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Leiblicher und seelischer Schmerz als Glaubensanfechtung
von Adolf Köberle

1.

LeerDaß die Bibel ein Buch voller Lebensnähe ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß ihr der Schmerz als leibliches und seelisches Erleiden allenthalben vertraut ist. Von dem Erzvater Jakob wird erzählt: Als man dem alten Mann den blutbefleckten Rock seines Sohnes Joseph brachte, den nur ein wildes Tier getötet haben konnte, da zerriß Jakob seine Kleider und trug Leid um seinen Sohn lange Zeit. Und all seine Söhne und Tochter kamen zu ihm, ihn zu trösten, aber er wollte sich nicht trösten lassen und sprach: Ich werde mit Leid hinunterfahren in die Grube zu meinem Sohn. Und sein Vater beweinte ihn. (1.Mos. 37)

LeerVon David lesen wir: Als ihm das tragische Ende von Absalom gemeldet wurde, da erbebte der König und ging hinauf in das Obergemach des Tores und weinte und im Gehen rief er aus: mein Sohn, wollte Gott, ich wäre für dich gestorben. (2. Sam 19)

LeerJesus sieht mit prophetischem Blick voraus, was für ein furchtbares Gericht über Jerusalem in Bälde hereinbrechen wird. „Als er nahe hinzu kam, sah er die Stadt und weinte über sie.” (Luk 19,41)

LeerPaulus als berufener Apostel wird nicht damit fertig, daß sein Volk Jesus als den Messias verworfen hat. Er bezeugt sein Herzeleid im Römerbrief (9,1) mit den Worten: „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Zahl in meinem Herzen trage für meine Brüder, die meine Stammverwandten nach dem Fleische sind.”

LeerVergessen wir über der Trauerarbeit der Väter nicht Maria, die Mutter des Herrn, das Urbild der Mater Dolorosa, der ein Schwert durch die Seele geht, als sie den Sohn am Kreuz leiden sieht.

LeerNicht nur der seelische Schmerz, auch der grausame leibliche Schmerz begegnet uns an vielen Stellen im Zeugnis der Heiligen Schrift.

LeerGleich auf den ersten Blättern der Bibel wird hingewiesen auf den Geburtsschmerz im Leben der Frau, während der Mann dem Acker in Mühe und Pein die Frucht abringen muß.

LeerVon dem Dulder Hiob wird berichtet: Er wurde mit bösen Schwären von der Fußsohle bis zu seinem Scheitel geschlagen, und er nahm eine Scherbe und schabte sich. Die Freunde, die ihn besuchen, verstummen; denn sie sahen, daß der Schmerz groß war.

LeerIm Mittelpunkt der Evangelien steht das Bild Christi, von dem das Passionslied singt: Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen! In der Gluthitze des Karfreitags erklingt vom Kreuz her der qualvolle Schrei: Mich dürstet.

LeerIm Zeitalter des Fortschrittsglaubens, der um die letzte Jahrhundertwende zum Durchbruch kam, wurde die Bibel wegen ihrer zahlreichen schmerzhaften Aussagen als weltfremd empfunden. Inzwischen ist über unser Jahrhundert eine Schmerzensflut ohne gleichen hinweggerollt. Es genügt, an die Namen Verdun, Stalingrad, Hiroshima, Auschwitz, Theresienstadt und Beirut zu erinnern. Die Bibel ist uns dadurch wieder nahe gerückt als ein Buch, das die Realität des Schmerzes nicht verschweigt, sondern schonungslos enthüllt.


2.

LeerDer seelische Schmerz hat ungezählte Spielarten. Vieles müßte nicht sein, wenn wir Menschen guten Willens und nicht argen Wesens wären. Wieviel Jammer des Herzens entsteht tagaus tagein in den zwischenmenschlichen Beziehungen aus Haß, Eifersucht und Neid, aus unbarmherzigen Worten und unbeherrschtem Wesen! All diese Verwundungen ließen sich vermeiden, wenn wir bereit wären, gütig und liebreich, geduldig und verstehend miteinander umzugehen.

