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von Jürgen Boeckh |
Vom „Gott des Exodus” sprach in einer Hochschulversammlung eine christliche Theologie-Studentin. Der Jude Paulus hat den Gott des Exodus „Vater unseres Herrn Jesus Christus” genannt. Der Theologe Jürgen Moltmann hat das „Prinzip Hoffnung” des Philosophen Ernst Bloch aufgegriffen. Herausgefordert durch ihn hat er eine „Theologie der Hoffnung” entfaltet, in der die Christenheit unter dem Leitgedanken der „Exodusgemeinde” gesehen wird. Durch den Roman von Leon Uris und den danach gedrehten Film ist „Exodus” auch für Menschen ein Begriff geworden, die wenig Kontakt zu Kirche und Theologie haben. Bei dem amerikanischen Schriftsteller steht der Exodus ganz in der Kontinuität jüdischer Geschichte. Schwarze christliche Sklaven wiederum haben sich, die Bibel in der Hand, vor 100 Jahren in Nordamerika kindlich-naiv mit den Hebräern im alten Ägypten identifiziert, wenn sie sangen: „Go down, Moses, way down in Egypt's land, tell old Pharaoh: let my people go.” Und sie hatten dabei als Ziel ihre politisch-soziale Freiheit vor Augen - wie einst die Sklaven am Nil: „Und Gott wies Mose Weg und Zeit, daß er sein Volk zur Freiheit leit'.” Von dieser Identifikation einer sozialen Gruppe unserer Zeit mit Israel in der Morgendämmerung seiner Geschichte her ist es zu verstehen, daß der Exodus zum bevorzugten Paradigma einer „Theologie der Befreiung” wurde. In welchem Ausmaß Exodus-Theologie unter einem bestimmten zeitgeschichtlichen Aspekt eine beherrschende Rolle spielen kann, wird deutlich an dem „Entwurf” zu einem „Rahmenplan für Evangelischen Religionsunterricht in Berlin-West/Sekundarbereich I” (1982). Dieser - umstrittene -Plan-Entwurf, in dem „biblische Inhalte vorwiegend in sozial-ethischer Zuspitzung vorgesehen” sind, wie es in einer Dokumentation des Comenius-Institutes „Religion am Lernort Schule” (Münster 1984) heißt, gibt sicher wieder, was auch an anderen Orten gelehrt wird oder als Zielvorstellung da ist. Darum hat er nicht nur partielle Bedeutung. Die Themen des ersten Lernfeldes in diesem Rahmenplan lauten: „Kind sein - erwachsen werden / Die Eltern ehren? - Gemeinsam auf dem Wege zur Mündigkeit / Ängste - verstecken, verdrängen, verwandeln?”. - Das zweite Lernfeld hat folgende Untertitel: „Exodus: Zur Gemeinschaft befreit / Wer ist Jesus von Nazareth? / Aufbruch oder Erstarrung? - Die Kirche in der Konstantinischen Wende.” In der „Religionspädagogischen Einführung” zu diesem Abschnitt heißt es: Als Beispiel wird dann unter anderem angeführt: Befreiung von Herrschaft in der Schule („aber nicht nur dort”). Weiter heißt es dann: „Erst die solidarische Gemeinschaft der Bedrohten kann diese Herrschaft befragen und abbauen. Diese Erkenntnis muß den Jugendlichen vermittelt und in Aktionen umgesetzt werden.” Das wird nun mit der Exodus-Tradition begründet, und dann heißt es: „Israel war zur Parteilichkeit für Jahwe aufgerufen; das bedeutete Verpflichtung und Ausdauer. Dann erst führte der Weg ins verheißene Land der Freiheit.” Den Schülern soll gezeigt werden, „wie in modernen Unterdrückungssituationen die Erinnerung an die Erfahrungen mit dem zum Exodus rufenden Gott die Betroffenen befreit und zur Hoffnung anregt, wie also die alten Erzählungen bewegende Bedeutung auch in der modernen Zeit haben.” Ist diese Auslegung der Exodus-Geschichte richtig? Ist sie , jüdisch” richtig? Ist