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Das Weihnachtsbild der Ostkirche
von Ludolf Müller

LeerAlle Ikonen der Ostkirche sind ihrem Wesen und ihrer Absicht nach nicht Historienbilder, sondern sie wollen Wahrheit des Glaubens sichtbar machen, für die Augen vergegenwärtigen. Für die Weihnachts-Ikone gilt das in besonderem Maße. Bei anderen Ikonen aus der Blütezeit der Ikonenkunst ist es doch meist nur eine Szene, die dargestellt wird: die Verkündigung an Maria, die Taufe Christi, die Auferweckung des Lazarus, die Kreuzigung, die Himmelfahrt. Auf der Weihnachts-Ikone sind mehrere Szenen, die zeitlich zum Teil weit auseinanderliegen, zu einem kompositorisch ausgewogenen, aber doch locker gefügten Ganzen vereint. Nicht ein einzelnes Geschehen soll anschaulich gemacht, sondern die Mitte, aber auch die ganze Weite der Botschaft des Weihnachtsfestes soll durch malerische Mittel verkündet werden. Die Ikone gleicht weniger einer erzählten Episode aus der Weihnachtsgeschichte als vielmehr einem lyrisch-theologischen Weihnachtshymnus. Und in der Tat sind Quelle der Inspiration der Ikonenmaler oft stärker die liturgischen Hymnen als die biblischen und apokryphen Erzählungen.

LeerEiner der schönsten und bekanntesten Weihnachtsgesänge der Ostkirche, verfaßt um 540 von dem byzantinischen Kirchendichter Romanos dem Meloden, beginnt:
„Heute gebiert die Jungfrau den,
der höher ist als alles Sein,
und die Erde führt dem Unzugänglichen die Höhle zu;
Engel rühmen zusammen mit Hirten,
Magier wandern mit einem Stern;
Denn um unsertwillen ward geboren als kleines Kind,
der Gott ist seit Ewigkeiten.”

LeerWie in diesem Hymnus die jungfräuliche Mutter am Anfang steht, so beherrscht sie auch in ihrer alle anderen Gestalten weit überragenden Größe die Mitte der Ikone. Selbst das Christuskind ist neben ihr so klein und beinah versteckt (es gibt sogar Ikonen, auf denen es ganz fehlt), daß das Weihnachtsbild mehr eine Marien- als eine Christus-Ikone ist. Das ist kein Zufall. Für die Ostkirche ist Weihnachten nicht einfach das Geburtsfest Jesu Christi, die Weihnachtsfreude nicht einfach Freude darüber, daß der Erlöser, der Heiland der Welt, jetzt erschienen ist. Mitte der Weihnachtsbotschaft ist für die Ostkirche die Geburt aus der Jungfrau - eine Lehre, auf die die moderne Theologie keinen besonderen Wert legt oder über die sie mit Verlegenheit oder gar mit offener Ablehnung hinweggeht.

Weihnachtsbild der Ostkirche

Das Weihnachtsbild der Ostkirche
Nach einem Fresko vom Athos aus dem Jahr 1423


LeerDer Nachdruck, den die Ostkirche auf die Geburt aus der Jungfrau legt, hat verschiedene Ursachen. Einerseits hebt das Wunderbare, Wunderhafte eines solchen Geschehens die Geburt Christi über die Geburt aller anderen Menschen hinaus, wie ja auch Luther in der Übersetzung eines altkirchlichen Liedes sagt: „Daß sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt.” Gleichzeitig ist dieses wunderhafte Geschehen die ebenso wunderhafte Erfüllung einer alten Weissagung, die man aus verschiedenen Stellen des Alten Testamentes herauslas, vor allem aus der griechischen Übersetzung von Jes. 7,14: „Eine Jungfrau wird schwanger sein und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel.”