LeerMachen wir uns aber auch klar, daß viele seelische Verletzungen nur darum so weh tun, weil unsere ungebrochene Ichhaftigkeit keine Kritik verträgt. Würden wir das eitle, selbstgefällige Wesen in den Tod geben, wir könnten Enttäuschungen, Demütigungen, Zurücksetzungen, die das Leben keinem erspart, gelassener ertragen, überlegener bewältigen.

LeerFreilich, aus eigener Kraft kommt das in sich selbst verkrümmte Herz nicht zur Befreiung. So lange wir um uns selbst kreisen, werden wir auch verwundbar bleiben. Helfen kann allein ein radikaler Stellungswechsel, daß wir in der Gemeinschaft mit Christus den alten Menschen sterben und begraben sein lassen und zu einem neuen Sein und Wandel auferstehen. Allein dadurch verliert die seelische Verletzbarkeit an Kraftwirkung. Wir werden unabhängig von dem Gerede der Leute über uns. Wir brechen nicht mehr fassungslos zusammen, wenn wir ungerechterweise übergangen werden.

LeerAm bittersten weh tut der Schmerz, der aus der persönlichen Schulderfahrung stammt. So kann uns am Grab der Mutter jäh zum Bewußtsein kommen: ich habe sie nicht genug geliebt, ich habe ihr nicht genug gedankt für alles, was sie mir gewesen ist. Wie oft hat sie gebeten: Schreib doch wieder einmal, schau bei mir herein! Der Liebesdienst ist versäumt worden, sei es aus Trägheit, sei es aus ständiger Überbeschäftigung. Eines Tages ist es zu spät. Reuevoll erleiden wir die Nichtumkehrbarkeit der Zeit. Angesichts solcher Unterlassungssünden gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich muß verzweifeln ob meiner Schuld oder es gibt eine Stelle in der Welt, wo Schuld abgeladen werden kann. Wir dtirfen Zuflucht suchen bei dem leidenden Knecht Gottes, von dem das prophetische Wort sagt: „Fürwahr, er trug unsere Krankheiten und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.” (Jes 53)

LeerGewiß gibt es auch seelische Schmerzen, die nicht mit der Urschuld der Selbstliebe zusammenhängen. Denken wir an das Abschiedsweh im Sinn des Liedes: „Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden”. Es gibt den Schmerz des Einsamgewordenseins im hohen Alter. Jeder geistig und künstlerisch Schaffende kennt den Schmerz, wenn ihm ein Werk nicht so gelingen will, wie es vor seiner Seele stand. All solche Erfahrungen können wir nicht als Ausdruck eines sündhaften Egoismus bezeichnen. Und doch wirkt sich auch darin die fehlende Gottesbeziehung aus. Denn wenn wir unter dem allen leiden, unter dem Abschiedsweh, unter der Einsamkeit, unter der Begrenztheit der eigenen Begabung, so hängt es zuletzt doch damit zusammen, daß wir noch nicht genug in der Heimat bei Gott Ruhe und Frieden gefunden haben. Würde ich Gott über alle Dinge lieben und ihm vertrauen, wurde ich Gott täglich neu meines Herzens Freude und Trost sein lassen, dann könnten mich alle Verwundungen und Versagungen des Lebens nicht mehr haltlos und hemmungslos schmerzen.


3.

LeerAber nun gibt es ja neben dem seelischen Schmerz auch die ungeheure Gewalt des leiblichen Schmerzes in allen Varianten von Brennen und Stechen, von Bohren und Wühlen, von Rasen und Toben, von Jucken und Reizen, von plötzlich aufbrechender Heftigkeit und von dumpf anhaltender Dauer. Der Mensch aber fragt sich voller Entsetzen: was soll dieser leibhaftige Schmerz, woher kommt er, was hat er zu bedeuten, wie kann ich mit ihm fertig werden?

LeerDer physiologische Schmerz bringt uns unausweichlich zu Bewußtsein, daß wir Menschen keine reinen Geistwesen sind, sondern unabtrennbar bis zum letzten Atemzug an unsere Leiblichkeit gebunden bleiben. Diese Tatsache anzuerkennen, fällt uns keineswegs leicht. Es gibt einen philosophischen und einen religiösen Idealismus, der diese Abhangigkeit nicht wahrhaben will. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß der leibhaftige Schmerz ab- oder zunimmt, je nachdem, wie ein Mensch tapfer überlegen oder kleinmütig verzagt sich dazu einstellt. Aber man darf den Enthusiasmus, daß der Geist es ist, der sich den Körper baut, nicht übersteigern. Der Schmerz in Nerven und Gliedern kann ein so furchtbares Ausmaß annehmen, daß auch der heroische Mensch zuletzt nur noch ein Häufle wimmerndes, jammerndes Elend ist.

