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Gesundsein und Singen - singen und gesund sein
von Raimund Schulz

LeerVon der Sprachlosigkeit des heutigen Menschen ist oft die Rede, wenig jedoch von seiner Stimmlosigkeit, obwohl diese im Bereich der westlichen Industriekultur, zu der das ganze deutsche Sprachgebiet gehört, noch erschreckender ist. Die Unfähigkeit zu singen hat in Deutschland sicher noch besondere Gründe, die nur aus seiner jüngsten Geschichte zu erklären sind. Der vorliegende Aufsatz ist - in anderer Weise gekürzt - zuerst in der „Mecklenburgischen Zeitung” erschienen. Für uns ist er - mittelbar - ein Beitrag zu den Fragen um das alte und das neue Liedgut in der Kirche. So sieht es auch der Verfasser, Musiktherapeut in Graal-Müritz, obwohl er auf das in Vorbereitung befindliche evangelische Gesangbuch nicht Bezug nimmt. Aber er schreibt uns: „ Wir haben das, was unser heutiges EKG bietet, noch bei weitem nicht erschöpft. Ein ‚neues Gesangbuch’ wird mit all seinen ‚Verbesserungen’ und zeitgemäßem Liedgut die Singbereitschaft nicht fördern - Gesangbücher haben das noch nie vermocht. Sieht der Mensch aber seine Stimme auf der Ebene von Gabe, Aufgabe, Wiedergabe, Antwort geben, Preis-Gabe, Loben, Preisen - geht diese Rede auswendig - d. h. von innen nach außen wendend - und somit ohne Gesangbuch, viel besser.”

Leer„Sprich, und du bist mein Mitmensch, singe, und wir sind Brüder und Schwestern!” - Dieser Satz von Theodor Gottlieb von Hippel (1775-1843) sagt nicht nur etwas aus über den Unterschied zwischen Singen und Sprechen, er bewertet grundlegend die soziale Bedeutung beider Ausdrucksformen der menschlichen Stimme.

LeerMan muß nicht Psychologe, Musikpädagoge, Berufssänger oder Stimmbildner sein, um zu erkennen, daß die menschliche Stimme der wesentlichste Teil dessen ist, was den Menschen als psycho-physische - ich sage lieber - leibseelische Einheit ausmacht.

LeerDurch seine Stimme bestätigt er sich selbst, wird er Mensch. Nicht mehr sprechen, nicht mehr miteinander reden ist demnach unmenschlich, das heißt nicht menschlich. Sprechend erlebt und verarbeitet der Mensch seine Umwelt, sagt er über sich, über andere und über Dinge etwas aus. Er stellt sich durch seinen stimmlichen Ausdruck dar, gibt Antwort auf Erlebnisse durch Sprache und Gesang über freudige und traurige Eindrücke, bestätigt sich damit in seiner Existenz, in seinem Dasein und schafft sich so eine eigene Kultur. Ein kultiviertes Dasein besteht aber nicht im Selbstzweck, es muß vielmehr weiterentwickelt, weitergelebt, weitergegeben werden. Somit ist die menschliche Stimme, sind Sprache und Gesang nicht nur Gabe, sondern gleichzeitig auch Aufgabe für den Menschen. Eigentlich nicht nur Aufgabe, vielmehr auch Pflicht zur Hingabe, im Sinne von Preisgabe - preisgeben, Wiedergabe - wiedergeben, was ich als Gabe empfangen habe, Antwort geben, verantworten, Verantwortung üben. Antwort geben, ein Wort preisgeben - kann hier auch als Preisung geben verstanden werden.
Lob

Ich habe ein Geheimnis entdeckt:
Wir loben einander zu selten.
Kinder wachsen nicht ohne Lob.
Wir lassen einander nur gelten
Mit jener schweigenden Toleranz,
Die die Fremdheit zwischen uns steigert.
Und jeder wartet auf das Wort,
Das einer dem andern verweigert.

Eva Strittmatter
LeerDas Lob ist selten geworden, so stellt es Eva Strittmatter in ihrem kleinen Gedicht fest - dafür haben allerorten die Auseinandersetzungen zugenommen, eine logische Folge des Lobmangels.

