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von Beda Müller OSB |
Vor 25 Jahren kam ich zum ersten Mal zu einem ausgiebigen Besuch nach Berlin. Ich war von 1946-66 Jugendseelsorger und konnte wiederholt mit Jugendgruppen die üblichen Berlinbesuche machen. Der Eindruck der Stadt war vielfältig. Am stärksten wohl die Teilung der Stadt in zwei ganz verschiedene Hälften, dann der Hinrichtungsschuppen Plötzensee, wo wir die Messe feierten. Damals gab es noch keine Gedenkstätte, wir mußten uns den Schlüssel besorgen und beim Gefängnispfarrer, einem Jesuitenpater, den Meßkoffer ausleihen, um in diesem Raum, in dem einige Tausend Männer und Frauen umgebracht wurden, den Gottesdienst zu halten. Damals stand Regina Martyrum noch nicht. Welch ein zukunftsträchtiger Keim ist dieser Stadt mit diesem Blutzeugnis so vieler Christen gegeben. Ein ganz anderer Gedanke überfiel mich am Flugplatz Tempelhof: Diese gigantische Architektur, jetzt im Zustand des Verfalls, brachte mich auf die biblische Parallele "Turmbau von Babel". Was war in Babel geschehen? Die Menschen hatten eine Erfindung gemacht, das Ziegelbrennen. Sie waren jetzt in der Lage, auch ohne Bruchsteine große Bauten aufzuführen. Und sie bauten eine Stadt mit einem Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reichen sollte. "Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen." (Gen 11,4) Der biblische Bericht ist nicht ohne Ironie: "Da stieg Gott herab, um die Stadt und den Turm anzusehen." Aus seiner Perspektive ist das Gebäude so winzig, daß er heruntersteigen muß, um es überhaupt wahrzunehmen. Ich möchte diesen Anthropomorphismus auflösen nach dem Augustinuswort: "Gott, du hast es so geordnet, daß sich selbst zur Strafe wird jeder ungeordnete Geist." Den Menschen war ihre Erfindung in den Kopf gestiegen. Sie vergaßen, Gott die Ehre zu geben. Sie wollten sich einen Namen machen, sich ein Denkmal bauen. Das Motiv ist noch recht seriös: um ihre politische Einheit zu sichern. Aber offenbar waren die Prioritäten falsch gesetzt, und darum nahm das Verhängnis seinen Lauf. Wenn der Mensch sich einen Namen machen will und die Ehrung des göttlichen Namens vergißt, dann macht er sich zum Mittelpunkt, dann setzt er sich auf den Thron, der eigentlich IHM gebührt. Diese Überheblichkeit hat ihre Folgen: Der Selbstherrlichkeit folgt die Geringschätzung der anderen. Man hat es nicht nötig, mit dem Nachbarn zu sprechen, auf den andern zu hören, ihn zu verstehen. Und wenn man den andern nicht mehr verstehen will, dann kommt der Tag, da man ihn nicht mehr verstehen kann: Sprachenverwirrung! Gegenseitiges Mißtrauen, man riegelt sich ab, baut Grenzpfähle, errichtet Schlagbäume, Zollschranken, Befestigungen, Stacheldrähte, Minensperren und Mauern. Das Gegenbild der Babylonischen Sprachenverwirrrung ist das Pfingstfest. Auch wir erleben in unserer heutigen Zeit pfingstliche Aufbrüche. Beim 11. Vatikanischen Konzil waren über 2 000 Konzilsväter aus allen Kontinenten versammelt. Trotz der verschiedenen Sprachen haben sie sich verstanden. Nicht nur wegen des Lateins, sondern weil sie alle die gleiche Mitte hatten: Jesus Christus! Ähnliches gilt von der letztjährigen Vollversammlung des Weltkirchenrates, von der ganzen ökumenischen Bewegung. Sollten wir nicht versuchen, die Geschicke unseres Volkes und dieser Stadt in größerem geschichtlichem Zusammenhang, ja in heilsgeschichtlicher Perspektive zu sehen? Wir hatten in Neresheim einmal als Thema der jährlichen ökumenischen Werkwoche gewählt: "Anruf Gottes im gespaltenen Volk". Da wurde uns sehr deutlich, daß die Spaltung unseres Vaterlandes und noch im besonderen der Stadt Berlin uns etwas zu sagen hat. Sie ist nicht nur die Folge eines verlorenen Krieges und eines verbrecherischen Regimes. Sie ist die Folge davon, daß wir "den Namen unseres Volkes zum Gott gemacht haben". (Gertrud von Le Fort) Hitler hat unseren Nationalismus zur Perfektion getrieben und zur Perversion geführt. Angefangen hat dieser falsche Weg aber schon viel früher, als die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Errungenschaften, die politischen und militärischen Anstrengungen mehr und mehr dazu dienten, unserem Volk einen Namen zu machen, seine Macht zu mehren und seine Weltgeltung durchzusetzen. Ja, aber machen es so nicht alle Nationalstaaten? Sind Frankreich, England und die USA hier ohne Sünde? Friedrich Wilhelm Foerster, der große