LeerAber woher nimmt der in den Sinnen erlittene Schmerz seine Allgewalt? Seelischer Schmerz, so sahen wir, kann verschuldet sein aus Liebesmangel gegenüber Gott und dem Nächsten. Seelischer Schmerz kann geheilt werden durch Bereuung und Vergebung. Aber was soll der irrsinnige Schmerz, den eine Verbrennung, eine Erfrierung, eine Migräne, eine Gürtelrose, eine Verletzung durch Verkehrsunfall verursacht?

LeerFragen wir zunachst: was vermag ärztliches Wissen uns darüber mitzuteilen? Die medizinische Wissenschaft richtet ihre Aufmerksamkeit vor allem darauf, wo der Schmerz entsteht und über welche Bahnen er zum Gehirn geleitet wird. Unsere Hautoberfläche ist übersät mit feinsten Nervenendigungen. Durch Reizwirkungen aus Hitze oder Kälte, durch Stoß und Stich werden diese Empfangsstationen getroffen. Die Erregung läuft mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auf den einzelnen Nervenfasern über das Rückenmark und Zwischenhirn zur Großhirnrinde. So detailliert unser heutiges Wissen über diesen Verlauf geworden ist, über die metaphysische Hintergründigkeit des Schmerzes erfahren wir auf diesem Weg so gut wie nichts.

LeerEin seltsames Geheimnis ist die Unzuverlässigkeit des Schmerzes. Auf der einen Seite ist der verhaßte Schmerz unser bester Heifer. Er nötigt durch seine Heftigkeit, den Arzt aufzusuchen. Er hilft dem Arzt bei der Diagnose auf den rechten Weg, angefangen von der ersten Frage bei der Konsultation: wo tut es denn weh? Man hat den Schmerz darum geruhmt als einen Wohltäter der Menschheit, als eine zarte Aufmerksamkeit der Natur, als einen willkommenen Warner bei heraufziehender Gefahr.

LeerRatselhaft bleibt nur, warum dieser Wachhund oftmals schläft, wo er unbedingt bellen müßte. So ist zum Beispiel die Gebärmutter völlig unempfindlich, so daß sich dort eine lebensgefährliche Geschwulst stillschweigend ausbreiten kann. Bis der Schaden endlich wahrgenommen wird, ist es meist schon zu spät. Warum das Ohr auf jede Erkrankung mit rasenden Schmerzen reagiert, während das Gehirn keine Empfindlichkeit kennt, das alles sind Fragen über Fragen, auf die die empirische Forschung keine Antwort weiß. Nach biblischer Uberzeugung hängt der leibliche Schmerz damit zusammen, daß die gute Schöpfung Gottes durch einen kosmischen Urfall ihren ursprünglichen Glanz verloren hat. Die Werke sind nicht mehr herrlich wie am ersten Tag. Der französische Mystiker Saint Martin hat dafür das Bild gebraucht: die gegenwartige Schöpfung ist „der Winter Gottes”. Mit dem Kommen Jesu Christi in die Welt, mit seinem Auferstehungssieg ist wohl unter der Decke dieser alten Weltgestalt ein neuer Weltenfrühling Gottes angebrochen, der auf eine neue Schöpfung hinzielt, in der der Tod nicht mehr sein wird noch Leid noch Geschrei. Aber so lange wir unterwegs sind in diesem Tal der Tränen, werden auch Herzweh und Traurigkeit, Krankheit und Todesnot uns begleiten.


4.