LeerWie wäre es, wenn wir diesem Mangel einmal mit gesungenem Lob begegneten? Vielleicht mit dem Lob der Musik: viva la musica! Das gesungene Lob fällt manchem von uns sicher leichter, außerdem sorgt der Gesang dafür, daß die Auseinandersetzung beendet wird - beim Singen muß man sich zusammensetzen. Die Übereinstimmung ist gefragt - anstimmen, einstimmen, übereinstimmen, das sind unerläßliche Voraussetzungen für Singende. Singen läßt sich nicht allein definieren als stimmlicher, musikalischer Ausdruck, als künstlerische Betätigung, als ästhetischer Genuß oder gar als bloßer atemphysiologischer Vorgang.

LeerSingen heißt: ein Wort mit einem Ton zu be-stimmen, dem Wort eine andere, auf einer höheren Ebene liegende Bestimmung zu geben; Singen ist demnach Verwandlung, schafft Verwandlung und bietet damit dem Menschen eine unersetzbare, notwendige (im Sinne von Not-wendend) Lebensgrundlage. Cantare necesse est!

LeerSingen ist ein Ausdruck des Seins, ein Ausdruck des Daseins, eine Form der Bestimmung des Menschen.

LeerDie Nachtigall wäre nicht das, was sie ist, nämlich ein Singvogel - würde sie nicht singen; sie ist aber zum Singen bestimmt, das heißt, mit einer Stimme begabt. Sie singt, weil sie nicht anders kann. Der Mensch mit seiner Stimme als Gabe, die er sprechend  u n d  singend einsetzen kann, verliert einen wesentlichen Ausdruck seines Seins, seines Daseins, seiner Bestimmung (von Stimme), wenn er nicht singt. Er kann hier und da nicht nur das entsprechende Wort schuldig bleiben - er kann ebenso den guten Ton, seine Stimmung, seine Übereinstimmung (Harmonie) verlieren und damit sich und anderen ebenso etwas schuldig bleiben.

LeerWer Singen nicht als Antwort auf eine Lebenssituation versteht und praktiziert, entbehrt eine wesentliche urmenschliche Daseinsweise, er setzt sich über die natürlichste Seite seiner Bestimmung hinweg. Wer nicht singt, lobt nicht, rühmt nicht, jubelt nicht, jammert, klagt und trauert nicht in der ihm möglichen Weise. Sein Ausdrucksvermögen entsprechenden Lebenssituationen gegenüber ist eingeengt und verkümmert. Die Eintönigkeit als eine Form des Daseins vieler Menschen ist eine unübersehbare Bestätigung dieser Erkenntnis. Ein solches Verhalten führt unweigerlich zu einer Verarmung des Ausdrucks; die leibseelische Einheit als ein Reichtum, als eine Gabe - es ist die köstlichste, kostbarste Gabe des Menschen - verkümmert mehr und mehr. Diese Eintönigkeit entwickelt sich zu einer armseligen Daseinsweise - armselig regelrecht als arm an Seele und Gemüt. Durch die Beeinträchtigung der leibseelischen Einheit ist das Heil-Sein bedroht, die Gesundheit gefährdet und der Zusammenhang von Gesundsein und Singen - singen und gesund sein offenkundig.

LeerSingen ist mehr denn je ein Gebot unserer Zeit. Diese Aufgabe, dieser Auftrag an den Menschen kann nicht allein im Sinne der Volksbildung, etwa in der Einführung des Singens als Pflichtfach in der Schule und einer gewissen Verpflichtung gegenüber dem enormen Liedschatz unseres Volkes und der gesamten Kultur verstanden werden. Obgleich die Lehrpläne diesbezüglich eine Bereicherung durchaus verkraften könnten.

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LeerSchließlich ist die Bedeutung des Sportes für die Entwicklung des Menschen erkannt und anerkannt. Die Stimme jedoch wird weitgehend mit sträflicher Nachlässigkeit behandelt, obwohl sie täglich gebraucht, meistens äußerst strapaziert und oft vorzeitig verdorben wird. Dabei ist sie das wichtigste Organ in der Kontaktnahme zum Mitmenschen und erfüllt eine tragende Rolle im Ausdruck der eigenen Erlebnisverarbeitung.