LeerHinter dieser Hochschätzung des Wunderhaften steht aber noch etwas Tieferes, Weiteres. Jungfräulichkeit und Mutterschaft, die sich gegenseitig ausschließen, werden doch in vielen Kulturen gleichzeitig als höchste Werte anerkannt. Die Jungfräulichkeit bedeutet Nicht-berührt-Sein von dem Natürlich-Triebhaften, von dem nicht Sündigen, aber doch Dunklen, das mit der Sphäre des Sexuellen verbunden ist. Mutterschaft aber heißt: Leben spenden, Leben schenken und hegen und pflegen unter Einsatz, Hingabe und Aufopferung des eigenen Lebens. Und menschliches Leben weitergeben heißt ja gleichzeitig: die Möglichkeit geben zu weiterer Entwicklung der Menschheit, zum Fortgang der Heilsgeschichte, zum Fortschreiten der Menschheit zu tieferer Erkenntnis Gottes, zu höherem Heil, als am Anfang möglich und erreichbar war. Die Hochschätzung der Geburt aus der Jungfrau heißt also Lobpreis der göttlichen Gnadengnabe der Mutterschaft bei gleichzeitiger Scheu vor dem Dunkel (Dunkel, nicht Sünde!) des Triebhaft-Sexuellen. Darum läßt die Bibel schon in der Heilsgeschichte vor Christus herausgehobene Heilsträger gern aus Verbindungen geboren werden, in denen die sexuelle Lust keine Rolle spielt (Isaak, Johannes der Täufer). Die Geburt des höchsten Heilsträgers, die Fleischwerdung des ewigen Wortes, das am Anfang bei Gott war, aber kann sich das gläubige Bewußtsein nur vorstellen als ganz frei von dem Dunklen des Sexuellen.

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LeerSchließlich hat die Betonung der Geburt aus der Jungfrau noch einen heilsgeschichtlich-theologischen Aspekt. Gott und Welt, Himmel und Erde sind nach Auffassung der Ostkirche nicht zwei völlig voneinander getrennte Reiche, sondern sie gehören zusammen, sie waren vor dem Fall des Menschen miteinander vereint, und sie werden es am Ende der Zeit wieder sein, wenn Gott alles in allen sein wird. Anfang dieser neuen Vereinigung von Himmel und Erde ist die Empfängnis und Geburt Christi: „Himmel und Erde sind heute vereint”, so beginnt ein Weihnachtshymnus. Wie das Licht die Pflanze und die Pflanze das Licht sucht, so sucht Gott die der Eitelkeit verfallene Welt zurückzuholen in seine Ewigkeit, und die Welt streckt sich suchend aus nach dem ewigen Heil, ihrer ewigen Heimat. Schönen Ausdruck findet dieser Gedanke in einem anderen Weihnachtshymnus:
„Was sollen wir dir darbringen, Christus,
dafür, daß du auf Erden erschienen bist
als Mensch um unsertwillen?
Denn ein jedes der von dir geschaffenen Geschöpfe
bringt dir seine Dankesgabe:
die Engel den Hymnus,
die Himmel den Stern,
die Magier die Geschenke,
die Hirten das Staunen,
die Erde die Höhle,
die Einöde die Krippe,
wir aber die jungfräuliche Mutter.”

LeerIn diesem Hymnus ist das Wichtigste, die höchste der Gaben an letzter Stelle genannt: die Gottesmutter. Das Menschengeschlecht hat sie hervorgebracht - freilich unter Mitwirkung der göttlichen Gnade, aber doch als ein Geschöpf, das ganz zu ihr gehört, das die Menschheit Gott darreicht, in dem die Menschheit sich selbst Gott darreicht, damit er durch sie seinen Heilsplan erfüllen kann. Die tiefste Bedeutung des Weihnachtsfestes liegt nicht darin, daß Gott an diesem Tage zur Erde herabkommt - das hat er auch vorher schon getan, im Hain Mamre etwa, als die „drei Männer” Abraham besuchten, oder auf dem Sinai, wo er mit Mose sprach -, sondern darin, daß „Himmel und Erde heute vereint sind”.

LeerWir verstehen jetzt, warum Maria auf der Weihnachts-Ikone übergroß dargestellt und beherrschend in die Mitte gerückt ist. Sie liegt nach der Geburt auf dem Ruhebett ausgestreckt; damit wird ausgedrückt, daß es eine wirkliche menschliche Geburt war, von der die Mutter erschöpft und ruhebedürftig geworden ist.

LeerUm die Gestalt der Gottesmutter herum baut sich die Ikone gleichsam in drei Stockwerken, in drei übereinander liegenden Feldern auf. Das obere ist der Bereich des Himmlischen; in seiner Mitte das Symbol des dreieinigen Gottes: der Kreisabschnitt, der Gottes Ewigkeit, und die drei aus der Mitte dieses Kreises hervorgehenden Strahlen, die die Dreiheit der Personen bei der Einheit des Wesens darstellen. Daneben auf der (vom Beschauer aus gesehen) linken Seite die Engel, die den Hymnus darbringen, auf der rechten der Engel, der den Hirten die „große Freude verkündigt”.



Geburt Christi

Geburt unseres Herrn Jesus Christus
Novgorod (?) 16. Jh.