LeerDie philosophische und religiöse Deutung des Schmerzes tritt zurück hinter der Frage, wie wir praktisch damit fertig werden können. Die uns allen wohlvertrauten Parolen der Gegenwart lauten: Geburt ohne Schmerz, Erziehung ohne Schmerz, Sterben ohne Schmerz und vor allem Alltag ohne Schmerz. Die moderne Gesellschaft verlangt und erwartet von der Medizin und Pharmazeutik eine ständig fortschreitende Beseitigung des Schmerzes. Wir sind gewiß alle unendlich dankbar dafür, daß es der Heilkunde gelungen ist, den körperlichen Schmerz in weitem Umfang einzudammen. Wir können nur noch ahnen, was die Menschheit gelitten haben mag, als es noch keine Narkose gab. Als dem Baseler Buchhändler Froben, einem Zeitgenossen von Erasmus und Paracelsus, wegen Altersbrand ein Bein abgenommen werden mußte, da hielten zwei starke Manner den vor Schmerzen sich Aufbäumenden fest, wahrend mit einer Säge das kranke Bein abgetrennt wurde. Eine Fülle von kühnen, gewagten Operationen ist allein dadurch möglich geworden, daß sich die Kunst der Anaesthesie so hoch entwickelt hat.

LeerUnd doch, wir wollen die moderne Schmerzausschaltung nicht nur verherrlichen als einen Triumph der Wissenschaft. Der Fortschritt hat nicht nur Lichtseiten, sondern auch Schattenseiten, für die wir nicht blind sein dürfen. Die moderne Schmerzverhütung bedeutet vielfach nur eine Verlagerung des Schmerzes. Das Zahnziehen ist durch vorangegangene Einspritzungen nahezu schmerzlos geworden. Aber hinterher kann das vereinnahmte Gift ganz schön plagen. Untersuchungen in einer Schulklasse ergaben, daß der gesundheitliche Allgemeinzustand der meisten Kinder auffallend schlecht war. Dabei zeigten sich auch ungewöhnlich viele Zahnschäden. Die Frage des Schularztes „Hat man Euch denn nicht zum Zahnarzt geschickt? ” verneinten die Schüler und Schülerinnen. Die Eltern hätten ihnen statt dessen schmerzstillende Tabletten in großer Zahl verabreicht. Um den Kindern den unangenehmen Besuch beim Zahnarzt zu ersparen, hatte man sie durch eine fragwürdige Medikamentenfütterung ungleich nachhaltiger geschädigt. Wir verfügen über zahllose wirksame Praparate gegen Kopfweh, Neuralgie und Rheuma. Aber dauernd eingenommen schaden diese Mittel der Leber und den Nieren, was keineswegs leicht zu nehmen ist. Mit Recht stellt Ernst Jünger fest: „Wo mit dem Schmerz gespart wird, kommt er anderswo tropfenweise wieder hervor.”

LeerEs wurde gezeigt: seelischer Schmerz kann göttlich verarbeitet werden durch Bereuung der Schuld, durch Abtöten der Ichverkrampfung. Immer mehr Menschen aber ziehen es vor, ihre seelischen Konflikte mit Hilfe der Chemie und der Apotheke zu lösen. Beim Aufstehen in der Morgenfrühe braucht man Aufputschmittel, Weckamine gegen Müdigkeit und Arbeitsunlust. Am Abend sind dann wieder Beruhigungspillen fällig gegen Ärger, Aufregung und Verdruß. Wozu ein Gespräch des Herzens mit Gott führen, wenn man sich die Hilfe rascher und wirksamer aus den Döschen holen kann, die man ständig mit sich führt! Wie groß aber ist die Gefahr, daß der Mensch über solchen Angewohnungen drogensüchtig wird und regelrecht in des Teufels Küche gerät.

LeerDie Flucht vor dem Schmerz bringt es mit sich, daß der Mensch um wesentliche Ereignisse des Lebens in Freud und Leid betrogen wird. Das gilt vor allem im Blick auf die Mysterien von Geburt und Tod.

LeerDer englische Arzt Dr. Read verdient gewiß Dank und Anerkennung, daß er den Müttern geholfen hat, den Vorgang der Geburt zu erleichtern durch vorbereitende Gymnastik, durch Atemtechnik und gynäkologische Aufklärung. Es gibt freilich Mütter, die in all dieser Unterweisung geschult, nachdem das Kind da war, erklärt haben, das Buch sei eben doch von einem  M a n n  geschrieben. In unserer durch viele Zivilisationsschäden belasteten Umwelt bleibt jede Geburt mit und ohne Dr. Read ein mühevolles Geschehen. Die Narkose als Angebot des Arztes mag darum in vielen Fällen durchaus naheliegen. Gleichwohl gibt es nicht wenige Mütter, die es ablehnen, auf diese Weise ihr Kind zu bekommen. Sie wollen dieses Urereignis bei vollem Bewußtsein durchstehen, weil sie wissen: die dabei erlittenen Schmerzen schaffen eine Wesensverbundenheit mit dem Kind, die für das ganze weitere Leben bedeutsam bleibt.