LeerHier handelt es sich regelrecht um eine Tragik in der kulturellen Entwicklung des Menschen: zuerst schafft sich der Mensch mittels seiner Gabe - Stimme, Sprache, Gesang -, mittels seiner Begabung als sprechendes Wesen eine Kultur, danach rückt er immer mehr von diesen Werten ab, indem er diese Gabe nicht als Aufgabe, Hingabe, Preisgabe (im Sinne von Preisung geben) nutzt. So verkommt seine Kultur, damit sein Menschsein, und so verkommt auch seine Gabe, sich mitzuteilen - mit dem anderen zu sprechen, zu singen, mit der Umwelt Kontakt zu halten. Die Kontaktfähigkeit, Kontaktbedürftigkeit verkümmert. Aus der Gabe, der Aufgabe wird in Verkehrung des Begriffes ein Aufgeben, das heißt Fahren-Lassen; aus Hingabe wird hingeben im Sinne von loswerden; aus Preisgabe (Preisung) wird preisgeben im Sinne von verzichten, entsagen. Am Schluß solcher Entwicklung steht die Armut, die Leere - aus der segensreichen, den Menschen als kulturbegabtes Wesen kennzeichnenden (signo = zeichnen, prägen) Gabe wird am Ende die Resignation (resigno = entsiegeln, vernichten), der Verzicht, die Ent-sagung. Es ist demnach nicht verwunderlich, daß dort, wo Resignation aufkommt und zunimmt, das Singen und Sagen verstummt.

LeerDie Kommunikationsstörungen in vielen Häusern und Familien sind offenkundig; der Bedarf an kommunikativen Therapie formen und nach entsprechenden therapeutischen Behandlungen wächst zusehends. Die moralischen und psychischen Nöte vieler Zeitgenossen finden nicht von ungefähr in Formulierungen, wie beispielsweise im Buchtitel von Heinrich Böll „Und sagte kein einziges Wort”, ihren bezeichnenden Ausdruck. Wo nicht mehr miteinander gesprochen wird, wird längst nicht mehr gesungen - wo aber gesungen wird, gibt es keine Verständigungsschwierigkeiten.

LeerNoch nie zuvor ist soviel Musik und Gesang unter die Leute gebracht worden, als heutzutage. Durch Rundfunk, Fernsehen und Schallplatten wird geradezu ein Überangebot an Musik- und Gesangstiteln bereitgestellt, wodurch eine ganze Konsumentengeneration entstanden ist. Dabei ist der Anteil der deutschen Volkslieder in Rundfunkprogrammen deutschsprachiger Sender sehr gering. Es ist kaum vorstellbar, daß im lateinamerikanischen Raum (um nur einen Bereich herauszugreifen) deutsche Volkslieder den Hauptanteil der Musiksendungen bilden. Hingegen hört man in unseren Breiten fast ausschließlich - mit wenigen Ausnahmen - ausländische Folklore, fremsprachige Texte und exotische Formen und Rhythmen.

LeerAber offenbar ist dies ein seit Generationen bestehender Hang und Zug des Deutschen, sonst hätte Gotthold Ephraim Lessing nicht Veranlassung gehabt, folgende Tierfabel seiner Nation ins Stammbuch zu schreiben:
„Nenne mir ein so geschicktes Tier, dem ich nicht nachahmen könnte!”so prahlte der Affe gegen den Fuchs.
Der Fuchs aber erwiderte: „Und du, nenne mir ein so geringschätziges Tier, dem es einfallen könnte, dir nachzuahmen. ”
Schriftsteller meiner Nation! - Muß ich mich noch deutlicher erklären?
LeerEs stünde uns schon gut an, dem deutschen Volkslied auch in unseren elektronischen Medien mehr Geltung zu verschaffen. Doch allein mit der großen Anzahl der Unterhaltungskonsumenten, mit den unzähligen Musikliebhabern und Freunden des Gesanges wäre unserem Thema entsprechend noch gar nichts gewonnen. Wir brauchen, um gesund und heil zu werden und zu sein, nicht die Musikliebhaber, sondern Musizierende - nicht Freunde des Gesanges, sondern singende Menschen. Wir haben große Spitzenleistungen im Sport und im Gesang zu verzeichnen. Im Bereich des Sports strahlt durchaus eine unübersehbare Wirkung auf die Gesamtgesellschaft im Hinblick der praktischen Anwendung der einzelnen Disziplinen aus. Auf dem Gebiet des Gesanges ist eine ebenbürtige Ausstrahlung noch nicht zu erkennen. Uns Deutschen geht sogar bis ins Ausland die bezeichnende Glossierung nach, wir seien das Volk der ersten Strophe.