LeerDas mittlere Feld zeigt den Bereich, in dem sich Himmel und Erde vereinen. In seiner Mitte, wie wir sahen, beherrschend die Mutter Christi als der Raum und die personhafte Konkretisierung dieser Vereinigung. Hinter ihr die Höhle, auf den farbigen Ikonen in tiefes Dunkel gehüllt. Wie die jungfräuliche Mutter das Geschenk der Menschheit, so ist die Höhle das Geschenk der Erde an Christus. Die Erde gibt in ihren dunklen Gründen dem neugeborenen Gottmenschen die Geborgenheit, die er braucht, um heranwachsen zu können zur Erfüllung seiner großen und schweren Bestimmung. So symbolisiert die Höhle gleichzeitig den Mutterschoß der Maria, andererseits weist sie aber auch voraus auf die Grabeshöhle, in der Christus dereinst zwischen Karfreitag und Ostern Geborgenheit finden wird. Ochs und Esel sind bei ihm und erfüllen damit die Weissagung des Jesaja: „Der Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn” (Jes. 1 ,3). Die wort- und vemunftlose Kreatur erkennt ihn durch ihren sicheren Instinkt, während er den Menschen erst durch das Wort des Engels oder durch den neuen Stern verkündet werden muß. Gleichzeitig wärmen Ochse und Esel das Kind durch ihren Atem. Die enge Verbindung zwischen dem Menschen und der vernunftlosen Kreatur, die sich mit uns sehnt und ängstet und die mit uns darauf wartet, daß sie frei wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Rom. 8,19-22), kommt in dieser Szene zu bildhaft-symbolischem Ausdruck. So könnte die Reihe der Gabenbringer, die der vorhin zitierte Hymnus nennt, erweitert werden durch das Tierreich, das dem neugeborenen Christuskind den Ochsen und den Esel darbringt als die ersten freundlichen Gesellen und Beschützer, und dann auch das Pflanzenreich, das Heu für die Krippe spendet.

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LeerRechts von der Höhle steht der Hirt, der die Botschaft empfängt und, wie es in dem Liede heißt, sein „Staunen” darbringt (griechisch „thauma”, was auch gleichzeitig „das Wunder” heißt: das, worüber man „staunt”): links die heranreitenden Magier, die einerseits hinaufschauen zu dem neuen Stern (dies ist auf anderen Weihnachts-Ikonen noch deutlicher zu sehen als auf der von uns abgebildeten, einem Fresko aus dem Paulus-Kloster auf dem Berg Athos aus dem Jahre 1423, entnommen dem schönen Buch von Konrad Onasch: „Das Weihnachtsfest im orthodoxen Kirchenjahr”, Berlin, 1958, S. 287, dem ich auch für diese Interpretation viel verdanke). Da der 6. Januar in der Ostkirche vor allem dem Gedächtnis der Taufe Jesu geweiht ist, sind die Magier aus dem Osten (die „heiligen drei Könige”) dort ganz mit dem Weihnachtsfest verbunden. Schön sagt ein Hymnus über sie:
„Deine Geburt, Christus, unser Gott,
ließ der Welt aufgehen das Licht der Erkenntnis;
in ihr (d. h. deiner Geburt) nämlich wurden die,
die den Sternen dienten,
von einem Stern gelehrt,
dich anzubeten, die Sonne der Gerechtigkeit,
und dich zu erkennen, den Aufgang aus der Höhe.”

LeerDer mittlere der Magier wendet sich gewöhnlich in erregtem Gespräch zu dem letzten, während dieser hinaufblickt zu dem Stern. Das wissenschaftliche Forschen hat die Vertreter der Heidenwelt so weit geführt, daß sie achtgeben auf die Zeichen der göttlichen Offenbarung, und so wachsen sie in ihrem Suchen nach Wissen und Weisheit heran zur Verehrung des Geheimnisses, das über alle Wissenschaft hinausführt.

LeerSo ist das Geschehen im mittleren Feld des Bildes durch den nach oben gerichteten Blick der Magier und des Hirten mit dem himmlischen Bereich im oberen Drittel des Bildes verbunden. Auf den meisten Weihnachts-Ikonen geschieht dies noch in anderer Weise: Da durchbricht der mittlere der Strahlen aus der Welt Gottes den Felsen über der Höhle und beleuchtet das winzige, fest in Binden gewickelte Kind in der Krippe mit Ochse und Esel. Maria selbst allerdings wendet den Blick nicht nach oben, erstaunlicherweise nicht einmal auf das Kind, sondern stets nach unten: entweder, wie auf unserem Bild, auf den Betrachter, oder auf eine der Gestalten oder der Gruppen auf dem unteren Bildfeld.