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LeerAuch im Blick auf das Sterben ist Gleiches zu sagen. Von dem Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl wird berichtet: Als es mit ihm zu Ende ging und man ihm die letzten Stunden erleichtern wollte durch die Darreichung von Opiaten, soll er ausgerufen haben: Ich werde mir doch meinen eigenen Tod nicht rauben lassen, und er hielt standhaft durch, bis ausgelitten war. Rainer Maria Rilke beklagt auf Grund seiner Pariser Erfahrungen in dem Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”, daß in den Kliniken nur noch fabrikmäßig gestorben wird. Er erhebt gegenüber diesem seriellen Ablauf in seinem „Stundenbuch” die Bitte: „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod!”

LeerAuf das Ganze gesehen gewinnt man den Eindruck: frühere Generationen waren dem Schmerz gegenuber nüchterner und tapferer. Man nahm ihn hin, man fand sich mit ihm ab als einer Seite des Lebens, die sich nicht ausschalten läßt. Man muß nicht gleich bei jedem Halsweh Penicillinbonbons schlucken und Müdigkeit bekämpft man besser durch ausgiebigen Schlaf und einen Waldlauf statt durch überhöhte Mengen von Narkotika.

LeerAuch zur Ausschaltung des seelischen Schmerzes gibt es Angebote und Ratschläge. Die beiden bedeutsamsten Bemühungen sind der Buddhismus und die stoische Philosophie.

LeerEin wesentlicher Satz indischer Weisheit lautet: Begehre, und Du wirst leiden! Als Schlußfolgerung ergibt sich daraus: Höre auf zu begehren, und nichts wird dich mehr leiden machen. Verzichte auf Bestätigung und Anerkennung, auf Ehre und Belohnung, dann wird dich keine Enttäuschung mehr kränken. Der Mensch geht hinfort in einem Kleid, das aus Fäden der Resignation gewebt ist. In dieser Gewandung ist er unangreifbar geworden. Kein Schmerz berührt ihn mehr, freilich auch kein Glück und keine Freude.

LeerMartin Luther kannte das Ideal der schmerzfreien Empfindungslosigkeit nicht aus dem Buddhismus, wohl aber aus der antiken Philosophie und aus der quietistischen Mystik, die er im Kloster studiert hatte. Doch der Reformator wendet sich entschieden gegen eine solche Zielsetzung der leidfreien Unberührbarkeit: „Sie wollen eitel Steine und Klötze aus uns machen, daß man sollte tränenlosen Auges dastehen, es stürbe gleich Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter. Das aber ist eine erdichtete Tugend und nicht der göttliche Wille.” Der Reformator weist in dem Zusammenhang hin auf Jesus in Gethsemane, der den Schmerz angenommen und ihm standgehalten hat „unter Gebet und Flehen, mit starkem Geschrei und Tränen”, wie der Hebräer-Brief sagt (5,7).

LeerZur christlichen Existenz gehort auf keinen Fall Schmerzsüchtigkeit. Wo eine solche in der Geschichte der Kirche gelegentlich aufgetreten ist als eine masochistische Lust, sich selbst zu quälen oder quälen zu lassen, geraten wir in den Bereich der Religionspathologie. Wohl aber gehört zur christlichen Glaubenshaltung Schmerzbereitschaft und Schmerzwilligkeit da, wo Leidvolles in leiblicher oder seelischer Gestalt ungewollt und ungesucht an uns herantritt. Inwiefern kann Schmerz als sinnvoll bejaht werden? Denken wir an die ungezählten oberflächlichen Menschen, die nach dem Grundsatz leben: Ich hab ja alles, mir fehlt ja nichts, ich meistere das Leben in eigener Kraft und Klugheit! Wozu soll ich die Hände falten und aus der Tiefe rufen: Herr, erbarme dich meiner!