sie „christlich” richtig? Worauf berufen wir uns eigentlich, wenn wir vom Exodus, vom Gott des Exodus sprechen? Historisch gesehen liegt jenes Geschehen, von dem im 2. Buch Mose - Exodus - aufgrund und in der Sprache verschiedener Quellenschriften die Rede ist, ziemlich im Dunkeln. Martin Noth in seiner „Geschichte Israels” (1950) hat nicht bezweifelt, daß dem Urbekenntnis Israels von der „Herausführung” aus Ägypten durch Jahwe und dem Zug durch das Rote Meer ein geschichtlicher Vorgang zugrunde liegt. Andere, so der Historiker Eduard Meyer (t 1930), hatten einen „historischen Kern” der Auszugsgeschichte in Abrede gestellt. Noth dagegen spricht von einem „wirklichen Geschehen”, aber das Volk des Auszugs war noch nicht das spätere Israel, das Zwölfstämmevolk ist erst für „Palästina” bezeugt. Die „Söhne Israels” (Ex 1,1) hatten in Ägypten als „Hebräer” (ein im Buche Exodus häufig gebrauchtes Wort!) gelebt, das heißt „als Leute oder Gruppen minderen Rechts und geringen wirtschaftlichen Vermögens”, die „Dienste verschiedener Art annehmen oder leisten mußten”. In der älteren Quelle (Ex 12, 38) lesen wir: „Und es zog mit ihnen auch viel fremdes Volk.” Gerhard von Rad übersetzt: „Auch viel Mischvolk war mit ihnen heraufgezogen”, und er schreibt dazu: „Vielleicht liegt die ganz richtige Vorstellung zugrunde, daß außer Israeliten auch noch andere Elemente in Ägypten zu unfreier Arbeit herangezogen zu werden pflegten.” In seiner Mose-Erzählung „Das Gesetz” hat Thomas Mann ausgesponnen, wie es geschehen sein könnte in jener Nacht, die er eine „arge Vesper” nennt, „wo Jahwe umging, oder sein Würgeengel. . . Was er tat? Er stellte ein Sterben an, das Sterben der Erstgeborenen des ägyptischen Elements . . . Die Unterscheidung zwischen Jahwe und seinem Würgeengel will wohl vermerkt sein: sie hält fest, daß nicht Jahwe selbst es war, der umging, sondern eben sein Würgeengel, - richtiger gesagt wohl eine ganze, vorsorglich zusammengestellte Schar von solchen. Will man die vielen aber auf eine Einzelerscheinung zurückführen, so spricht vieles dafür, sich Jahwes Würgeengel als eine stracke Jünglingsfigur mit Krauskopf, vortretendem Adamsapfel und bestimmt gefalteten Brauen vorzustellen, als einen Engelstyp jenes Schlages, der jederzeit froh ist, wenn es mit nutzlosen Verhandlungen ein Ende hat und zu Taten geschritten werden kann.” Kurz gesagt: Ein Rollkommando der Hebräer (Unterführer Joschua als Würgeengel!) ist in jener Nacht unterwegs gewesen und hat dort Blut vergossen, wo an den Türen nicht das Blut der Lämmer zu sehen war. Thomas Mann beendet dieses Kapitel mit den folgenden Worten: „Meine Freunde! Beim Auszug aus Ägypten ist sowohl getötet wie auch gestohlen worden. Nach Moses festem Willen sollte es jedoch das letzte Mal gewesen sein. Wie soll sich der Mensch auch der Unreinheit entwinden, ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen, sich einmal noch gründlich dabei zu verunreinigen? Mose hatte den fleischlichen Gegenstand seiner Bildungslust, dies formlose Menschentum, seines Vaters Blut, nun im Freien, und Freiheit war ihm der Raum der Heiligung”. Könnte es nicht so gewesen sein? Eine Tat der Befreiung durch den Mann Mose (nach Thomas Mann ein halber Ägypter, der wirkliche Sohn jener ägyptischen Prinzessin - von einem hebräischen Sklaven gezeugt) und seiner Rotte, ein Geschehen wie eh und je in dieser Welt, bei dem