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Kunst und Liturgie
von Waldemar Wucher

LeerEin innerer Zusammenhang war unverkennbar: Das Referat, das Hans-Rudolf Müller-Schwefe über „Kunst und Liturgie” in einer Tagung der Evangelischen Akademie Arnoldshain im Oktober 1984 hielt, knüpfte an Fragestellungen an, die das 4. Berneuchener Gespräch vom Mai 1984 in Kloster Kirchberg mit dem Thema „Liturgie in Bewegung” erfüllt hatten. Im Berneuchener Gespräch waren wir davon ausgegangen, daß es heute nicht eine Liturgie gibt, daß Liturgie vielmehr „in Bewegung” ist und daß dies daher kommt, daß sich die Strukturen der Zeit geändert haben. Viele junge Menschen - im dritten Berneuchener Gespräch kurz vor dem vierten hatte der Arbeitskreis für Gegenwartsfragen „das Generationenproblem am Ausgang des 20. Jahrhunderts” in den Blick genommen - suchen im Gottesdienst heute eine Gegenwelt gegen die im wissenschaftlichen Bereich neu erschlossenen abstrakten Strukturen der Welt, die großenteils das Bild der Wirklichkeit ausmachen, und die „Weltmenschen” - so hieß es damals - sind interessiert an einer Liturgie, in der sie vorkommen, in die sie sich selbst einbringen können. Nun befinden sich liturgische Formen in einer Nähe zur Kunst, und Kunst ist einer der Wege auf der Suche nach Wirklichkeit. Daher stand die Arnoldshainer Tagung unter dem Doppelaspekt „Die Suche nach Wirklichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts - oder - Kunst und Kirche”, und das Referat Müller-Schwefes war der Angelpunkt, um den sich unausgesprochen alle Referate und Gespräche der Tagung bewegten.

LeerIm Sinne der Tagungs-Konzeption behandelte Müller-Schwefe sein Thema zunächst ganz von der Sicht der Künstler her. Das Schwergewicht lag auf zeitgenössischer Literatur, in der das Problem ausdrücklich zur Sprache kommt und daher am besten zu verdeutlichen ist. Als Zeugen wurden von ihm Rainer Maria Rilke, Albert Camus, Günter Grass und Heinrich Böll aufgerufen. Ihrer aller Welterfahrung ist von christlichen Motiven vorgeprägt. So hält Böll am menschgewordenen Gott fest, ist aber allergisch gegen die Kirche als Institution. Als markantes Beispiel für das Engagement bildender Künstler der Gegenwart kann Josef Beuys gelten. Auch er bejaht den Christusimpuls, sucht aber mittels künstlerisch gemeinter Zeichenhandlungen, die bestimmte symbolische Handlungen Christi (Fußwaschung!) wiederholen, eine „menschliche Liturgie” zu finden.

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LeerWie in der liturgischen Bewegung der Gegenwart ist also in den künstlerischen Äußerungen zum christlichen Thema deutlich ein Zug zur „Immigration in die Welt” festzustellen, und es ist dort ein zentrales Anliegen, das auf Sehnsucht nach einer allgemeinverbindlichen Liturgie schließen läßt, untereinander Gemeinschaft zu stiften und in Formen, die Abendmahlscharakter haben, miteinander zu essen. Als vor einigen Jahren das EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg unter den Künstlern ein Preisausschreiben zum Thema „Abendmahl” veranstaltete, kam dies alles in den vielen eingesandten Bildern, die danach zu einer Ausstellung vereinigt und unter anderm in Kassel, Darmstadt und Graz gezeigt worden waren, überraschend deutlich zum Ausdruck.

LeerKann die Kirche, kann die Evangelische Michaelsbruderschaft daran vorbeisehen, daß Menschen unserer Zeit, Künstler, sich und ihre aus der Gestimmtheit, ja auch aus den Aporien der Gegenwart geborenen Sehnsüchte in das liturgische Geschehen einbringen möchten? Die Arnoldshainer Tagung war so als einer der notwendigen Schritte zu verstehen, die Sehnsucht und das Recht der heutigen Generation, sich des veränderten Wirklichkeitsbildes zu vergewissern und sich in ihm zurechtzufinden, im Bereich der Kunst artikulieren zu helfen, als eine der notwendigen Hilfen für den korrelativen Umgang der Kirche mit dem ihr als Verkündigungsauftrag anvertrauten Christusgeschehen. Entsprechendes gilt - das kann und muß an dieser Stelle deutlich hinzugesagt werden - auch für andere Lebensgebiete der heutigen Welt, insbesondere angesichts der Folgen der autonomen wissenschaftlich-technischen Entwicklung.

