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Apostolischer Glaube heute
von Gerhard Voss OSB

Predigt in einer Eucharistiefeier beim 14. Kirchberger Gespräch

LeerLiebe Schwestern und Brüder, es sind drei gewichtige Texte, die wir eben gehört haben: Im 5. Buch Mose, dem Deuteronomium, wird das Volk Israel erinnert an die großen Taten seines Gottes, des Einen, Allmächtigen und Barmherzigen (4,31-35.39); aus dem Brief an die Epheser hörten wir den gewaltigen Lobpreis des einen Herrn, der sich uns als der Dreifaltige Gott offenbart hat (1,3-14); und als Evangelium des heutigen 1. Sonntags in der Fasten- oder Passionszeit Worte Jesu aus den Abschiedsreden, die in die Verheißung seines Friedens einmünden (Joh. 14,23-27). Bei der Beschäftigung mit diesen Texten habe ich versucht zu erspüren, was sie uns gerade in dieser Zusammenstellung für diese Liturgiefeier zu sagen haben. Im Hintergrund steht das Lima-Dokument, die Konvergenzerklärung über die Eucharistie, die unserer Eucharistiefeier hier und heute ihre konkrete Gestalt gibt. In diesem Lima-Dokument wird die Eucharistie in drei aufeinander folgenden Kapiteln als Eulogie, als Anamnese und als Epiklese beschrieben: als dankbarer Lobpreis an den Vater, als Gedächtnis Christi und als Anrufung des Geistes. Dank und Lobpreis an den Vater, Erinnerung an Jesus Christus und Verheißung des Heiligen Geistes bestimmen auch unsere heutigen Lesungen, zumindest die beiden neutestamentlichen, jedoch nicht im Blick auf die Eucharistie, und darum will ich auch nicht über die Eucharistie sprechen.


I.

LeerBei allen drei Lesungen aber haben wir es mit Texten zu tun, die im liturgischen Geschehen, im liturgischen Gedächtnis ihren Ursprung haben und in ihrer Weise, über den Glauben zu reden, den Glauben auszusagen, von daher bestimmt sind: das Wort Jesu im Evangelium, das uns in den Abendmahlssaal versetzt, der hymnische Lobpreis am Anfang des Epheserbriefes und das Wort des Mose aus dem Deuteronomium, dazu bestimmt, daß es immer wieder neu, daß es auch heute uns vorgelegt wird, auf daß wir erkennen: der Herr ist unser Gott. Unser Text führt hier ganz nahe an das „Schemah Israel” heran, von dem zwei Kapitel weiter (Dtn 6,4) gesagt wird, daß es wie ein immerwährendes Gebet den ganzen Lebensraum bestimmen, ihn in der Gegenwart Gottes halten soll: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein”. Unser Text ist weniger imperativisch; er argumentiert: Daß Gott barmherzig ist, daß er dich nicht fallen läßt, daß sein Bund, die Lebensordnung, in die er dich hineingestellt hat, auch dich trägt, das hast du doch selbst erfahren. Du brauchst dich nur daran zu erinnern, du brauchst diese Erinnerung nur freizulegen durch die Bedrängnisse und Ängste hindurch, die diese Erinnerung überlagern, zudecken, verhindern. Diese Erinnerung ist freilich ein Zu-Herzen-Nehmen; d. h. es ist eine Anspannung des Herzens nötig; das müde Herz vermag sich nicht zu erinnern. Kein Wunder, daß es sich verlassen, verloren, vergessen vorkommt. Dann nützen die Buchstaben auf der Stirn, die Gebetsriemen, alle liturgischen Gewänder und Riten nichts, die ja lediglich eine Hilfe sein wollen, den Raum zu schaffen, in dem das Herz sich traut, sich zu öffnen, den Raum für diese aufmerksame Gesammeltheit, die Voraussetzung ist für die forschende Erinnerung, die unser Text uns ans Herz legt.

