegenfrage: „Woher wollt Ihr wissen, daß all diese Wundergeschichten bloße Phantasien waren. Woher wollt Ihr wissen, daß es solche Kräfte niemals gegeben hat, bloß weil wir nicht mehr darüber verfügen?”

LeerWer das Wunder als mythologische Hülle abstreift und sich mit allegorischen Umdeutungen behilft, der reißt das Äußere und das Innere auseinander, als hätte es Gott nur mit der Seele zu tun und daß nur in dieser Seele und an dieser Seele Wunder geschehen. Damit haben wir uns das Verständnis nicht nur für die Wundergeschichten, sondern für die ganze Botschaft der Bibel von Grund auf verbaut.

LeerDer Religionslehrer hatte unter anderem auch die Frage nach der Stillung des Sturmes gestellt und gestanden, er habe den Kindern Jesus eben zu zeigen versucht als den Heiland, der die Stürme unseres Herzens zur Ruhe bringt. Stählin erwidert darauf: „Ich möchte gerade diese Geschichte nicht mehr symbolisch deuten, wie ich es selbst durch Jahre hindurch getan habe, sondern möchte gerade an dieser Geschichte den Kindern eine Ahnung davon erschließen, daß die Erlösermacht Christi bis in die Natur hinein zu wirken vermag. Kinder sind im allgemeinen viel offener für diese Botschaft, weil sie im Unterschied zu uns Erwachsenen noch ganz anders in der Einheit von Leben und Welt wurzeln. Um die Heilungswunder im Neuen Testament zu verstehen, gilt es, sich klar zu machen: Krankheit und Sünde sind zwei unterirdisch zusammenhängende Erscheinungsformen der widergöttlichen Macht, die darauf ausgeht, den Menschen zu verderben. Wenn der Schaden in der Tiefe überwunden ist, kann sich die innere Genesung auch in der Heilung des leiblichen Gebrechens manifestieren. Solche erfahrene Hilfe ist kein Mirakel, sondern ein Zeichen der göttlichen Liebe, die uns helfen will.” [vgl. W. Stählin Das Wunder]

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LeerStählin weiß, daß seit dem Siegeszug der historisch-kritischen Forschung besonders die Weihnachts- und Ostergeschichte unter dem Ansturm von Kritik und Zweifel zu leiden hat. So stellt er sich die Frage: Gehören die Kindheitsgeschichten Jesu, die sich bei Matthäus und Lukas finden, zum Evangelium, und wenn ja, welche Bedeutung haben sie dann im Gesamtgefüge des Evangeliums?

LeerDie neuzeitlichen Jesusbücher zeigen kein Interesse an diesen Texten. Man läßt sie bestenfalls als Legende stehen, weil Herz und Gemüt davon in poetischer Weise angesprochen werden. Bedeutsam wird Jesus erst als der Freund der Armen und Ausgestoßenen, als Prediger gegen ungerechte Verteilung von Besitz und Macht, als Kämpfer gegen untragbare gesellschaftliche Strukturen. Warum dürfen die Kindheitsgeschichten nicht an den Rand gedrängt werden? „Weil hier der Vorhang weggezogen ist vor dem Mysterium der Einwohnung Gottes in unsere arme und arge Welt.” Nicht, was unser Gemüt bewegt, nicht, was uns durch dichterische Schönheit erfreut, ist das Entscheidende, sondern genau das, was wir nicht verstehen, das Mysterium der sich herablassenden Liebe.

LeerDie Botschaft von der Auferstehung Jesu ist zu allen Zeiten mannigfachen Mißverständnissen ausgesetzt gewesen. Wenn behauptet wird, die Menschen damals seien weniger wunderscheu gewesen als unsere skeptische Generation, es sei ihnen darum leichter gefallen, das Auferstehungswunder zu glauben, so wird dem entgegengehalten: „Für die Menschen der damaligen Zeit war das Osterereignis genau so unfaßbar und unvorstellbar wie für uns.” Weil es der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit war, darum konnte das eschatologische Geschehen nur verkündigt, nicht aber beschrieben werden.

LeerAls völlig unzureichend ist jede Auslegung abzulehnen, nach der es sich dabei lediglich um ein ehrfurchtsvolles Fortleben in den Herzen der Jünger handelte, denen die Zuversicht aufflammte: die Sache Jesu geht weiter.

LeerWer so interpretiert, bei dem hat der idealistische Geistmonismus wieder einmal triumphiert über das biblische Ganzheitsdenken. Es ist kein Zufall, daß die Athener den Apostel Paulus bei seiner Rede auf dem Areopag gerade an der Stelle unterbrochen und abgelehnt haben, als er auf die Auferstehung der Toten zu sprechen kam. Die griechische Erwartung kennt nur die Unsterblichkeit der Seele. Die christliche Hoffnung lebt von der Zuversicht: Christus wird unseren nichtigen Leib verklären, daß er gleich werde seinem verklärten Leib (Phil. 3,21).