LeerUnd in der Tat, wenn überhaupt noch gesungen wird - hier oder da - bleiben die Akteure nach der ersten Strophe oft mit einiger Verlegenheit stecken. Bei einer Begegnung im Rahmen des Ferienaustausches im Nachbarland Polen wurde bei einem Lagerfeuer gemeinsam gesungen. Die deutsche Urlaubergruppe war nach mehreren kläglichen Versuchen, sich über Lieder und Textfassungen einig zu werden, bald verstummt, als schließlich die polnischen Freunde, nach mehrmaligen begeisternden Anfeuerungsrufen zur Tagesordnung und zum pausenlosen Singen ihrer Lieder übergegangen waren. Mich überfiel damals nicht nur das deutliche Gefühl von Peinlichkeit (ich wollte schließlich nicht ein deutsches Solo anstimmen), ich schlug mich auf die Seite meiner polnischen Freunde und sang fortan deren Lieder mit, die ich noch aus meiner Schulzeit und in voller Kenntnis der polnischen Sprache kannte - ich hatte aber auch ein ausgesprochenes Gefühl der Trauer angesichts dieser kulturellen Verarmung. Wie armselig war dieses Zeugnis einer einfachen Urlaubergruppe aus dem Volke, gegenüber den sonst so hohen Leistungen unserer Berufssänger im Ausland.

LeerEs ist etwas krank an unserem Verhältnis zur eigenen Vergangenheit in puncto Volkslied und Volksgesang. Darum gilt es mehr denn je, diesen Zustand zu verändern, uns auf unsere eigene Identität zu besinnen und das Singen wieder zur alltäglichen Sache unseres Daseins zu machen. Es ist sicher hoch anzuerkennen und darf hier nicht verschwiegen werden, wieviele unzählige Sänger in den verschiedensten Chor- und Singgemeinschaften regelmäßig zusammenkommen und die Fahne des Gesanges sozusagen hochhalten. Gäbe es diese Vereinigungen nicht, es wäre mit vielen Menschen in Sachen gesunder Lebensweise weitaus schlechter bestellt.

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LeerBei den hier angestellten Überlegungen geht es jedoch weniger um das organisierte Singen in Chorgemeinschaften, sondern um das aus einer entsprechenden Gemütsverfassung hervorbrechende Bedürfnis zum Singen des einzelnen, zum Beispiel der Mutter und des Vaters mit ihrem Säugling auf dem Arm, mit dem Kleinkind beim Spielen, beim zu-Bett-bringen, spontanes Singen bei Ehrungen und Gratulationen, Begrüßung und Verabschiedung, Ständchen bringen, Singen angesichts gemütsbewegender Natureindrücke: Wald, Berge, See, Sonne, Mond, Sterne, Bäche, Quelle . . .

LeerSingen ist ein angemessener Ausdruck auf solche Eindrücke. Wenn Eindruck und Ausdruck beim Menschen wieder ins Gleichgewicht kämen, gäbe es wesentlich weniger, wenn überhaupt noch Probleme im Erleben und Verhalten und damit kaum noch Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung. Hier wird Bezug genommen auf die mangelhafte Erlebnisverarbeitung vieler Menschen unserer Tage. Übermäßiger Fernsehkonsum, die sichtliche Prägung durch oberflächliche Schlagertexte und der zunehmende technisch bedingte Wohlstand lassen eine angemessene Erlebnisverarbeitung in manchen Bereichen kaum noch aufkommen.

LeerWer hat heute noch Veranlassung zu singen: „Nach grüner Farb mein Herz verlangt” - als Ausdruck einer Frühlingssehnsucht, wo doch der Farbfernseher die buntesten Bilder aus aller Welt mitten im Winter ins Wohnzimmer bringt. Ebenso war ehedem die Klage: „Ach, bittrer Winter, wie bist du kalt” dem Menschen ein innigstes Ausdrucksbedürfnis in den damaligen ungeheizten Stuben und Kammern. Mit den Annehmlichkeiten, die eine moderne Fernheizung bietet, sind solche Empfindungen weitgehend geschwunden. Mit der Bereicherung auf technischer Grundlage ist eine Verarmung der Empfindungen gegenüber wesentlichen Natur- und Lebenseindrücken eingetreten. Besonders deutlich wird dieser Umstand auch im Naturerlebnis beim Vergleich zwischen Autofahrern und Wanderern. Welch ein Überschwang von lebendigen Gefühlen spricht aus den Liebesliedern der Volkslieddichtung; welch innige Anteilnahme in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird hierbei deutlich - ganz im Gegensatz zu den oberflächlichen, billigen und wenig hilfreichen, weil überwiegend banal und oft auch destruktiv angelegten Schlagertexten.