Pädagoge und Sohn dieser Stadt, dem ich in dieser Sicht der deutschen Geschichte verpflichtet bin, ist in seiner "Politischen Ethik" dem Schicksal der europäischen Kernstaaten nachgegangen. Er zeigt, wie der französische Absolutismus 1793 der weltgeschichtlichen Blutrache anheimfiel, wie Frankreich in der großen Revolution seine Freiheit errang, aber sein politisches Gleichgewicht verlor; wie Englands Machtpolitik die Entfremdung Irlands zur Folge hatte, das Mißtrauen der übrigen europäischen Staaten, die Erhebung der Kolonialvölker und damit Englands Isolierung und Niedergang. Foerster zeigt, wie die Selbstvergötzung der Völker nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch zersetzend wirkte, wie sie ihrem besseren Selbst und ihrer eigentlichen Berufung entfremdet wurden. Nationaler Egoismus führt zum kollektiven Egoismus der Klassen, Parteien und Interessengruppen und endet beim individuellen Egoismus der einzelnen. Wir Deutschen sind diesen Irrweg mit der uns eigenen Radikalität gegangen. Hitler ist der Testamentsvollstrecker der Wilhelminischen Ära, die wiederum ihre Vorläufer hatte. Foerster hat schon vor den beiden Weltkriegen diese Katastrophen als logische Folge unserer deutschen Überheblichkeit und Machtpolitik vorausgesagt. Wir Deutschen tragen die Hauptschuld an der Entfesselung der beiden Weltkriege und haben in der Spaltung unseres Vaterlandes die weltgeschichtlichen Folgen zu sehen. Foerster macht darauf aufmerksam, daß schon 1858 Konstantin Frantz, der große Föderalist und Vater des Europagedankens, Bismarck vorwarf: Wenn diese enge nationale Politik (gegen Polen und Österreich) von der preußischen Regierung weitergetrieben werde, dann könne "Rußland ein Weltreich anstreben, das seine natürlichen Grenzen erst in der Linie von Hamburg nach Triest findet." Frantz, Sohn eines evangelischen Pfarrers, war Botschafter Preußens in Moskau. Der Freiburger Historiker Ritter sagt: "Die Lehre der deutschen Widerstandsbewegung sehe ich darin, daß sie uns mit lauter Stimme sagt: Nationale Solidarität, bewußte Verbundenheit mit der eigenen Nation ist nicht ein Höchstwert schlechthin. Es kann Fälle geben, in denen sie durchbrochen werden muß, in denen man zum Hoch- und Landesverräter werden muß aus christlichem Gewissen heraus." Unsere Glaubenszeugen haben wieder die allem gesetzten, allem positiven Recht vorgeordnete Souveränität des Gewissens entdeckt. Das Gewissen ist seinerseits wieder auf die absolute Souveränität Gottes hingeordnet. In den langen Wochen und Monaten der Haft sahen sie sich vor die entscheidende Frage gestellt: Wem bin ich letztlich verantwortlich für mein Tun und Lassen? Graf Moltke fragt "Welches ist die Alternative zum totalen Staat? Die Demokratie? Gewiß, die brauchen wir, weil sie auf dem Respekt vor dem Gewissen des einzelnen beruht. Aber kann die Demokratie jener Höchstwert sein, an dem sich alles zu orientieren hat? Sie ist doch nicht viel mehr als eine Geschäftsordnung." Ein amerikanischer Demokrat macht darauf aufmerksam, daß Demokratie nur dort funktioniert, wo Gott den einzelnen regiert. Moltke sagt- Die einzige tragfähige Alternative zum totalen Staat heißt Jesus Christus. Aus diesem noch ungeklärten Wissen heraus entstanden nach dem Zusammenbruch die C-Parteien. Ein Großteil unseres Volkes spürte, daß ein Neubeginn auf dem Fundament unseres christlichen Glaubens notwendig sei. Was ist aus diesem Ansatz geworden? Müssen wir nicht zugeben, daß diese Orientierung uns vielfach wieder verloren ging? Haben wir nicht einen neuen Götzen auf den Thron gesetzt, nämlich den Wohlstand? Neue Störungen und Verwirrungen unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens sind eingetreten. Der Berlin-Reisende, der am Bahnhof Zoo ankommt, hört: "Hier ist die größte Umschlagstelle von Rauschgiften." Und bei der Fahrt durch die Stadt: "Hier ist ein ganzes Sex-VierteL" Und die politische Großwetterlage... ich fürchte, die Zeichen stehen auf Sturm! Ich will jedoch nicht Ängste verbreiten und Weltuntergangsstimmung erzeugen. Ich möchte für Klarheit und Nüchternheit plädieren. Wenn wir durch große Heimsuchungen hindurchgehen werden, dann wissen wir Christen, daß nach jedem Karfreitag ein Ostermorgen kommt. Ich bin der festen Oberzeugung, daß aus allen Schicksalsschlägen, welche die Folge unserer Überheblichkeit und unsres Egoismus sein werden, immer deutlicher die Realität Christus als