LeerDiese Erinnerung verliert sich in der Geschäftigkeit sowohl wie in der Müßigkeit, in der man die Zerstreuung sucht - genau genommen doch eine erschreckende Zielvorstellung: Zerstreuung. Die alten Mönchsväter nannten sie acedia, die Trägheit, in der man die Dinge, die auf einen einstürmen, nicht mehr geistlich verarbeitet, in der man nicht mehr bereit ist zu „hören”, was die Dinge mir sagen wollen, in der man sich des Weges - woher und wohin - nicht mehr erinnert und so sich treiben läßt und der Sinnlosigkeit, der Traurigkeit, dem Unmut anheimfällt: dem „Murren”, wie der hl. Benedikt sagt. Dagegen nun sagt unsere Lesung: Heute sollst du dich wieder erinnern und dir's neu zu Herzen nehmen.

LeerAn der Klagemauer in Jerusalem habe ich vor Jahren einmal einen alten Juden gefragt, ob ich das recht beobachtet hätte, daß sie erst für sich allein an die Mauer gingen und hier das Gebet einen klagenden Eindruck mache, bevor sie sich einreihten in den Kreis der freudig Tanzenden. Ja, gewiß, antwortete er mit jiddischem Akzent: Jeder kommt hierher mit seinem Leid, das er persönlich zu tragen hat. Hier aber an der Mauer des zerstörten Tempels sieht er, daß sein Leid sich einfügt in das Leid des ganzen Volkes; aber er erinnert sich auch an die Verheißung Gottes an sein Volk, die weiterhin gilt. Das Volk hat überlebt und wird leben. Und das gibt Hoffnung, und Hoffnung macht Freude, und Freude muß man tanzen.

LeerLiturgie als Erinnerung und dankbarer Lobpreis - die Erinnerung der Geschichte des Volkes Israel, verdichtet im Bild des zerstörten Tempels: ein Bild, mit dem im Johannesevangelium Jesus sich identifiziert, um damit das freudig Erhoffte, den Wiederaufbau des Tempels in greifbare Nähe zu rücken: den Aufbau des Tempels seines Leibes in seiner Auferstehung. Das zu begreifen, überstieg freilich die Fähigkeit des menschlichen Herzens. Seine Hörer verstanden nicht, was er sagte. Erst nach seiner Auferstehung erinnerten sich seine Jünger daran (Joh 2,22), kamen sie zum Glauben an die Schrift und an das Wort, das Jesus gesagt hatte.


II.

LeerVon dieser Erinnerung nun spricht unser Evangelium. Sie sei das Werk des Heiligen Geistes, sagt uns Jesus in dem zweiten der Parakletsprüche. Wer ist das, dieser Geist, und inwiefern ist er der Beistand, der unser Herz zu trösten vermag? (Luther nennt den Parakleten „Tröster”.) Im ersten der Parakletsprüche, unserem Evangelium unmittelbar vorausgehend (Joh 14,16 f.), ist von ihm gesagt, daß er das Werk Christi in uns fortsetzt, daß er in uns lebendig macht, daß Gott „mit” uns ist; der Geist der Wahrheit, den nur der erkennt, in dem er ist. Er wird uns erinnern, was Jesus gesagt hat, er wird es vergegenwärtigen. Was Jesus gesagt und was er getan hat, als Wort Gottes zu verstehen, ist nur möglich von ihm her. Er erschließt die Tiefen dieses Logos, was er uns zu sagen hat als tröstendes und heilendes Wort. Das bloße Wort, das äußerliche Geschehen, der Logos allein ist meist bald vergessen. Aber dann, in einer bestimmten Situation unseres Weges, vielleicht aufgrund liturgisch erschlossener Erinnerung, da taucht er plötzlich wieder auf, wird dieser erinnerte Logos lebendig und wichtig in einem neu gewonnenen geistlichen Verständnis und bestimmt von nun an die Logik unseres Redens und Tuns.

