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Zum immer-neuen Jahr
von Wilhelm Stählin

LeerWilhelm Stählin Am 16. Dezember jährt sich zum 10. Mal der Todestag von Wilhelm Stählin, dem Berneuchener der ersten Stunde, Vater der Michaelsbruderschaft und des Berneuchener Dienstes, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg und Pionier der ökumenischen Bewegung. Vor fünfzig Jahren, als Walter Uhsadel die Schriftleitung innehatte, war er Herausgeber der Jahresbriefe des Berneuchener Kreises, aus denen unsere heutige Zeitschrift Quatember hervorgegangen ist. Unser Bild zeigt Wilhelm Stählin, wie seine Frau Emmy geb. Thäter ihn in seinem 40. Lebensjahr gezeichnet hat, im Jahr der ersten Berneuchener Konferenz.

LeerDer hier abgedruckte Aufsatz erschien unter der Überschrift „Und singet uns solch neues Jahr” im Weihnachtsbrief 1935. Für den damaligen Leser mußte, besonders in den beiden letzten Abschnitten, deutlich werden: Wilhelm Stählin gab hiermit auch eine Antwort auf den Kult des Neuen, der vom Nationalsozialismus propagiert wurde.


LeerMit der Zeile „Und singet uns solch neues Jahr” schließt Luther sein „Kinderlied auf die Weihnacht Christi”. In immer neuen Liedern besingt ein Kind nach dem anderen, vor die Krippe tretend, das unausschöpfliche Geheimnis der Fleischwerdung Gottes. Indem schließlich alles mündet in den anbetenden Lobgesang „Lob, Ehr sei Gott im höchsten Thron, der uns schenkt seinen ein'gen Sohn”, stimmen die jubilierenden Menschenkinder ein in das Freudenlied der himmlischen Heerscharen. Denn eben dessen, wovon unser Herz übergeht, eben
„des freuet sich der Engel Schar
und singet uns solch neues Jahr.”
LeerVon welchem neuen Jahr ist hier die Rede? Man wird dem tiefen Sinn dieser letzten Liedzeile nicht gerecht, wenn man eilfertig darauf hinweist, daß zu Luthers Zeit der Jahresbeginn mit Weihnachten zusammen gefeiert worden sei. Oder wäre etwa zu urteilen, daß für uns, die wir erst acht Tage später den Neujahrstag begehen, dieser Schluß des Luther-Liedes nicht mehr ganz passend sei? Sollten wir etwa gar versuchen, das schöne Bild von den das neue Jahr besingenden Engeln an eines unserer Neujahrslieder anzufügen? Mit diesen Gedanken hätten wir jedenfalls das eine gänzlich übersehen, wie sehr diese Schlußzeile, da ja die Engel solch neues Jahr besingen, auf Weihnachten selbst, auf die Geburt des Heilandes schaut.

LeerVielmehr fällt von dieser Liedzeile her ein sehr wesentliches Licht auf die Feier des Neujahrstags am 1. Januar. Wir haben alle, wenn wir überhaupt auf solche Dinge achten, die eigentümliche Spannung empfunden, die darin liegt, daß der Tag, an dem wir den Beginn eines neuen Kalenderjahres begehen und anfangen müssen, auf unseren Briefen eine neue Jahreszahl zu schreiben, in der Ordnung des Kirchenjahres nichts anderes ist als die Oktav von Weihnachten, das heißt, der feierliche Abschluß einer eigentlich acht Tage währenden Feier des heiligen Weihnachtsfestes. Auch die in der alten Perikopenordnung für diesen Tag vorgesehene Geschichte von der Beschneidung und Namengebung Jesu (Luk. 2, 21) hat, zunächst jedenfalls, mit der Feier eines Jahresbeginns nichts zu tun. In dieser sofort spürbaren Spannung drückt sich aber eine tiefer liegende Verschiedenheit aus, die Verschiedenheit zwischen der „bürgerlichen” Zählung der Tage und Jahre und der Ordnung des Kirchenjahres. Aber diese Verschiedenheit selbst ist ja nicht Zufall oder Willkür, sondern sie ist der notwendige und unvermeidbare Ausdruck eines tiefen Gegensatzes zwischen jedem innerweltlichen Verständnis der Zeit und der biblischen Schau der Zeit und der Geschichte. Das Wesen dieser Verschiedenheit läßt sich deutlich machen an dem verschiedenen Sinn, den das Wort „neu” in der Bezeichnung des 1. Januar als des „Neujahrs”-tages und jener letzten Zeile von Luthers Weihnachtslied hat.

