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von Reinhard Mumm |
„Unser Auftrag” - das bezieht sich auf uns, auf die Michaelsbruderschaft und ihre Freunde, auf eine kleine Schar von fünfhundert bis tausend Menschen, wenn wir den „Berneuchener Dienst” hinzurechnen. Wir leben verstreut in der Mitte Europas, in den beiden Teilen Deutschlands, dazu in Österreich, in der Schweiz, im Elsaß, in Holland. Wir haben eine nur sehr kleine Kraft. Wie können wir von „unserem Auftrag” für Europa sprechen, für einen Erdteil mit 670 Millionen Einwohnern, für eine Sammlung von Staaten, die sehr verschieden sind, vor allem gespalten in die beiden Machtblöcke des liberal-demokratisch gestalteten Westens und der „Volksdemokratien” im Osten? Dennoch fragen wir mit Recht nach unserem Auftrag für Europa; denn Europa kann nicht nur leben vom Einsatz der Politiker und der Wirtschafts-Manager. Europa kann nur werden, wenn wir alle das Unsere für Europa tun, mithin auch die Michaelsbruderschaft. Wer oder was ist Europa? Wir kennen jene bekannte Frauengestalt im griechischen Mythenkreis, die vom Göttervater Zeus, der sich in einen Stier verwandelt hat, entführt wird. Ob wirklich diese mythische Frauengestalt, von Phönizien her nach Kreta gekommen, unserem Erdteil den Namen gab, ist nicht ganz sicher; es gibt noch eine andere Deutung. Das semitische Wort „ereb” könnte hinter Europa stecken. „Ereb” heißt „dunkel”, das heißt: Europa war und ist für den semitischen Orient das Abendland, der Okzident, der Westen. Was immer wortgeschichtlich hinter „Europa” stecken mag, wir Europäer gehören in der Tat für die Völker Asiens zum Abendland, zum Westen. Diese Blickrichtung ist bis heute wirksam. Nicht nur geschichtlich ist Europa mit Asien verbunden. Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, daß Europa geographisch eng mit Asien verbunden ist. Darum spricht man auch von Eurasien. Diese Verbindung beider Landmassen ist uralt und dauerhaft; sie bildet die Grundlage der geschichtlichen Beziehungen. Durch Jahrhunderte sprach man nicht von Europa, sondern vom „Reich”. Als Europa in das Licht der Geschichte trat, beherrschte das Imperium Romanum den Raum um das Mittelmeer. Nach den Wirren der Völkerwanderung trat das Reich Karls des Großen das Erbe an. Rund tausend Jahre bestimmte das Heilige Römische Reich die Mitte Europas, bald ohne den westlichen Teil, das spätere Frankreich, das immer wieder in Konkurrenz zu dem Reich deutscher Nation (diesen Zusatz gibt es erst seit dem 15. Jahrhundert!) treten sollte. Die Französische Revolution und Napoleon haben diesen Abschnitt der Geschichte beendet. Es folgten die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts; sie sind bis heute wirksam. Aber es ist keine Frage, daß Europa nur bestehen kann, wenn es zu einer neuen Einheit findet, schließlich auch über die Demarkationslinie der heutigen Machtblöcke hinaus, durch die West- und Osteuropa aneinandergerückt sind, so daß - politsch - heute kaum von einem Mitteleuropa gesprochen werden kann. Es führt zu weit, jetzt alle Bemühungen und Zusammenschlüsse aufzuführen, die die Einheit Europas stärken wollen, angefangen von den paneuropäischen Ideen des Grafen Coudenhove-Kalergi bis hin zu den wirtschaftlichen und politischen Vereinigungen, die Westeuropa umfassen, Teile des Nordens und zunehmend den Süden. Der neueste Versuch einer europäischen Gemeinschaft ist jüngst unter dem Namen Eureka (oder Heureka) bekannt geworden; unter diesem Namen sollen Forschung und Technik in Europa vereint werden. - Jeden Tag hören und lesen wir von den unendlichen Schwierigkeiten, von dem Widerstreit wirtschaftlicher und nationaler Interessen. Es gab begeisternde