LeerWas im Johannesevangelium „Logos” heißt - das worthafte Wirken Gottes -, das ist im Lukasevangelium rhema. Und da steht bei Lukas (9,45) eine bezeichnende Formulierung: Als Jesus davon spricht, daß er den Händen der Menschen ausgeliefert werden muß, da bleibt den Jüngern dieses rhema verborgen, hina me aisthontai auto: Sie hatten dafür - möchte ich einmal übersetzen - kein Sensorium Dieses Sensorium ist nach dem Abschluß des Wirkens Jesu das Werk des Geistes, dieses Sensorium - wir können auch sagen: dieser Geschmack, lateinisch sapere, davon kommt sapientia, Weisheit - dieses Sensorium, das erst in Wahrheit zur freien Entscheidung fähig macht. Rein rational mögen Leben und Tod Alternativen sein; das Deuteronomium sagt, wir hätten zu wählen (30,15). Wer aber auf den Geschmack gekommen ist, der weiß in dieser Art Erinnerungsvermögen, daß Leben und Wahrheit dasselbe sind; der Tod ist dazu keine Alternative, und das ist keine Einschränkung der Freiheit.

LeerWas für eine lebensschaffende Wahrheit ist das nun, an die der Geist der Wahrheit erinnert? Es ist die Wahrheit, die in der „Stunde” des Kreuzes offenbar geworden ist, als Jesus sich als der Sohn erweist, da er voll Vertrauen auf den Vater verweist und so die Quelle des Lebens erschließt. Die Stunde des Todes ist im Johannesevangelium zugleich die Stunde der Verherrlichung (12,23.27 f.), die Offenbarung der Herrlichkeit des Lebens als Sohn in der Gemeinschaft des Geistes mit dem Vater. Das ist Jesu letztes und tiefstes Wort. Das Johannesevangelium fügt da eine sehr präzise Formulierung an, die in unseren Übersetzungen meist untergeht. Als nämlich auf diesem Höhepunkt das Werk der Offenbarung vollbracht, zum Ziel gekommen war - Jesus sagt es ausdrücklich in seinem letzten Wort (Joh 19,30) -, da heißt es anschließend: paredoken to pneuma, da „übergab er den Geist”. Das besagt m. E. mehr als nur einfach: er gab den Geist auf, er verschied. Dieser Geist, in dem er selbst in der Gemeinschaft mit dem Vater steht, ist seine Paradosis, seine Weiter-Gabe und Überlieferung an die, die glauben: der Geist, der uns zu Kindern Gottes macht, der auch uns in den Stunden unserer Erfahrung des Todes rufen läßt: Abba, Vater, wie Paulus im Römerbrief (8,15) sagt, der Geist, der uns sensibel macht für die Hand Gottes, die uns umfängt, der uns diese Wahrheit des Lebens schmecken läßt, der unser Herz wandelt: Er ist der Schlüssel für jedes sonstige Wort Jesu, die Mitte des überlieferten apostolischen Glaubens, der Geist, der - wie unser Evangelium sagt - die Furcht und Angst vertreibt und den Frieden wirkt als Zeichen der wahren Gotteskindschaft.


III.

LeerDiese Gotteskinderschaft nun ist die Eulogia pneumatike, von der unsere neutestamentliche Lesung aus dem Epheserbrief singt: die geistliche Frucht des Segens, mit dem Gott uns gesegnet hat und die nun ihrerseits den Vater preist - nicht bloß in Worten: dieses neue, verwandelte Sein der Gotteskindschaft in Furchtlosigkeit und Friede ist ein Lobpreis seiner Herrlichkeit - in dieser Zeit. Denn auch diese unsere Zeit, die Geschichte dieser Welt ist nun neu erschlossen - wie unsere Lesung sagt: als oikonomia tou pleromatos tõn kairõn, nicht als eine ziellos und sinnlos dahinfließende Folge von Zeitläufen (chronoi), die immer nur auf ein besseres Morgen warten lassen (sofern man überhaupt noch etwas erwartet), sondern als Kairoi, als immer neu, hier und heute erfüllte Stunden des Daseins - aufgrund einer Ökonomie, einer Ordnung, die darin gründet, daß der Logos das Prinzip allen Seins ist. Denn alles Sein ist worthaft, hat uns etwas zu sagen, wenn wir nur mit genügend wachem Herzen danach fragen.