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LeerDer Beginn eines neuen Jahres ist zu verschiedenen Zeiten von ganz verschiedenen Terminen aus gerechnet worden. Die verschiedenen Kulturkreise haben in ganz verschiedenen Jahreszeiten Neujahr gefeiert, teils im Herbst, wie die Juden bis heute, teils im Frühjahr; unsere lateinischen Monatsnamen September, Oktober, November und Dezember, die den 9., 10., 11. und 12. Monat unseres Jahres als den 7., 8., 9. und 10. bezeichnen, weisen ebenso wie die Verkürzung des Februar noch hin auf eine Zeit, in der das Jahr mit dem März begann. Erst seit der großen Kalenderreform des 16. Jahrhunderts hat sich der 1. Januar als Neujahrstag wenigstens in unserem Kulturkreis durchgesetzt. Diese Unsicherheit ist kein Zufall. Das Jahr schneidet aus dem Ablauf der Zeiten den Zeit-„raum” als eine Einheit heraus, in dem die Erde sich einmal um die Sonne dreht. Aber wie diese kreisförmige Bewegung selbst ohne Anfang und ohne Ende ist, so kann auch diese Zeitstrecke an sich von jedem beliebigen Tage aus gerechnet werden. Es beruht nicht auf irgendeiner in der Sache liegenden Ordnung, sondern auf einer möglichst zweckmäßigen Vereinbarung, daß man an irgendeinem Punkt ein neues Jahr beginnen läßt. Der Kalender wird „gemacht”.

LeerWelchen Sinn kann das Wort „neu” in diesem Zusammenhang haben? In dem Kreislauf der Jahre ist ein bestimmter Punkt, der durch die Sonnenbahn der Erde festgelegt ist, wieder erreicht. Der sich unermüdlich im Kreis drehende Zeiger der Weltenuhr steht wieder auf derselben Ziffer. Zugleich aber steht über diesem wie über jedem anderen Tage das unerbittliche Gesetz, daß die Zeit dahineilt wie ein Strom, nie umgekehrt, daß kein Augenblick wiederkehrt, und daß jeder Tag nur heraufsteigt, um alsbald von dem unersättlichen Rachen der Vergänglichkeit verschlungen zu werden. Wir erleben „von neuem”, daß die Tage länger werden, daß nach dem Winter der Frühling kommt, daß Saat und Ernte, Blüte und Frucht einander folgen; wir bezeichnen die vor uns liegende Wegstrecke von 365 Tagen mit einer neuen Jahreszahl, aber wir wissen, daß auch diese neue Ziffer nur für eine von vornherein begrenzte Dauer gilt. Der Schatten des Vergehens und die Trostlosigkeit des furchtbaren Rades, an das wir armen Menschen geflochten sind, liegt von vornherein über dem „neuen” Jahr, das wir mit so viel guten Wünschen und mit so viel Lärm beginnen.

LeerDennoch entziehen wir uns nicht dem eigentümlichen Zauber, der von dem Wort „neu” ausstrahlt. Es ist die Urmächtigkeit des Wechsels und Wandels, die uns hier ergreift. Als Kinder haben wir mit einer gewissen Feierlichkeit die „neuen Kleider” angezogen, die uns die Mutter hingelegt hatte; ein neues Buch, ein neuer Lehrer, ein neuer Schulkamerad, das alles war ein aufregendes, spannendes und freudiges Ereignis. Und auch als erwachsene Menschen haben wir solche Freude am Neuen keineswegs abgestreift. Es wäre verkehrt, diese ganz ursprüngliche Regung nur als lächerliche Neu-gier, als Unbeständigkeit und als sinnlose Freude an einem sinnlosen Wechsel zu verurteilen. Vielmehr ist in der kindlichen Freude der gespannten Erwartung und Hoffnung, mit der wir über die Schwelle des Neuen treten, verborgen die heimliche, vielleicht nie ganz in unser Bewußtsein gehobene Sehnsucht, loszukommen von aller Schwere, allen Verkehrtheiten und Befleckungen, mit denen das Alte behaftet war, uns selber mit Hilfe des Neuen, das von außen auf uns zukommt, zu reinigen und zu erneuern, nunmehr die Erfüllung ungesättigter Wünsche endlich erleben und also einem verborgenen Ziele uns nähern zu dürfen. Die Freude am Neuen ist eine kindliche Äußerung der tiefen Sehnsucht nach Erlösung und Vollendung, die in uns allen schlummert.