für erfahrene Unbill Blut und Tränen nun anderer Unschuldiger fließen müssen. Der Historiker kann Gott in der Geschichte nicht finden, weder auf Golgatha noch im Lande Gosen. Im Selbstverständnis Israels und im Glauben der Kirche aber ist Jahwe, der eine Gott, in jenem Geschehen der eigentlich Handelnde gewesen. Dieser Basismythos hat seinen Niederschlag in den Psalmen gefunden, er wurde zum Unterpfand einer neuen Hoffnung auf Heimkehr im babylonisehen Exil, er wurde und wird erinnert in der Passa-Nacht, die mit dem „Fest der ungesäuerten Brote” verbunden ist. Im Jahre 1927 schrieb S. Ph. De Vries: Der „Auszug aus Ägypten war das wichtigste Ereignis der jüdischen Geschichte, und zwar bis zum heutigen Tag auch des jüdischen Lebens, insofern es sich durch Symbole, Riten und Zeremonien ausschmückt.” Diese Riten, unter denen ja nun seit der Zerstörung des Tempels die Opferung des Pessachlammes fehlt, werden von dem niederländischen Rabbiner, der im Jahre 1944 in Bergen-Belsen umkommen sollte, eingehend beschrieben - bis hin zum Seder, der Mahlzeit, bei der es vor dem vierten Becher heißt: „Nächstes Jahr in Jerusalem!” (Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden 1981) Wenn wir uns nun aber als Christen fragen, was der Exodus, im Passa erinnert, für uns bedeutet, dann müssen wir auf Jesus, den Christus Gottes, und das heißt, ins Neue Testament sehen. Für Christen in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts war das Geschehen vom Nil bis zum Jordan eine Station in der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Das wird zum Beispiel aus der Rede des Stephanus (Apg 7, 35. 36) deutlich: Gott hat „Mose als Anführer und Befreier gesandt durch die Hand des Engels, der ihm im Dornbusch erschien. Dieser Mose hat sie herausgeführt, indem er Zeichen und Wunder tat in Ägypten und im Roten Meer und in der Wüste, vierzig Jahre lang.” Im Brief an die Hebräer wird Mose als Vorbild des Glaubens angeführt (11, 24-29). Da heißt es: „Er hielt die die Schmach des Messias für einen größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens . . . Aufgrund des Glaubens verließ er Ägypten . . . Aufgrund des Glaubens vollzog er das Pascha und bestrich die Türpfosten mit Blut, damit der Vernichter ihre Erstgeborenen nicht anrührte.” In den Evangelien wird Passa, eines der drei großen Wallfahrtsfeste, zum einen formal als Termin erwähnt, zum anderen typologisch mit Tod und Auferstehung Jesu in Verbindung gebracht. Nach den Synoptikern findet das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern - zugleich das erste Mahl der Gemeinde des neuen Bundes - im Rahmen eines Passa-Mahles statt; nach Johannes stirbt Jesus am Kreuz zu eben der Stunde, da im Tempel die Passa-Lämmer geopfert werden. Durch das Zitat „Man soll an ihm kein Bein zerbrechen” (Ex 12, 46/Joh 19, 36) wird er ausdrücklich als das wahre, endgültige Passa-Lamm bezeichnet. Paulus wiederum sagt deutlich und knapp (1. Kor 5,7): „Als unser Pascha-Lamm ist Christus geopfert worden.” Und im 1. Petrusbrief, vermutlich einer Rede an Neugetaufte, heißt es (1, 18.19): „Ihr wißt, daß ihr nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber und Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel.” Bald nach, vielleicht noch vor Abfassung der jüngsten im Neuen Testament enthaltenen Schriften (nach 120) heißt es deutlich im Anklang an Paulus und Johannes in Justins