Aktionen, die Schlagbäume einzureißen, die europäische Staaten voneinander trennen. Heute sind wir so weit, daß wir weitgehend ohne Kontrolle von einem Land in das andere reisen. Umso einschneidender empfinden wir die Erfahrungen, die wir machen, wenn wir in Bereiche reisen, wo das nicht der Fall ist. In Europa werden viele Sprachen gesprochen. Die deutsche Sprache galt einmal als Mittel des Verstehens bis weit in den Osten hinein. Reste solcher Verständigung sind noch vorhanden. Ohne Frage ist aber das Englische zur ersten Weltsprache aufgerückt, gefolgt vom Französischen und Spanischen. In Ost-Europa lernen alle Kinder heute Russisch. Wir können Osteuropa nur verstehen, wenn wir die russische und polnische Geschichte und Kultur kennen, auch die Geschichte der Völker auf dem Balkan. Dazu gehören die kyrillische Schrift, die russische Sprache und die orthodoxe Gestalt des Christentums. Wie ist Europa geworden? Das Imperium Romanum war ein Herrschaftsbereich unter politischem Kalkül. Die Imperatoren waren zugleich darauf bedacht, ihre Herrschaft religiös zu begründen und zu überhöhen. Als die heidnischen Gottheiten ihre Macht über die Menschenherzen verloren, trat der Glaube an Christus an ihre Stelle. Ein hoher Glaubensmut und die Bereitschaft zum Martyrium waren in jahrhundertelangen Kämpfen vorausgegangen. Konstantin begründete die Einheit seines Reiches auf die Einheit der Kirche. Er mußte danach trachten, die Einheit der Kirche zu bewahren gegen alle Spaltungen, die immer wieder aufkamen. Mitten darin ist der Glaube an Jesus Christus weiter wirksam, nun jedoch aufgespalten in verschiedene Konfessionen und theologische Richtungen. Die Kirchen sind da; aber sie bestimmen nur noch teilweise das geistige Feld. Andere Mächte sind auf den Plan getreten. Sie stehen den Kirchen feindlich oder neutral, manche auch wohlwollend gegenüber. Die große ökumenische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts sucht die Kirchen zu einigen. Wir freuen uns, daß wir heute im Gefolge dieser Bewegung ganz anders zueinander stehen, als das früher der Fall war. Katholiken und Orthodoxe, Reformierte und Lutheraner, Anglikaner und freikirchliche Christen begegnen weitgehend aufgeschlossen einander. Nicht zu übersehen bleibt, daß die Kirchen nach wie vor getrennt bleiben, ja teilweise mit dogmatischen und rechtlichen Mitteln ihre Eigenexistenz zu festigen suchen. Im Blick auf Europa gibt es mehrere Ansätze der Kirchen oder auch einzelner Christen, die Christenheit in diesem Erdteil zusammenzuführen. Ein hohes Verdienst haben in dieser Hinsicht die alten Orden. Ich nenne nur die Benediktiner, auch die Johanniter und Malteser. Von Anbeginn haben die Orden sich nie national einengen lassen. Ihr Blick war stets auf das ganze Corpus Christianum gerichtet, und ihr Missionseifer galt allen Menschen. Sie sind an erster Stelle zu nennen als diejenigen, die das Zeichen des Kreuzes Christi aufgerichtet haben. Europa ist nicht nur ein geographischer Begriff. Europa entstand, als der Glaube an Christus die Völker durchdrang und einte. Europa kann nur bestehen, sofern dieser Glaube lebendig bleibt. Allein von der Wirtschaft, allein von der Politik her, ohne den Glauben an Jesus Christus, bleibt Europa eine leere Hülse. Kardinal Ratzinger, der die Glaubenskongregation in Rom leitet, hat zwölf Predigten gehalten und veröffentlicht unter dem Titel „Christlicher Glaube und Europa” (München 1981). Da würdigt er die Heiligen: Maria und Benedikt, Dorothea und Maximilian Kolbe, den opferbereiten polnischen Priester in Auschwitz, Johann Nepomuk von Prag und die heilige Hedwig von Schlesien, den heiligen Benno von Meißen und München, den