LeerWenn einer singt: „Mein Mädel hat einen Rosenmund, und wer ihn küßt, der wird gesund”, der kann gewiß nicht krank sein, mindestens in seiner Seele nicht; schon daß er dieses Loblied auf seine Liebste anstimmt, läßt ihn gesund sein, läßt ihn ein inneres Bedürfnis und eine innige Empfindung zum Ausdruck bringen - nicht auszudenken sein Gesundheitszustand - wenn er diesen Rosenmund noch in Anspruch nehmen darf.

LeerWenn einer singt „Es steht ein Lind im tiefen Tal, ach Gott, was tut sie da? Sie will mir helfen trauern; es sitzt ein Vöglein auf dem Zaun . . ., es will mir helfen klagendes quillt ein Brünnlein auf dem Plan . . ., es will mir helfen weinen, daß ich mein Lieb verloren hab”. - und ob ihm geholfen wird, diesem Sänger. Mitleid, mitleiden vermittelt sich dem Menschen nicht nur durch seinen Mitmenschen - auch Tiere leiden mit, auch die Natur leidet mit, man muß sie nur angemessen ansprechen. Und geteiltes, mitgeteiltes Leid ist halbes Leid die Verwandlung ist bereits im Gange, die Heilung wird nicht lange auf sich warten lassen. Hier erweist sich Singen - in Form von Leid und Trauer zum Ausdruck bringend - als Lebenshilfe. Alle Lebenshilfe ist auch gleichzeitig Hilfe zur Gesundheit!
Gesang

Wenn einer singt,
Soll er nicht nur mit seiner Seele singen.
(Daß er mit Stimme singt, versteht sich von allein.)
All seine Körperzellen müssen klingen.
Verschleudern muß er sich. Es muß so sein,
Als hätte er für dieses Lied gelebt.
Für diesen Augenblick, in dem er singt.
Er muß er sein, der sich vom Boden hebt
Aus eigner Kraft. Was nie gelingt
In Wirklichkeit, muß ihm gelingen
(Wie man das macht, verrät kein Kunstgebot.)
Wenn einer singt, so muß er singen:
Gegen die Schwerkraft und gegen den Tod.


Eva Strittmatter
LeerWenn einer singt, gegen den Tod, gegen die Krankheit, gegen die Schwerkraft oder nur gegen die eigene Trägheit, wie sollte er besser singen, als mit einem Liedtext von Jens Rohwer: „Wer nur den lieben langen Tag ohne Plag, ohne Arbeit vertändelt, wer das mag, der gehört nicht zu uns. Wir stehn des Morgens zeitig auf, hurtig mit der Sonne Lauf sind wir, wenn der Abend naht, nach getaner Tat eine muntere, fürwahr, eine fröhliche Schar.” Weil viele unserer Menschen nichts oder nicht genug gegen ihre Trägheit tun - vom vielen Sitzen vor dem Fernseher wird man träge - sehen die meisten auch so müde und alt aus.

LeerIst es nicht erstaunlich, daß in früheren Zeiten gerade bei schwerer und schwerster körperlicher Arbeit am meisten gesungen wurde, im Bergbau, in der Schiffahrt, bei Bauern und Hirten, bei den Wolgaschleppern und den Negersklaven am Mississippi. Auch hier erweisen sich Lied und Gesang als Gegenmittel zur körperlichen und seelischen Last, als Möglichkeit zum Wenden, Umwandeln und Überwinden schwieriger Lebenssituationen. Darum noch einmal: Singen ist Verwandlung - verwandeln heißt: etwas oder jemand eine neue, andere (veränderte) Bestimmung geben - sein Sein verändern, verwandeln. Somit rückt Verwandlung und damit Singen in die Nähe des Wunders, des Zauberhaften. Zu allen Zeiten wurden zauberhafte und wundersame Erscheinungen in Verbindung mit Musik und speziell mit dem Singen erlebt und bezeugt. In Bezeichnungen wie: die wundervolle bezaubernde Stimme, der fesselnde Ton, die Zuhörer lauschten wie gebannt -kommt die Verwandlungskraft des Singens zum Ausdruck.