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LeerDer Schmerz aber kann zu dem großen Erwecker werden, daß Menschen aus Leichtsinn und Diesseitsbessenheit aufgeschreckt werden und anfangen, nach dem zu fragen, was dem Leben bleibenden Sinn und Wert gibt. Gewiß, der Schmerz muß nicht diese heilsame Wirkung haben, er kann auch verhärten und verstocken und Gott gegenüber bitter machen. Und doch, es gibt Beispiele genug, wie der Schmerz auf dem Krankenlager oder am offenen Grab zustande gebracht hat, einen Menschen aus dem Gefängnis der Endlichkeit herauszuholen und ihn für Gott neu aufzuschließen. Der Meister Ekkehart behalt recht: „Es gibt kein Roß, das schneller zur Vollkommenheit führt, denn Leiden.” André Gide hat erklärt: „Gesundheit kann Wahrheit verschließen und Krankheit kann Wahrheit erschließen.”

LeerSo lange ein Mensch den Schmerz nicht oder kaum kennt, kann es geschehen, daß ihm die Passion Jesu nicht nur fern bleibt, ja man stößt sich in der Fülle von Kraft und Leistung an der Gestalt dessen, der keine Schöne hatte. Die griechischen Götter Apollon und Dionysos waren mythische Symbole für rauschende Feste, reich an Eros, Tanz und Jubel. Auf die Schlachtfelder, in die Gaskammern, in die Säle der Krebskranken können wir die Götter Griechenlands nicht mitnehmen. Wohl aber können wir uns an den Stätten des Schreckens und des Grauens an das Zeichen des Kreuzes halten und mit Paul Gerhardt sprechen: Wann mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten Kraft Deiner Angst und Pein!

LeerWer im eigenen Leben an leiblicher und seelischer Not viel hat durchmachen müssen, wird ganz von selbst mitfühlend für alle Spielarten des Leidvollen urn ihn her. Eigenes Erleiden macht verstehend und hilfsbereit für die Lasten, die andere zu tragen haben. Kranke Menschen haben ein feines Gespür dafür, ob ein Besucher am Krankenbett selbst um große Trübsal weiß oder ob er Anteilnahme nur deklamiert. Wir wollen den Schmerz darum nicht verwünschen, weil er uns, wenn wir ihn bestanden haben, in Stand setzt, andere zu trösten mit jenem Trost, mit dem wir selbst getröstet wurden. Albert Schweitzer sagt dazu: „Der Genesende soll nicht denken, daß er sein altes Leben wieder aufnehmen könne. Hellfühlig geworden durch eigene Schmerzerfahrung, hat er hinfort die Pflicht, anderen im Kampf gegen Schmerz und Angst beizustehen und ihm die Hilfe zu bringen, die ihm selber zuteil geworden ist.”

LeerEs kann keiner die Gesamtlast des Weltleides auf sich nehmen. Wollten wir es in gut gemeintem Überschwang versuchen, wir würden bald darüber zusammenbrechen und selbst der Hilfe durch andere bedürftig werden. Wohl aber soll sich jeder überlegen, an welcher Stelle er an seinem Teil dazu beitragen kann, leiblichen und seelischen Schmerz in der Welt zu lindern und zu verhindern. Je mehr Menschen guten Willens sich dazu bereitfinden, umsomehr wird sich ein solcher Dienst der Liebe als öffentliche Segensmacht auswirken.

LeerWenn wir als die vom Schmerz Gezeichneten wach und hellfühlig geworden sind für alles Herzweh im weiten Raum der Menschheit, dann laßt uns nicht vergessen, daß ja auch die außermenschliche Kreatur um den Schmerz weiß und davor erzittert. In dem Sinn spricht der Apostel Paulus im achten Kapitel des Römerbriefs von der seufzenden Kreatur, die voll Verlangen Ausschau hält nach einem Tag der Welterlösung. Gewiß, wir Menschen können die Opfer der stummen Kreatur nicht entbehren. Aber wir sollten niemals vergessen, daß es ein wirkliches Opfer ist, das wir abverlangen und das uns dargebracht wird. Wenigstens sollten wir uns hüten vor jeder unnotigen Quälerei der Geschöpfe, die unsere unbekannten Brüder sind.