hl. Vinzenz von Paul, einen Sozialreformer Europas, und Albertus Magnus, den Wanderer und Kirchenlehrer des Mittelalters. Auf den bayerischen Heiligen Korbinian folgt schließlich der Erzengel Michael. Von diesen Heiligen sagt Joseph Ratzinger: „Sie gehen auf den neuen Himmel und die neue Erde zu. Darum heißt, den Heiligen nachgehen nicht rückwärtsgehen in eine versunkene Geschichte hinein, sondern vorwärtsgehen auf die kommende Welt zu.” Das ist der Glaube, der die Orden beseelt hat, als sie Europa besiedelten, bebauten, die Menschen lehrten und schützten gegen zerstörerische Mächte. Das ist der Glaube, der auch heute nach vorn weist auf das Ziel, das über die irdische Geschichte hinausreicht. Dem zur Seite steht die Konferenz Europäischer Kirchen. Zu ihr gehören evangelische, anglikanische und orthodoxe Kirchen, dazu freikirchliche Gemeinschaften. Sie faßt bewußt west- und osteuropäische Kirchen zusammen. Beide Organisationen, die katholische Bischofskonferenz und die genannte Kirchenkonferenz (abgekürzt KEK), haben 1985 in Riva am Gardasee zusammen getagt und ein gutes Ergebnis herausgebracht zu der Frage: Was heißt apostolischer Glaube heute? In Brüssel hat man ein Kirchenbüro eingerichtet; es begleitet die Europäische Gemeinschaft vorwiegend unter Gesichtspunkten der ökumenischen Arbeit, die unter dem Leitwort „Kirche und Gesellschaft” bekannt ist. Als ein weiteres Beispiel für eine christliche Aktivität nenne ich die Liga Europa, eine Vereinigung überwiegend römisch-katholischer Christen, gefördert aus dem Adel und dem Klerus. So eindrucksvoll die Tagungen dieser Liga sind, bleibt doch anzumerken, daß hier vorwiegend historische, römisch-katholische Akzente gesetzt werden. Die Tatsache wird nicht genügend berücksichtigt, daß zu Europa mit uns auch die Anglikanische Kirche und das Luthertum in Skandinavien gehören. Europa kann nur recht gewürdigt und gefördert werden, wenn die Erkenntnis sich durchsetzt, die August Winnig (1878-1956), der aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene evangelische Christ, 1938 so formuliert hat: „Europas Ursprung ist das Bekenntnis zum Kreuz. Dies Bekenntnis verwandelte die Vielheit der Völker zwischen Nordmeer und Mittelmeer zur Einheit, es schuf den geistigen Raum, in dem sie alle zuhaus waren, und verband sie zu einer Gemeinschaft, die es vorher nicht gab . . . Das Kreuz steht über Europa als das Zeichen, in dem allein es leben kann. Entweicht Europa dem Kreuz, so hört es auf, Europa zu sein.” Man bedenke, das war gesagt und veröffentlicht während der Herrschaft des Nationalsozialismus! (Vgl. Glaubenszeugen der Einen Kirche, Kassel 1984, S. 109) Europa leidet an tiefen Wunden. Zu diesen Wunden gehören die ermordeten Juden und alle anderen, die unterdrückt, verfolgt, eingekerkert oder aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden. Die Überlebenden blicken nach vorn. Eine pommerische Abgeordneten-Versammlung hat 1973 beschlossen: „Wir wissen, Europas Zukunft ist auch unsere Zukunft, seine Kraft - unsere Kraft, seine Freiheit - unsere Freiheit. Wir Pommern wollen eine Zukunft Europas, die Grenzen durch Freiheit überwindet: dazu wollen wir uns untereinander, miteinander und füreinander verbinden, Pommern, Deutsche -Europäer.” Diesen Hinweis verdanke ich Philipp v. Bismarck. - Als jüngst Bundespräsident Richard v. Weizsäcker vor dem Europa-Parlament in Straßburg sprach, trat er gleicherweise für ein Europa ein, das Frieden und Freiheit verbindet. Darauf ist bereits unsere Geschichte von gut einem halben Jahrhundert gerichtet. Von Anfang an war die Michaelsbruderschaft ökumenisch orientiert und grundsätzlich international. Sie entstand in Deutschland und war