LeerDoch auch beim einfachen Singen ist Verwandlung immer im Spiel; Patienten in den Gruppen der Musiktherapie berichten sehr häufig, sie hätten seit ihrer Schulzeit nicht mehr gesungen. Zu Beginn der musiktherapeutischen Behandlung sind sie oft genug ablehnend, skeptisch, verspannt und „zugeknöpft”. Schon nach wenigen Liedstrophen sind gerade die anfangs offensichtlich auf Abwehr eingestellten Gruppenteilnehmer wie umgewandelt. Nicht selten sind ausgerechnet diese Patienten am dankbarsten und überzeugtesten gegenüber dieser Therapie. Überzeugung ist auch eine Art Verwandlung.

LeerSingen und Verwandlung - das läßt noch weitere Gedanken aufkommen -Wandel, Wende, Winde, Wunde, Wunder oder verwandeln, verwenden, verwinden, verwunden, verwundern - alles gehört zu einem Stamm. Die offene Wunde ist ein von innen nach außen gewendetes Gewebe. Durch Zu-wendung (Zuwandlung), durch das Schließen der Wunde wird die Gewebestelle heil. (Die menschliche  Z u w e n d u n g  bei der medizinischen Wundbehandlung ist bei aller  A n w e n d u n g  von Medikamenten und Verbandstechniken eine unübersehbare Voraussetzung.) Sogar seelische Wunden werden allein schon durch bloße menschliche liebevolle Zuwendung „geschlossen” und damit heil; das ist oft wie ein Wunder! Beim Pusten auf das verletzte Knie des Kindes geschieht Zuwendung - darum ist auch der Schmerz bald „wie weggeblasen”.

LeerWunde - Wende - Wandlung - Wunder sind die offenkundigen Stationen auf dem Wege vom Kranksein zum Gesundwerden, es ist der eigentliche Genesungsverlauf oder Heilungsprozeß (Genese = Entstehung, Bildung, hängt mit Wandlung zusammen). Auf dieser Ebene verwirklicht sich wahre Musik-und Singtherapie.
Verwunde(r)t

Verwundet
sich windend,
dem Wandel zuwendend,
im Selbstüberwinden
Verwandlung gefunden.
Gewunden im Wandel -
Zuwandlung der Wunden.
Verwundung
verwunden -
o Wunder!

rs
LeerWer in dieser Einordnung der Begriffe zu denken sich anschickt, wird in voller Nüchternheit Wunde und Wunder, heilen durch wandeln des Wunden, wenden des Bösen zum Guten (durch Verwandlung, wie in den Märchen und Mythen) einem Geheimnis der Natur und des Menschen auf die Spur kommen. Oder ist es nicht regelrecht mysteriös (geheimnisvoll), daß durch die bloße Vorstellung von angenehmen Empfindungen unangenehme, störende und belastende Empfindungen verschwinden? Natürlich läßt sich dieser Vorgang psychologisch und medizinisch erklären. Aber er kommt im Zusammenhang mit Umwandlung, Verwandlung, in wundervoller Weise zustande. Die Übungsformeln und Vorsatzbildungen und deren Ergebnisse in der Praxis des Autogenen Trainings sind der beste Beweis für diesen Wirkungszusammenhang.

LeerCantare necesse est - Singen ist notwendig / Notwendend! Was machen wir aber mit dem Heer der Nichtsänger in unserem Lande, mit denen, die behaupten, sie könnten nicht singen?

LeerZunächst sei all denen, die sich dazu zählen, gesagt: ich habe noch keinen Menschen erlebt, der nicht singen konnte -jeder Mensch kann singen. Zugegeben, mir sind viele Menschen begegnet, die erbärmlich falsch gesungen, oft nur gebrummt haben. Hier gibt es jedoch eine wirksame Abhilfe . . . nämlich - üben! Jeder Mensch, der sprechen kann, kann auch singen - mindestens kann er es erlernen. Natürlich nicht so gut, wie ein Opernstar - aber für seine alltäglichen Belange braucht er auch keine ausgebildete Stimme und keine außerordentliche musikalische Begabung. Die vorhandene Stimme ist schon Begabung - Gabe an sich.