LeerHilfreich und bedeutsam mag für viele sein, wie Stählin in einer Auslegung des Apostolikums in dem Buch „Zusage an die Wahrheit” (Kassel 1952) das Osterereignis ausgelegt hat. „Er ist nicht zurückgekehrt in das Leben, das Er verlassen hat, sondern Er ist durchgebrochen in ein anderes, neues und höheres Sein. Wir kennen aus dem Bereich der Pflanze und des Tieres jenen Vorgang, den wir Metamorphose, Gestaltwandel, nennen. Die Bibel wendet eben diesen Ausdruck auf das Geheimnis der Verklärung, Christi Verklärung und unsere Verklärung, an. Der auferstandene Christus ist ein verwandelter Christus. Er wird verwandelt und verklärt in eine unserer Erfahrung entrückte und unserem Verstand unzugängliche Form des Seins. Diese Wandlung, dieser Durchbruch in eine neue Daseinsform ist das Wunder aller Wunder”.

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LeerWie aufmerksam Stählin die Bibel gelesen hat, wird daran deutlich, daß er auch einzelnen Wörtern die volle Aufmerksamkeit zugewandt hat. So werden wir darauf aufmerksam gemacht, welche maßgebliche Rolle das Wort „Siehe” im Alten und Neuen Testament spielt. Das „Siehe” weist hin auf das drohende Gericht, das zu übersehen der Mensch geneigt ist. Aber noch viel öfter weist es hin auf die Heimsuchung der göttlichen Gnade. „Siehe, dein König kommt zu dir. Siehe, ich verkündige euch große Freude. Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Siehe, ich bin bei Euch alle Tage. Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Siehe, ich komme bald”. Aber wir begegnen dem Wort auch als Antwort auf Seiten des Menschen. „Siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das Du, Herr, nicht schon wüßtest. Siehe, ob ich auf bösem Wege bin. Siehe, ich bin des Herrn Magd”.

LeerDas Evangelium des Markus schließt den Bericht von der Versuchung Jesu in der Wüste mit dem Satz: Er war bei den Tieren (1,13). Stählin nimmt diese Aussage zum Anlaß, festzustellen: Im Unterschied zu Menschen, die kein Verhältnis zu Tieren haben und haben wollen, sieht die Bibel den Menschen in enger Nachbarschaft mit den Tieren. Auch das Tier hat Anteil an der göttlichen Verheißung und hat darum ein Anrecht auf brüderlichen Umgang. Weil die Kreatur aber noch unerlöst ist, darum können Schlange und Drachen zu Sinnbildern werden für widergöttliche Mächte, die den Menschen verführen und verderben.

LeerNach der Aussage der Lutherischen Bekenntnisschriften ist die Heilige Schrift die una regula ac norma für alles kirchliche Reden und Handeln. Darum darf sich die Kirche niemals über die Schrift erheben. Es besteht aber nicht nur die Frage zu Recht: was gibt die Schrift der Kirche? Es muß auch über die Umkehrung nachgedacht werden: was gibt die Kirche der Schrift? Wenn Kirche verstanden wird als die una sancta catholica et apostolica ecclesia, dann ist nicht nur auf das sola scriptura, sondern ebenso auch auf das tota scriptura zu achten. Um den vollen Reichtum der Schrift auszuschöpfen, brauchen wir die Schriftauslegung der griechischen und lateinischen Väter und das Erbe aus allen christlichen Konfessionen.

LeerZu dem Artikel von der Rechtfertigung muß die Hochschätzung und Auswertung der Epheser- und Kolosserbriefe treten. Auch die Liturgie ist als Quelle des Schriftverständnisses mit einzubeziehen. Wird dieser universalkirchliche Dienst nicht ausreichend genug wahrgenommen, dann ist die Gefahr groß, daß Teilstücke aus der Fülle der Wahrheit herausgelöst werden und Spaltungen nach sich ziehen. Nur ein gemeinsames Ringen aller Konfessionen um das rechte Schriftverständnis vermag die Schatzkammer der Bibel aufzuschließen. Zugleich hat ein solches Bemühen die Verheißung in sich, die Konfessionen einander immer näher zu bringen.

LeerEine Fundgrube von unermeßlichem Reichtum ist das fünfbändige Sammelwerk: Predigthilfen (im Johannes Stauda Verlag erschienen). Wer über alttestamentliche Texte, über die Perikopen zu den Evangelien und Episteln alter und neuer Ordnung zu predigen hat, findet hier eine Fülle großartiger Einsichten und Anregungen für die eigene schöpferische Arbeit. Es würde sich lohnen, Wilhelm Stählin auch daraus als Ausleger der Heiligen Schrift kennenzulernen.

Quatember 1983, S. 149-155

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-30
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