überwiegend geprägt von der Wittenberger Reformation. Doch schon im Kreis der Stifter gab es einen reformierten Theologen. Als konfessionelle Größe war das Luthertum nicht bestimmend, sondern eher eine reformatorisch geläuterte Katholizität. Ökumenische Weite und katholische Fülle geraten manchmal in Widerstreit mit konfessionellen Grenzen, und das umso stärker, je mehr sich damit landsmannschaftliche Gefühle verbinden. Sowohl in Bayern, stärker noch in der Schweiz wurde die Michaelsbruderschaft gelegentlich als ein Fremdkörper empfunden. Solche Spannungen müssen wir aushalten. Sie entstehen, wenn wir uns nicht mit einer lokal oder regional geprägten Gestalt des Christentums zufriedengeben, sondern unseren Sinn richten auf die una sancta catholica et apostolica ecclesia, nun also im Raum Europa. Wir würdigen und halten fest, was aus der eigenen Tradition von übergreifendem, bleibendem Wert ist. Wir glauben, wie unsere Urkunde aus dem Jahr 1931 sagt, „daß alle Einzelkirchen Glieder sind der einen Kirche Christi und ihren Beruf im gegenseitigen Empfangen und Dienen erfüllen”. Wir möchten aufnehmen, was wir Luther verdanken, und wir haben auch von Calvin zu lernen. Die katholische Tradition ist uns wichtig, denn die Kirche wurde nicht im Jahr 1517 gegründet. Wir stehen mit Katholiken, Orthodoxen und vielen anderen auf dem Grund der Heiligen Schrift und der frühen Kirche. Wir sind überdies überzeugt, daß wir auch aus der nationalen Geschichte und Eigenart unserer Völker manches Gut mit Gewinn empfangen und eigenes Gut weitergeben sollen. Dazu erwähne ich zwei Beispiele: Aus dem Wirken von Michaelsbrüdern in der Mission entstand in Südafrika eine Lutherische Bruderschaft. Sie umfaßt bewußt Mitglieder verschiedener Rassen. Gebete und Liturgie der Michaelsbruderschaft wurden in die englische und in afrikanische Sprachen übersetzt. Unser Auftrag überschreitet die Grenze der deutschen Sprache. Er überschreitet diese Grenze auch im frankophonen Raum, da der Compagnonnage St. Michael entstand und als das Buch „Bruderschaft” von Wilhelm Stählin, das „Berneuchener Buch” und weitere Texte in die französische Sprache übertragen wurden. Das ist kein Einbahnverkehr, nehmen wir doch dankbar auf, was von der Communauté de Taizé und anderen geistlichen Gemeinschaften ausgeht. Unser Auftrag für Europa schließt ein, daß wir die Grenzen unserer Länder und Sprachen, unserer Kulturen und Konfessionen überschreiten, um zu geben und zu empfangen, um uns der Einheit in Christus bewußt zu werden, zuerst in diesem Erdteil Europa. Eine Reihe von Brüdern und Mitgliedern des Berneuchener Dienstes ist tätig in der International Ecumenical Followship (IEF). Ihr voraus ging die International League for Apostolic Faith and Order (ILAFO). Von ihr eingeladen war ich zweimal in England. Damals, in den fünfziger Jahren, ging alles recht hochkirchlich und konservativ zu. Die heutige IEF ist offener in ihrem Stil. Man besucht sich gegenseitig in Spanien und Jugoslawien, in England und den Niederlanden, feiert Gottesdienste nach der Art der verschiedenen Kirchen und Denominationen; so entsteht eine quer durch Europa gehende übernationale christliche Freundschaft. Um hier weiter zu helfen, begannen wir 1979 neu mit Begegnungstagungen, zunächst in unserem Berneuchener Haus Kloster Kirchberg in Württemberg. Bischof Helmut Class, vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland beauftragt sich der Kommunitäten anzunehmen, war erstaunt, als er nicht nur Glieder deutscher Landeskirchen in Kirchberg antraf, sondern geistliche Gruppen aus Mittel-Europa, in Gestalt von kommunitär lebenden Schwestern aus dem Elsaß, von Brüdern und Schwestern aus