Dialog mit dem Juden Tryphon (111, 3): „Das Passa war nämlich der später geopferte Christus, wie auch Jesaja sagte: Wie ein Lamm wurde er zur Schlachtbank geführt. Daß ihr am Passatage ihn ergriffen und auch an Passa ihn gekreuzigt habt, das steht geschrieben. Gleichwie aber das Blut des Passa jene in Ägypten rettete, ebenso wird auch das Blut Christi diejenigen vom Tode erlösen, welche glauben.” So sehen wir, wie die Exodus-Tradition und das jüdische Passa (das Wort kann sowohl das Lamm als auch den Tag, oder besser die Nacht, meinen) durch die Juden, die Christen wurden, und die dazukommenden Menschen „aus den Völkern” umgestaltet wurden zum christlichen Passa, das dann, nach der Lösung von der Synagoge, in der Nacht zum ersten Herrentag (Sonntag) nach dem jüdischen Passa gefeiert werden sollte. Damit die Söhne Israels befreit werden konnten, mußten die erstgeborenen Söhne der Ägypter sterben, der Sohn Israels ist als „Gottes Lamm” für die Menschen seines Volkes und für die „Ägypter”, das heißt: für alle, gestorben und der „Erstgeborene von den Toten” (Kol 1,18) geworden. Man kann natürlich diese Transzendierung durch die neue Gemeinde, diesen „Überschritt” in eine andere Dimension abweisen; dies hieße jedoch, sich auf eine andere Partei im Umfeld Jesu berufen als auf jene Juden, die Christen wurden. Obwohl wir im Neuen Testament, besonders bei Matthäus, harte Worte Jesu gegen die Pharisäer finden, stand er offenbar doch dieser Gruppe am nächsten - näher als den Sadduzäern oder Zeloten oder Essenern. Das wird auch von jüdischer Seite gesehen. So sagt Schalom ben Chorin: Wir gehen „wohl nicht fehl, wenn wir Jesus selbst zu den Pharisäern rechnen, freilich zu einer inneren Opposition innerhalb dieser größten Gruppe in dem ihm zeitgenössischen Judentum” (Bruder Jesus, München 1972, S. 22). Demgegenüber wird in dem erwähnten Lehrplan-Entwurf Jesus in die Nähe der Zeloten gerückt: „Nazareth, die Heimat Jesu und seiner Eltern, war damals ein unbedeutendes Dorf, im niedergaliläischen Bergland gelegen. Judas von Galiläa hat ungefähr zur Zeit der Geburt Jesu in dieser Provinz mit der Widerstandspartei der Zeloten mit dem Guerillakampf gegen die römischen Besatzer begonnen. Die freiheitsliebenden und rebellischen Bewohner dieses nördlichen Gebiets, in dem zweifellos auch ein großer, starker Gesetzeseifer bestand (der aber nicht eine solche rabbinische Prägung hatte wie im Süden), galten als Juden minderen Ranges.” Es wird damit der Anschein erweckt, daß Jesus selbst aus zelotischen Kreisen stammt. Gewiß standen die Zeloten den Pharisäern, die man nach unserem Sprachgebrauch als Orthodoxe oder Pietisten bezeichnen könnte, näher als den liberalen Sadduzäern. Aber sie unterschieden sich von ihnen in der Wahl der Mittel zur Aufrichtung des Gottesreiches. „Der Zelot machte den tätigen Eifer für Gottes Gesetz zum bestimmenden Zug seiner Lebenshaltung.” Schon vor dem genannten Judas von Galiläa, der anläßlich der von Kyrenios angeordneten Volkszählung zum Widerstand aufrief, hatte es Banden gegeben, deren Mitglieder als „fanatische Patrioten mit ursprünglich religiöser Motivation” aufgetreten waren. Die Pharisäer, ihre geistigen Väter, stellten sich praktisch auf die Seite der Zeloten, wenn sie ihnen zum Beispiel „das Recht des Strafvollzugs im Schnellverfahren” einräumten, „wo ein Jude in der ehelichen Verbindung mit einer Nichtjüdin angetroffen