LeerEs geht nicht um das Singenkönnen, sondern ums Wollen. Ihr lieben sogenannten Nichtsänger! Laßt euch dies von Matthias Claudius einmal so sagen: „Wir Vögel singen nicht egal! Der singet laut, der andre leise; Kauz nicht wie ich (hier ist der Kuckuck gemeint), ich nicht wie Nachtigall! Ein jeder hat so seine Weise!”

LeerGehen wir nochmals von der Verwandlung aus - Verwandlung ist ohne Überwindung nicht möglich (Schlag nach beim Märchen). Der „Nichtsänger” braucht also ein wenig Überwindung - besser Selbstüberwindung, um zur Verwandlung und damit zum Singen zu kommen. Diese Überwindung vollziehen eben Patienten in der Singtherapie und haben damit bereits ihren kleinen Kur-und Heilungserfolg, oft schon in der ersten Behandlungsstunde. Was muß so alles ein „Nichtsänger” überwinden: die Scheu vor dem Mitmachen, die Angst vor der Blamage beim möglichen Falschsingen, die Hemmung, die aus dem Mangel an Gewöhnung und Übung kommt - erstaunlich nur, wie schnell sich solche Hemmungen bei manchen Leuten nach dem ersten oder zweiten Glas Wein verlieren.

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LeerZur Überwindung gehört aber noch dies:

LeerSingen ist mit dem Staunen verwandt. Das staunende, bewundernde „o” ist bereits die Vorstufe des Gesanges. Wer aber staunt und sich noch wundern kann, gibt zu, daß er dieses oder jenes noch nicht wußte oder kannte - und wer will das schon als aufgeklärter Zeitgenosse zugeben? Staunen ist selten geworden, wie das Singen!

LeerSingen ist mit dem Seufzen verwandt. Wer seufzt, klagt und innerlich ergriffen ist und dies nach außen deutlich werden läßt, gibt Kunde von seinem Innenleben, gibt gewisse Schwachstellen preis, und wer tut das schon als aufwärtsstrebender, karrierebewußter und unerschütterlicher Mensch unserer Tage?

LeerHier treten schwerwiegende Mangelerscheinungen unserer Zeit auf dem Gebiet der Erlebnisverarbeitung ins Licht; hier liegt ein wesentlicher Grund für den Niedergang des Singens einerseits und für die Zunahme von krankhaften Störungen beim modernen Menschen andererseits auf der Hand. Nach einem alten chinesischen Sprichwort ist es besser „ein Licht anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen.” Es ist besser ein Lied anzustimmen, als sich über Dinge zu ärgern, die unabänderlich sind. „Und manches was ich erfahren, verkocht ich in stiller Wut, und kam ich wieder zu singen, war alles auch wieder gut.” (Dritte Strophe aus „Hab oft im Kreise der Lieben . . .” von Adelbert von Chamisso, 1781 - 1838)

LeerZugegeben, die Unruhe, die schnellebige Zeit, das hohe Maß an Hektik, die harten beruflichen Anforderungen, die Reizüberflutung und schließlich der Lärm allenthalben veranlassen uns oft, nicht mehr zu singen, zu spielen, uns musisch zu betätigen. Ist es dunkel um uns geworden, dann muß ein Licht her - ist es allzulaut um uns herum, dann muß ein Lied her. Möge Lessings Fabel „Vom Schäfer und der Nachtigall” uns anrühren und anregen, damit wir uns umwenden, überwinden, verwandeln und nicht ärgern, sondern uns vielmehr wundern - das wäre Grund genug: zum Singen!
Du zürnest, Liebling der Musen, über die laute Menge
des parnassischen Geschmeißes?
Oh, höre von mir, was einst die Nachtigall hören mußte.

„Singe doch, liebe Nachtigall!” rief ein Schäfer der schweigenden Sängerin
an einem lieblichen Frühlingsabende zu.

„Ach”, sagte die Nachtigall, „die Frösche machen sich so laut,
daß ich alle Lust zum Singen verliere. Hörest du sie nicht?”

„Ich höre sie freilich ”, versetzte der Schäfer,
„Aber nur dein Schweigen ist schuld, daß ich sie höre.”
Quatember 1986, S. 166-175

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-10
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