skandinavischen Ländern, von Mönchen und Nonnen römisch-katholischer Orden. Wir feierten Gottesdienste nach den Ordnungen verschiedener Kirchen und wagten sogar, den Zugang zum Tisch des Herrn zu öffnen. Nach drei Treffen in Kirchberg waren wir im Frühjahr 1985 auf Schloß Schwanberg in Unterfranken Gäste der Frauen-Communität Casteller Ring. Wir wollen uns 1987 bei der Christusbruderschaft in Selbitz/Oberfranken wieder treffen. Ein Leitungskreis, international und ökumenisch zusammengesetzt, steuert diese Begegnungen. Wir sind überzeugt: Dies gehört zu unserem Auftrag in Europa. Wir können kaum Einfluß nehmen auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Geschicke Europas. Wir nehmen auch nicht den Platz der Kirchenleitungen ein, die ihrer Verantwortung folgen, wohl aber sind wir berufen, nicht bei uns selbst zu verharren. Wir dürfen nicht unsere Kräfte verzehren in internen Fragen und Problemen, sondern wir haben einen Auftrag für den uns eigentümlichen Bereich der geistlichen Gemeinschaften. Sie bilden ein wichtiges Element in den Kirchen. Sie wollen ihren Kirchen Anregungen geben und ein Vorbild sein. Sie haben von ihrem Wesen her den Auftrag, über sich selbst hinauszublicken und dafür zu sorgen, daß geistliche Aufbrüche nicht versiegen, daß sie nicht in ein sektenhaftes Abseits geraten, sondern der ganzen Kirche dienen. Indem sie das tun, jeder nach seiner Eigenart und mit seinen Kräften, dienen sie auch der Völker-Familie, in deren Bereich sie beheimatet sind. Europa braucht Kräfte christlichen Glaubens und Lebens, es braucht die Kraft des Kreuzes Christi und die helfende Hand der Diakonie in seinem Namen. Wir stärken Europa, wenn wir Orden und Kommunitäten, Bruder- und Schwesternschaften sammeln zu geistlicher Gemeinschaft. Das ist unser Auftrag. Noch einen Bereich unseres Auftrags gilt es zu bedenken. Er ist anscheinend selbstverständlich. Aber manchmal muß das Nächstliegende ausdrücklich genannt werden: Jeder einzelne Bruder, jede einzelne Schwester ist mitverantwortlich für die nahe und für die weite Umwelt, die Europa heißt. Unser Leben im Glauben, unser Gebet soll auch Europa gelten, seinen Menschen in Stadt und Land, den Alten und den Jungen, den Regierungen und sonst Verantwortlichen. Das eigene Haus, die eigene Wohnung kann geöffnet sein für Europa, wenn wir Menschen aus anderen Ländern, Sprachen und Kirchen gastlich aufnehmen. Tun wir dies so, daß dabei die Weite der Welt Gottes spürbar wird? Unser Auftrag für Europa kann und soll grundsätzlich und weit ausgreifend beschrieben werden: Wir sind berufen, den Glauben an den Dreieinigen Gott zu bezeugen und zwar konkret, wo es notwendig ist, dies zu tun. Ich wähle Beispiele: Wir haben den Auftrag, Gott als den Schöpfer und Herrn dieser Welt zu bezeugen, das heißt, wir sind berufen, als Christen in der Welt zu wirken, die glauben, daß „Gott im Regimente” sitzt, wie Paul Gerhardt das gesungen hat. Es ist unsere Aufgabe, nicht die Angst in der Welt zu vermehren, sondern aus dem Vertrauen zu Gott, dem Erhalter und Regenten zu leben. Wir sind berufen, diese Welt zu lieben, unser Land, unsere Heimat zu achten. Bei aller Bereitschaft, sich für alle Völker und Erdteile zu öffnen, ist der Welt und Europa nicht gedient mit einem allgemeinen Kosmopolitismus und Internationalismus, sondern es gilt zu bedenken, was Vater Bodelschwingh einmal im Blick auf seine heimatlosen Brüder von der Landstraße gesagt hat: „Wer die ewige Heimat liebgewinnen will, der braucht eine irdische Heimat.” Wir sind berufen, ein geläutertes Verhältnis zu unserem Vaterland zu finden, das die Weite Europas und die Geborgenheit im Eigenen miteinander verbindet. Unser Auftrag für Europa