wurde” oder wo ein Nichtjude den geheiligten Tempelbezirk betrat. Ihr Ziel war: „Herstellung der Königsherrschaft Gottes durch Beseitigung der römischen Herrschaft, nicht durch hoffende Geduld, sondern durch entschlossene Tat.” Dies alles stimmt nicht, wenn Jesus - anders als es im Neuen Testament berichtet wird - in Wirklichkeit „ein nationaler Messias-König gewesen ist, der als Anführer von den Römern verurteilt wurde”, der „einen Exodus in die Wüste und seine anschließende Proklamation als König der Juden” plante. So hat es der jüdische Historiker Robert Eisler gesehen (Jesus basileus u basileusas, Heidelberg 1930). Der schon erwähnte, aus Deutschland stammende und heute in Jerusalem lebende Schalom ben Chorin hat die These Eislers wie die eines Epigonen, der vor einigen Jahren durch den „Spiegel” publik gemacht wurde, abgelehnt: „Wir wissen . . ., daß Jesus den Petrus verwarnt und ihm sagt, daß, wer das Schwert zückt, durch das Schwert umkommen wird, daß der Würger erwürgt wird und jede Gewalttat weiter Gewalttat auslöst. Wenn Jesus sich mit den zwei vorhandenen Schwertern begnügt, so ist es schwer verständlich, daß Autoren wie Robert Eisler und später Joel Carmichael ihn selbst zum zelotischen Aktivisten umdeuten wollen.” (a. a. O. S. 238, 25) Auch Jakob J. Petuchowski, Inhaber des Lehrstuhls für jüdisch-christliche Studien an einer Rabbinerausbildungsstätte in Cincinnati, sieht Jesus und seine jüdischen Anhänger keineswegs auf Seiten der Zeloten: „War Jesus der erwartete Messias oder war er es nicht? Nun gab es aber zu jener Zeit noch keine einheitliche jüdische Messiaslehre - wenn es sie überhaupt je gegeben hat. Jemanden für den Messias halten, der es nach Ansicht der Mehrheit nicht war, bedeutete im rabbinischen Judentum noch keine Todsünde oder Veranlassung zur Verketzerung, soll sich doch selbst der berühmte Rabbi Aqiba im zweiten Jahrhundert bei der Identifizierung des Messias geirrt haben! Anfeindung ernteten nur diejenigen, die aus ihrem messianischen Glauben praktische Konsequenzen zogen, die im Widerspruch zu der Politik und der Religionspraxis der Mehrheit standen. Aber eben das haben die Judenchristen getan . . . ihr Glaube an den Messias Jesus hielt sie davon ab, an den Befreiungskriegen gegen Rom teilzunehmen; denn diese Befreiungskriege standen unter einem messianischen Zeichen, und die Judenchristen konnten neben Jesus keinen anderen Messias gelten lassen. In aufgewühlten Zeiten wird aber die Verweigerung des Kriegsdienstes als Volksverrat angesehen, und dieser Anklage setzten sich dann auch die Judenchristen aus.” (Der jüdische Konvertit zum Christentum in jüdischer Sicht. In: UNA SANCTA, H. 2/1985, S. 161 f.) Das heißt also: Seitdem es eine Bibel gibt, ist eine Differenzierung der „Gültigkeit” beider Testamente ein Problem - bis heute! Was ist und wird nicht alles mit „der Bibel” begründet: Ketzerverbrennung und Todesstrafe, Kreuzzüge und nationale Befreiungskriege, die Glorifizierung des Reiches, verschiedener Reiche, die Apartheid in Südafrika und der Kampf gegen die Apartheid. Adolf von Harnack, der große liberale Theologe um die Jahrhundertwende, hat festgestellt, daß die meisten Vorwürfe gegen das Christentum aufgrund einer mißverstandenen Anwendung des Alten Testaments erhoben werden, und er kam zu der These: „Das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu conservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.” Harnack hat allerdings nicht wie Marcion den Schöpfer-Gott für böse erklärt. Er meinte, daß die Bücher des Alten Testaments „gut und nützlich zu lesen” wären; Luther hatte das im Blick auf die Apokryphen gesagt. Als verbindliche Heilige Schrift hat Harnack jedoch das Alte Testament abgelehnt. Neuerdings hat Hanna Wolf, von ganz anderen Voraussetzungen herkommend, die radikale Lösung Jesu vom Alten Testament gefordert. Der alttestamentliche Gott-Patriarch ist für sie nicht identisch mit dem Vater, von dem Jesus spricht - wobei sie anscheinend Jesus selbst mit dem Vater gleichsetzt (in der Sprache der altkirchlichen Christologie: Modalismus). Das Buch von Hanna Wolf, Neuer Wein in alten Schläuchen (2. Aufl. Stuttgart 1983), ist ein mutiges Buch: Die Autorin spricht vom Holocaust-Komplex der Christen (in Deutschland) und vom Golgatha-Komplex der Juden, und sie meint, die Christen sollten das Alte Testament den Juden zurückgeben! Daß die Fronten im Blick auf die Beurteilung dieser Dinge durchaus quer durch das heutige Juden- und Christentum gehen können, wird deutlich aus den Gedanken, die Gershom Scholem, 1897 in Berlin geboren und von 1933 bis 1965 Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, in seiner Abhandlung „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum” (Judaica, Frankfurt 1959, S. 35) schreibt: Der „messianische Aktivismus liegt übrigens in jener merkwürdigen Doppellinie der gegenseitigen Beeinflussung von Judentum und Christentum, die mit inneren Entwicklungstendenzen beider Religionen Hand in Hand geht. Der politische und chiliastische Messianismus bedeutender religiöser Bewegungen innerhalb des Christentums erscheint oft als eine Widerspiegelung eines eigentlich jüdischen Messianismus”. Zu Unrecht, so meint Gershom Scholem, versuchen christliche und jüdische Theologen - aus verschiedenen Motiven - immer wieder, die Apokalyptik von der Bibel zu trennen. Aber die Bibel zielt auf Erlösung, die „gar nicht in irgendeinem kausalen Sinn eine Folge aus der vorangegangenen Historie ist. Es ist ja gerade die Übergangslosigkeit zwischen der Historie und der Erlösung, die bei den Propheten und-Apokalyptikern stets betont wird. Die Bibel und die Apokalyptiker kennen keinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin. Die Erlösung ist kein Ergebnis innerweltlicher Entwicklungen, wie etwa in den modernen abendländischen Umdeutungen des Messianismus seit der Aufklärung, wo noch in seiner Säkularisierung im Fortschrittsglauben der Messianismus eine ungebrochene und ungeheure Macht beweist. Sie ist vielmehr ein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, ein Einbruch, in dem die Geschichte selber zugrunde geht, in diesem Untergang sich freilich wandelnd, weil von einem Licht betroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt.” (S. 24 f.) Es gibt heute zwei verschiedene Juden- und Christentümer: Das eine, in dem Fortschritt und Befreiung anstelle von Transzendenz und Erlösung treten, und ein anderes, in dem man die Erlösung von dem lebendigen Gott extra nos - jenseits unserer sichtbaren Welt - erwartet; wobei der Unterschied zwischen Christen und Juden in der unterschiedlichen Beantwortung der Frage besteht, ob diese Erlösung mit Jesus von Nazareth bereits begonnen hat oder nicht.
Quatember 1986, S. 78-89 |
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