LeerHier sind, in verschiedener Anordnung, immer zwei Szenen dargestellt. Einerseits (auf unserem Bild rechts) das erste Bad des neugeborenen Kindes durch zwei Frauen; andererseits (bei uns links) Joseph mit einer Gestalt (manchmal sind es auch zwei Gestalten), die eindringlich auf ihn einzureden scheint. Allen Gestalten dieses unteren Bildfeldes fehlt der Blick nach oben, der die Magier und den Hirten auf dem mittleren Bildfeld kennzeichnet. Die beiden Frauen sind in ihre Beschäftigung - das Baden des Kindes - vertieft. Die eine, die das Kind auf dem Schoß hält, prüft mit der Hand, ob das Wasser auch nicht zu kalt oder zu warm sei. Dies, wie überhaupt die Tatsache, daß das Kind gebadet wird, zeigt die volle Menschlichkeit des fleischgewordenen Gottes. Die beiden Frauen scheinen aber außerdem miteinander zu reden. Ein apokryphes Evangelium nennt uns auch das Thema ihres Gespräches: die bleibende, auch nach der Geburt bestehende, weil zum Wesen der Gottesmutter gehörende Jungfräulichkeit der Mutter des eben geborenen Kindes. Die eine, hier offenbar die stehende, mit Namen Salome, zweifelt an einer solchen Möglichkeit. Sie spielt in der Geburtsgeschichte gleichsam die Rolle des ungläubigen Thomas.

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LeerMit ähnlichen, aber noch weiteren, lastenderen Zweifeln, von denen auch der Evangelist Matthäus spricht (Mt. 1,35), trägt sich der links sitzende Joseph. Den Mann, der vor ihm steht, hat man verschieden gedeutet: einerseits als den Versucher, der Joseph in seinen Zweifeln bestärkt, andererseits (so Onasch in seinem genannten Buch) als den Propheten Jesaja, der ihn hinweist auf die Prophezeiungen des Alten Testamentes, in denen das Wunder der Jungfrauengeburt vorausgesagt ist, besonders die Weissagung von Jesaja selbst (Jes. 7,14). Der letzteren Deutung ist wohl der Vorzug zu geben. In einem Weihnachtshymnus wird Joseph aulgefordert: „Sage uns: Wieso bringst du die Jungfrau, die du vom Heiligtum empfangen hast, als Schwangere nach Bethlehem?” Und er antwortet: „Ich habe die Propheten durchforscht und habe von einem Engel Weisung erhalten und bin nun überzeugt, daß Maria in unerklärbarer Weise Gott gebären wird.” Dieses Moment der „Durchforschung der Propheten” ist hier ins Bild übertragen. Jesaja - er ist derjenige Prophet, dessen Worte unter den prophetischen Lektionen des Weihnachtsfestes die größte Rolle spielen - lehrt den zweifelnden Joseph und mit ihm und in ihm die ganze zweifelnde Menschheit an die von tiefem Sinn erfüllte Botschaft von der Geburt aus der Jungfrau glauben. Daß es ihm bei Joseph schon gelungen ist oder sicher gelingen wird, sagt der eben zitierte Hymnus, es sagt auch der Heiligenschein um das Haupt des Joseph. Der Stab, den Jesaja auf fast allen Weihnachts-Ikonen in der Hand trägt, weist hin auf seine Prophezeiung: „Es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Isais (= Jesses) und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen” (Jes. 11,1). Auch der Baum, den diese Gestalt fast immer vor oder hinter sich hat, ist von hier aus verständlich. Das Hündchen an seiner Seite hat man, nicht ganz so überzeugend, mit den „stummen Hunden” aus Jes. 56,10 in Verbindung gebracht. Der rauhe Fellumhang, den die Gestalt trägt, könnte durch die Tracht des größten der Propheten, Johannes des Täufers, angeregt sein; gelten sie doch beide als „ Prediger in der Wüste” (Jes. 40,3, Matth. 3,3), künden sie doch beide: „Die Herrlichkeit des Herrn soll offenbar werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen” (Jes. 40,5).

LeerNun verstehen wir auch, warum Maria nach unten schaut: auf uns, die wir schwach sind im Glauben, oder auf diese beiden Szenen, die im unteren, vom Zweifel erfüllten Bereich dieser Welt spielen. Sie wendet sich voll milder Nachsicht und voll freundlichen Zuspruchs denen zu, die das gottselige Geheimnis dieses Tages nicht fassen und glauben können: das Geheimnis, daß sich in der Geburt des göttlichen Sohnes aus der Jungfrau Maria Himmel und Erde neu verbunden haben.

© Prof. Dr. Dr. Ludolf Müller
Quatember 1983, S. 206-213

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-08-31
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