LeerIch gestehe, ich bin etwas erschrocken über die überfließende Dichte der Aussagen dieses Hymnus und die Sicherheit, die darin zum Ausdruck kommt und in vielen unserer liturgischen Texte und Lieder. Ich gestehe, oft mit Situationen konfrontiert zu sein, in denen ich mich nicht getraue, so zu reden, wie dieser Hymnus. Mir persönlich scheint heute die Weise zutreffender zu sein, wie die Offenbarung des Johannes von Jesus Christus als dem Geheimnis der Geschichte spricht, indem sie die Geschichte dieser Welt vor Augen stellt in immer neuen Folgen von Schreckensbildern, eine Geschichte zum Weinen (5,4), weil zugleich ein Buch mit sieben Siegeln, das niemand zu öffnen und zu lesen vermag. Aber nun geschieht hierhinein das Erstaunliche, daß sich jedesmal - fast möchte ich sagen: als Ankündigung neuer großer Schrecken - der Blick richtet auf die himmlische Liturgie um das Lamm. Von hierher, vom Lamm her wird die irdische Geschichte durchschaubar; im Lamm ist die Geschichte überwunden.

LeerDieser Durchblick geschieht in der Johannesapokalypse am Tag des Herrn, am Sonntag, der seit alters durch die Eucharistie charakterisiert ist, der Tag der Auferstehung, der Erste Tag, der Tag der Vision der Vollendung im himmlischen Gastmahl. Liebe Schwestern und Brüder, dieser Tag ist heute, jetzt, da wir gemeinsam den Vater preisen in dem Geist, der uns überliefert ist und den wir bitten wollen, uns immer mehr hineinzunehmen in die Hingabe des Sohnes, in der seine Liebe am Kreuz zur Vollendung kam. Heute ist der Erste und der Achte Tag: das ist zugleich Ausdruck dafür, daß wir in der eucharistischen Erinnerung unterwegs sind. Das Weinen über die verworrenen und scheinbar so sinnlosen Wege der Geschichte selbst der Kirche in dieser Zeit - Warum all diese Spaltungen und Trennungen? -, der Schmerz darüber geht heute bis in diese unsere Gemeinschaft. Vielleicht ist unsere Unfähigkeit, in der Bindung an unsere Kirchen diese Eucharistie in ihrer Vollgestalt gemeinsam zu feiern, Zeichen dafür, daß die Gotteskindschaft uns erst wie ein „Angeld” (so übersetzen wir das paulinische Wort, wir könnten auch sagen: „Anzahlung”) zuteil ist; wie eine Knospe, die noch warten muß auf die Zeit der Blüte. Ist das nicht auch ein Zeichen dafür, daß die Furcht in uns noch nicht überwunden ist, weil unser Glaube noch so sehr institutionellen Vorbehalten und Absicherungen verhaftet ist, wie wir ja auch in der Erfahrung unserer Wegsituation erschrecken über die sieghafte Dichte der liturgischen Aussagen im Epheserbrief, Zeichen eines verzagenden Herzens? Eucharistie auf dem Wege zwischen Erstem und Achtem Tag ist umso nachdrücklicher aber die Erinnerung: Heute sollst du erkennen und dir's zu Herzen nehmen und einer für den anderen hier in unserem Kreis bekennen: Der Herr, der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, er hat dich hineingenommen in das bergende Geheimnis seines Lebens - der sakramentale Ausdruck dafür ist der Rückverweis jeder Eucharistie auf die Taufe -, und die Knospe dieses göttlichen Lebens in dir und in mir, der Geschmack am Leben in dir und in mir hat eine eigene Dynamik. In dieser Dynamik dürfen wir trotz aller Zeichen noch unvollständiger Gemeinschaft in gläubiger und zugleich geduldiger Hoffnung feststellen: Solche Hoffnung macht Freude, und Freude muß man tanzen, aus ganzem Herzen singen, gemeinsam tanzen und singen. Amen.

Quatember 1984, S. 66-71

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-08
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