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LeerZuletzt sei noch eine Einsicht zur Sprache gebracht, die allerdings nur Menschen in einem gereiften Glaubensstand zugänglich ist. Es gibt auch stellvertretendes Leiden, das dem Reich Gottes zugute kommt. Im Eingangskapitel zum Kolosserbrief (1,24) findet sich ein geheimnistiefes Wort, dessen Auslegung schon manches Kopfzerbrechen bereitet hat. Paulus schreibt den Brief aus Rom, den Märtyrertod vor Augen. Er mag sich gefragt haben: wäre es für die Sache des Evangeliums nicht besser, wenn ich von Schmerz und Haft befreit die Gemeinde besuchen und stärken könnte? Aber er weiß auch seiner bedrohlichen Haft eine Sinndeutung zu geben: „Nun freue ich mich in den Leiden, die ich für Euch erleide und erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an den Trübsalen Christi, seinem Leib zugut, welcher ist die Gemeinde.” Die Aussage darf auf keinen Fall so mißverstanden werden, als wäre das Leiden und Opfer Christi nicht allgenugsam, als müßte es durch ein zusätzliches Werk der Jünger ergänzt und aufgefüllt werden.

LeerBis zum Endsieg Gottes, bis zur vollendeten Aufrichtung seiner Konigsherrschaft geht die Auseinandersetzung zwischen Christus und den antichristlichen Mächten unablässig weiter. „Wir sehen ihm jetzt noch nicht alles untertan”, sagt der Hebräer-Brief (2,8). Bei diesem ungeheuren Ringen findet sich nicht jeder in die vorderste Frontlinie gestellt. Wohl aber gibt es Menschen und muß es Menschen geben, die den Zusammenprall im ersten Glied auszuhalten haben und deren Standhaftigkeit dem ganzen Leib Christi zugute kommt. Wir Christen im freien Westeuropa gehören im allgemeinen nicht dazu. Wir erleiden kaum Trübsale um unseres Glaubens willen. Umsomehr bekomrnen Christen in totalitär regierten Staaten den Angriff zu spüren. Sie leiden stellvertretend für uns. Mit dem Lied der Kirche gilt es zu bitten: Laß' viel Früchte Deiner Gnad' folgen ihrer Tränensaat, erbarm Dich, Herr!

LeerHat das Evangelium auch Verheißung und Hilfe im Blick auf den leiblichen Schmerz? Wenn ein Mensch von quälender Leibesnot geplagt wird, dann kann er nichts Besseres tun, als sich in die Behandlung eines tüchtigen Arztes zu begeben. Nach biblischer Überzeugung ist uns der Arzt mit seinem Können, mit seiner Erfahrung als Helfer und Beistand von Gott gegeben. Es wäre ein Ausdruck übergeistlicher Frommigkeit, auf diesen Dienst zu verzichten und alle Befreiung von einem wundertatigen Eingreifen Gottes zu erwarten. Aber nun weiß jeder einsichtige Arzt, wieviel darauf ankommt, ob ein Mensch sich auf seinem Schmerzenslager verzagt und verzweifelt fallen läßt oder ob er bereit ist, im Aufblick zu Gott an seiner Genesung glaubend, betend und hoffend mitzuarbeiten.

LeerDas in Jesus Christus erschienene Heil Gottes betrifft nicht nur den inwendigen Menschen. Es gilt dem ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist. Darum hat Jesus nicht nur gepredigt und gelehrt, er hat sich auch der kranken Leiber in barmherziger Liebe angenommen. Es geht nicht an, die Wunder Jesu an Kranken, Blinden, Tauben und Lahmen aus den Evangelien zu streichen und sie in den Bereich des Legendären zu verweisen. Diese rationalistische Wunderscheu sollten wir fahren lassen. Martin Luther hat sich in Krankheitszeiten an die Worte des 118. Psalms geklammert: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen.” Angelus Silesius ruft uns zu: „Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben. Ach, daß wir Menschen nur so kleine Herzen haben.” Wie wäre es, wenn wir anfangen würden, zunächst bescheidene Siege von Gott zu erbitten angesichts von Müdigkeit, Föhnwetter, Schlaflosigkeit und Abgespanntsein. Dann konnte es mit der Zeit ja geschehen, daß uns auch Befreiungen aus großerer Leibesnot zuteil werden.

Quatember, S. 86-95

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-08
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