der entscheidende Faktor auch unsres öffentlichen Lebens hervortreten wird. Zur Friedensbewegung muß jedoch auch gesagt werden, daß Friede nicht zum Höchstwert hinaufgesteigert werden darf. Es besteht in nicht wenigen christlichen Kreisen die Gefahr, daß der Friede verabsolutiert wird, daß er zu einem Götzen wird, ideologisiert wird. Nicht die Atomraketen, nicht die Hochrüstung der Supermächte, sind die eigentliche Kriegsgefahr (sie haben nur instrumentelle Bedeutung), das sagt Graf Moltke einmal ganz klar, die eigentliche Gefahr für das Leben der Völker ist die Sünde. Die Weigerung, Gott und seinem Gesalbten die Ehre zu geben und seinen Geboten zu folgen. Die Wiederaufrichtung des Königtums Christi kann nicht durch einen Staatsakt, nicht durch kirchenamtliche Resolutionen und Proklamationen geschehen, sie wächst nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Die eigentlichen Entscheidungen fallen nicht in den Parlamenten oder auf den Kriegsschauplätzen, nicht in den Studios der Massenmedien oder an den Universitäten, sondern in den Herzen der einzelnen. In diesem Zusammenhang muß ich immer wieder an den russischen Starez denken, der in der Gottesfinsternis seines Landes seine Stimme erhob: "Nun, Gott ist geduldig, er läßt die Menschen allerlei dummes Zeug reden und sich gebärden, als ob sie sich selber und diese Erde erschaffen hätten. Wenn sie all ihr schönes Spielzeug kaputtgemacht haben werden, dann wird ihr Geschrei von alleine verstummen und sie werden auf einmal ganz still sein. Gott kann schon warten, bis er einmal vernünftig mit den Menschen reden kann. Da er nun einmal beschlossen hat, daß die Menschen aus freien Stücken zu ihm kommen sollen, muß er sie solange im Finstern herumtölpeln lassen, bis sie es selber merken, daß da nicht zu sein ist.... Dieser Krieg (1914-1918) ist erst der Anfang eines großen Gerichtes, das über die Völker kommt, ganz gleich, ob sie die Besiegten sind oder sich zunächst einbilden, die Sieger zu sein. Die Not und die Verwirrung werden in immer neuer und schrecklicher Gestalt aufstehen, solange bis jeder einzelne, bis herab zum Kleinsten, vor die letzte Entscheidung gestellt sein wird." (Syberberg, Peter Anemont, S. 213). Zu meiner großen Freude habe ich gehört, daß der neue Karmel bei Regina Martyrum gute Beziehungen zur evangelischen Gemeinde dort aufgenommen hat und daß ein neues evangelisches Gemeindezentrum in unmittelbarer Nähe dieser Kirche entstanden ist. Könnte nicht der 23. Januar als ökumenischer Gedenktag der christlichen Blutzeugen in der NS-Zeit neben dem 20. Juli begangen werden? Der 20. Juli ist bei uns in seiner Bedeutung verblaßt. Er dürfte auch mehr ein politisches Datum sein und ist überdies belastet von der Problematik des Tyrannenmordes. Am 23. Januar 1945 wurden in Plötzensee vier Männer hingerichtet: der württembergische Staatspräsident Eugen Bolz, Helmut James Graf von Moltke, Theodor Haubach und Nikolaus Groß, zwei katholische und zwei evangelische Christen. Alle sind mehr oder weniger aus dem gleichen Grunde verurteilt und hingerichtet worden. Aus christlichem Gewissen hatten sie sich Gedanken gemacht, wie nach dem Ende des Krieges ehe Politik auf dem Boden des christlichen Glaubens aussehen müßte. Graf Moltke kann sogar als Märtyrer der Ökumene bezeichnet werden. Er starb, wie er in den Abschiedsbriefen an seine Frau ausdrücklich schildert, wegen seiner Freundschaft mit Katholiken. Für den 23. Januar spricht auch, daß dieser Tag in die Gebetswoche für die Einheit der Christen fällt. Wir haben einen Antrag an die beiden Kirchenleitungen und auch an den Bundespräsidenten gestellt, der in diese Richtung zielt. Doch frage ich mich: Ist der Weg richtig, von oben her einen solchen Gedenktag einzuführen? Wäre es nicht besser, ihn von unten wachsen zu lassen? Das würde bedeuten, daß die Berliner in erster Linie angesprochen sind! Im kommenden Jahr 1985 dürfen wir, so Gott will, den vierzigsten Todestag dieser Blutzeugen feiern. Die beiden Berliner Bischöfe sind eingeladen, bei einem ökumenischen Gottesdienst zusammenzuwirken. Mein zweiter Vorschlag geht auf die Bildung einer bikonfessionellen Arbeitsgemeinschaft, die sich im Anschluß an den Karmel Regina Martyrum des Vermächtnisses der Blutzeugen annimmt. Die Aufgabe dieser Arbeitsgemeinschaft wäre:
© P. Beda Müller OSB Quatember 1984, S. 155-162 |
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