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LeerFreilich wartet hinter dem Neuen, das wir so lebhaft ergreifen, von vornherein die Enttäuschung; so gewiß hinter dem neu heraufdämmernden Morgen der Abend, hinter dem Frühling das herbstliche Vergehen wartet, so gewiß wird der hoffnungsvoll aufsteigende Zeiger sich wieder abwärts wenden, und auch das neue Jahr wird „veralten wie ein Kleid”. Der Lärm, mit dem auch unter uns zumeist die Wende der Jahre begangen wird, ist der ohnmächtige Versuch, in krampfhafter Lustigkeit die tiefe Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit zu verbergen, die über dem Beginn eines solchen neuen Jahres liegt.

LeerWir tauchen in eine völlig andere Welt, wenn wir einmal der Art nachspüren, wie in der Bibel, insonderheit im „Neuen” Testament, das Wort „neu” gebraucht wird. Natürlich gibt es zahlreiche Stellen, in denen das Wort „neu” in dem eben beschriebenen sehr relativen Sinn gemeint ist. Aber darüber erhebt sich die Rede von einem neuen Bund, den Gott mit den Menschen schließt, von Christus als dem neuen Adam, von dem Herrn, der alles neu macht, von dem neuen Menschen, den wir anziehen sollen, von einem neuen Himmel und einer neuen Erde, deren wir warten. Wir spüren, daß hier das Wort „neu” unerhörtes und unheimliches Gewicht gewinnt. Es ist nicht mehr die Stunde, die im Kreislauf der Zeiten eine andere ablöst und selbst von einer anderen abgelöst wird, sondern es ist das, was, diesem Kreislauf entnommen, sich einem endgültigen Ziele entgegenstreckt, ja selbst schon dem kommenden Reich Gottes zugehört. Das Evangelium von Christus setzt wirklich einen neuen Beginn (Mark. 1,1) und das ganze christliche Leben besteht darin, daß wir Anteil gewinnen an diesem schlechthin Neuen. Dies Neue stellt unser Leben auf eine neue Bahn; es ist eine Wandlung, die mehr ist als der bloße Wechsel; die Erneuerung auf ein wirkliches Ziel hin, Anbruch und Vorwegnahme einer völlig neuen Ordnung aller Dinge.

LeerDiese Neuordnung aller Dinge hat mit der Geburt Christi angehoben. Es ist das Mysterium des Einbruchs Gottes in diese Welt und zugleich das Mysterium der Auferstehung, die den schmerzhaften Ring von Leben und Tod sprengt. Weil dem Morgen, an dem Christus erweckt wird, nicht wieder ein Abend folgt, weil der Frühling der Auferstehung nicht wieder von Herbst und Winter überwältigt wird, darum besingen die Engel im Himmel über der Geburt des Heilands „solch neues Jahr”.

LeerAlle Mythen und Religionen, die das Neuwerden im Kreislauf des natürlichen Geschehens verherrlichen, meinen im Grunde dies: eine endgültige Erlösung, in der wirklich das Alte vergangen und alles neu geworden ist. In Christus ist erfüllt und wird fortdauernd erfüllt, was diese Religion des naturhaft Neuen meint und nie erreicht. Die Wünsche, mit denen wir am 1. Januar ein neues Jahr beginnen, sind die gänzlich säkularisierte Form dieser Erlösungssehnsucht. Wenn daraus wieder ein ernsthafter Glaube gemacht werden soll, so wäre dies der Rückfall aus der Erfüllung in die Weissagung, oder vielmehr, da es ja gerade keine Weissagung sein soll, in den Schatten und Fluch des Neuen, das, indem es geboren wird, schon dem Tode verfallen ist. Es hat seinen Sinn, daß die alte kirchliche Ordnung über den bürgerlichen Neujahrstag als etwas unheimlich Anderes den Namen Jesus schreibt, und daß der Engel Schar uns an Weihnachten - aber ist es nicht auch an Ostern und Pfingsten und an jedem Sonntag? - solch neues Jahr singt.

Quatember 1985, S. 239-242

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-10
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