kann bedeuten, daß wir eintreten für den Schutz der Natur, des Bodens, des Wassers, des Waldes gegen Interessen, die ausschließlich der Industrie, der Wirtschaft oder dem Handel dienen. Unser Auftrag für und in Europa gilt dem Schutz des menschlichen Lebens. Daß menschliches Leben massenhaft im Mutterleib getötet wird, ist ein Verbrechen, das gen Himmel schreit. Wir haben uns als Bruderschaft zu prüfen, ob wir nicht mehr Sinn für ethische Notwendigkeiten entwickeln müssen. Es entspricht nicht dem Geist, der in der Bibel zu uns spricht, wenn wir Zeit und Kraft für Einzelheiten liturgischer Ordnungen verwenden, uns gar um solche streiten, dann aber schweigen, wenn es um Lebensfragen geht. Es gehört zu unserem Auftrag, glaubhaft für die Ehe, die Familie und für ein Leben nach Gottes Geboten einzutreten, wie es unsere Väter taten. „Urordnung des Lebens” heißt eines der letzten Bücher von Wilhelm Stählin. Unser Auftrag für Europa will die Einheit der Kirche bezeugen im Geist, der uns in alle Wahrheit leitet. In Europa liegt Rom, der Sitz der römisch-katholischen Weltkirche. In Europa befinden sich die Zentren der Reformation: Wittenberg und Genf. Wir nennen auch Canterbury. In Europa vollzog sich die Spaltung der Christenheit. So sind wir mit berufen, dazu beizutragen, daß das Ringen um die Einheit der Kirche in der Wahrheit vorangeht. Manchmal scheint es, als sei in dieser Richtung mehr möglich in der Ferne, in Nord-Amerika oder in anderen Teilen der Welt. Als Europäer haben wir den geschichtlichen Auftrag, mitzuwirken in der Theologie, im Gebet, in der Kraft der Liebe, die das Ganze der Christenheit umfaßt und voranführt. Dies sind nur einige Beispiele. Sie möchten die Richtung anzeigen, in die wir gehen sollen. Wir haben gefragt nach unserem Auftrag für Europa. Unser schicksalreicher Erdteil steht uns vor Augen. Kein Volk und keine Kirche, kein Österreicher, kein Schweizer, kein Niederländer und kein Ungar, kein Franzose und kein Deutscher, kann abgeschlossen nur für sich, nur für seine Heimat, sein Land und seine Kirche und Gemeinde leben. Zwar wurzeln wir im Eigenen und verleugnen das nicht; aber unser Blick soll das Ganze umfassen. Dieses Ganze hat eine besondere Gestalt in Europa. Europa kann sehr wichtig werden für die gesamte Menschheit, wenn es sich eint und erstarkt zwischen den großen Gegensätzen in der Welt. Was das politisch bedeutet, wäre eigens zu bedenken. Zunächst ist wichtig, daß Europa geistige und geistliche Kräfte braucht, um seine Aufgaben zu erfüllen. Wir, eine ökumenisch ausgerichtete christliche Bruderschaft, sind berufen, uns selbst zu bewahren vor einer Enge, die nur den Radius des eigenen Kirchturms erfaßt. Wir sind berufen, uns zu bewahren vor einer Resignation, die verzagt macht. Was Gott mit uns vorhat, wissen wir nicht. Ob und wie es um unsere Schar im nächsten Jahrhundert und Jahrtausend stehen wird, ist uns verborgen. Gewiß aber ist der Auftrag, der vor uns steht: Wir sind berufen, für die Kirche Christi und ihren Dienst unser Leben einzusetzen. Dieser Dienst geschieht in Deutschland und in Frankreich; er geschieht in Europa. Wir sind berufen, alles zu „tun in Gebet, Wort und Tat, um den Frieden zwischen Ständen und Völkern zu fördern, Haß und Ungerechtigkeit in der Kraft der Liebe Christi zu überwinden”, wie dies in unserer Urkunde festgelegt ist. Dieser Auftrag ist nach 55 Jahren nicht veraltet. Im Gegenteil, er ist dringlicher geworden. Fragen wir nicht nach unserer Kraft, sondern nach dem Ziel, das vor uns steht, und blicken wir auf den Herrn, dem diese Welt mit Europa gehört und dem wir gehören! Quatember 1986, S. 90-99 |
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