LeerUm das Suchen der Kunst des Jahrhunderts aus solchen Grundmotiven heraus vernehmbar zu machen, um vor Augen zu führen, wie der Mensch als Künstler sich selbst als einer Tür zu den tieferen Schichten der Wirklichkeit gewahr wird, war die Arnoldshainer Tagung mit einer weiträumigen Ausstellung verbunden, die sich auf dem Feld der Malerei in drei Gruppen gliederte. Drei Künstler, die aus einem Preisausschreiben des genannten Marburger Instituts anläßlich des Elisabeth-Jahres 1983 zum Thema „Elisabeth von Thüringen aus der Sicht junger Künstler” als Preisträger hervorgegangen waren, hatten Arbeiten zur Verfügung gestellt, die zeigten, wie mit andern Mitteln als in früheren Epochen heute ein solcher christentumsgeschichtlicher Vorgang vergegenwärtigt wird. Mit 16 Graphiken der sogenannten „klassischen Moderne” wurde beispielhaft dargetan, wie Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus den Erfahrungen des geistigen und gesellschaftlichen Umbruchs auf der Suche nach einem neuen Ausdruck für das Christusgeschehen waren, darunter Corinth, Barlach, Rouault, Schmidt-Rottluff, Hegenbarth, Kokoschka, Marcks und Dix. Obwohl diese Bilder Ausdruck echter Betroffenheit sind und in Offenheit und Direktheit das Christusthema aufgreifen, ist man bis heute kirchlicherseits mit seltenen Ausnahmen geschlossenen Auges an solchen künstlerisch bedeutenden, aber eben „autonomen”, aus eigenem Antrieb, auftragslos entstandenen Zeugnissen vorübergegangen. Wo sind die Altäre, von denen herab Christus in der künstlerischen Sprache unserer Tage bezeugt wird?

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LeerEine dritte Gruppe von 20 Ölbildern, Gouachen und Aquarellen vermittelte einen Eindruck von den vielgestaltigen Versuchen junger, heute lebender Künstler zur Selbstfindung und Weltfindung. Beispielhaft war es, daß sich die 70 Tagungsteilnehmer nicht nur der gedanklichen Durchdringung des Problems der Wirklichkeitssuche im künstlerischen Kontext stellten, sondern daß sie die Bilder selbst befragten und zwar vorrangig die Zeugnisse der Jungen. Diesem (geglückten) Unterfangen diente eine langwährende Phase der Tagung, wobei sich zuletzt zwei Gruppen auf je ein Bild konzentrierten, um Motiven und Gesichten der neben und mit uns lebenden Künstler auf die Spur zu kommen, ohne von menschlichen oder kirchlichen Vorurteilen auszugehen.

LeerDaß Kunst und Liturgie wie in früheren Jahrhunderten in eine neue Berührung kommen, ja sich gegenseitig aufs neue zu helfen vermöchten, das hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob es gelingt, wie einstmals beides wieder in den (Kirchen-) Raum zu integrieren. In früheren Heften von „Quatember” wurde auf frühe Einsichten und Forderungen Gerhard Langmaacks wieder aufmerksam gemacht. Im vierten Berneuchener Gespräch hat der Hamburger Praktische Theologe Peter Cornehl einen kleinen Aufsatz Karl Bernhard Ritters vom Jahre 1925 unter dem Titel „Liturgische Haltung” aus der Vergessenheit hervorgeholt, in dem Ritter unter anderem schrieb: „Mit dem Körpergefühl aufs engste verbunden ist das Raumgefühl. Das Erlebnis des Raums bedeutet die Erweiterung der Körperlichkeit zum Raum. Erst da, wo Körper und Raum sich zu einem Ganzen zusammenschließen, steht die kultische Gestalt vor uns . . .”.

LeerIm gleichen Berneuchener Gespräch hat der Wiener Theologe und Kunsthistoriker Herbert Muck Anleitung zu neuer Raumerfahrung gegeben. Für die Arnoldshainer Ausstellung ergänzte er dies durch eine Dokumentation in Fotos, und erweitert wurde dieser wichtige Hinweis auf Dimensionen des Liturgischen, die es heute wiederzugewinnen gilt, durch eine Reihe von Tafeln, in denen in Text, Bild und Zeichnung von der Umgestaltung alter Dorf-und Stadtkirchen zu modernen „Gemeindezentren” berichtet wird. Diese seit wenigen Jahren einsetzende Bewegung dient nicht nur zur Wiedergewinnung neuen Raumempfindens und einer sinngemäßen kirchlichen Raumnutzung, sondern zielt auch darauf hin, die liturgische Mitte wieder in eine unmittelbare Beziehung zu einem vielfältigen christlichen Gemeindeleben und zum Leben der heutigen „Welt” zu bringen, um dem einsamen Fragen der Künstler wie allen Menschen, die durch die Aporien der wissenschaftlich-technischen Welt bedrängt sind, zu einem offenen, allem Ghettohaften entrückten Gegenüber zu verhelfen, so daß Liturgie nicht nur verbal, sondern im leibhaften Tun mit Diakonie verschwistert wird.

Quatember 1985, S. 44-46

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-10
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