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"Die Nacht ist vorgedrungen . . ."
von Heinz Grosch

LeerEs gibt wohl kaum einen deutschen Kirchgänger, dem dieses Adventslied nicht bekannt oder sogar vertraut wäre. In dem nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) ist es ebenso enthalten wie im "Gotteslob", dem derzeitigen katholischen Gebet- und Gesangbuch, im Gesangbuch der Ev. Brüdergemeine ebenso wie in den "Gemeinsamen Kirchenliedern". Unter den vierzehn Adventsliedern im EKG ist es neben "Tröstet, tröstet, spricht der Herr . . ." das einzige Lied aus unserm Jahrhundert, und doch hat es in den Gemeinden längst einen ganz festen Platz - um der einprägsamen Melodie willen oder wegen seines unaufdringlich erzählenden und zugleich bildkräftigen Textes? Spüren die Gemeinden etwas von dem Boden, auf dem dieses Lied erwuchs?
"Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern.
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

Dem alle Engel dienen,
wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen
zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden,
verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden,
wenn er dem Kinde glaubt.

Die Nacht ist schon im Schwinden,
macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden,
das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet,
seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah.

Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr.
Von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.

Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute,
der läßt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht."
LeerDer Autor des Textes, Jochen Klepper, ist fast so etwas wie eine exemplarische Gestalt gelebten und erlittenen Glaubens in unserm 20. Jahrhundert. Als Ehemann einer Frau aus jüdischer Familie verliert er - dreißigjährig - beim Machtantritt Hitlers seine Stellung; er war Mitarbeiter des Berliner Rundfunks gewesen. Er wechselt zunächst über zu einem Verlag und arbeitet dann als freier Schriftsteller. Der Erfolg des großen Romans über den Preußen-König Friedrich Wilhelm I. hindert die nationalsozialistischen Machthaber nicht daran, Jochen Klepper aus der "Reichskulturkammer" auszuschließen. Auf diese Weise zwingt man ihn, alle seine literarischen Produktionen dem staatlichen Zensor vorzulegen. Der Versuch Kleppers, seine Frau und deren jüngere Tochter aus erster Ehe vor dem KZ zu bewahren, indem er Soldat wird, scheitert. Der "jüdisch Versippte" und darum "Wehrunwürdige" wird im Herbst 1941 aus der deutschen Wehrmacht entlassen, da er nicht in die von den Behörden erwartete Scheidung einwilligt, und im Dezember 1942 begehen die drei Menschen Selbstmord. Die Tagebucheintragung am Abend vor dem Tode schließt mit den Sätzen: "Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben."

LeerFast genau fünf Jahre vorher, am Nachmittag des 18. 12. 1937 (es war der Sonnabend vor dem 4. Advent) hatte er unser Lied geschrieben. Er hatte es "Weihnachtslied" genannt - so, wie auch das einen Tag zuvor entstandene "Sieh nicht an, was du selber bist" (Nr. 407 [im EG 539] im württembergischen Anhang des Gesangbuches). 1938 erscheint der Text beider Lieder in dem Gedichtbändchen "Kyrie".

LeerZu den ersten Lesern des "Kyrie" gehört ein junger Volksschullehrer im vogtländischen Unterwürschnitz. Sein Name ist Johannes Petzold. Er ahnt nicht, daß er 23 Jahre später als Dozent an die Kirchenmusikschule Eisenach berufen werden wird. Bereits während seines Studiums am Pädagogischen Institut in Leipzig hatte er sich der Musik, vor allem der Kirchenmusik, verschrieben. Kleppers Worte müssen ihn besonders angerührt haben, doch es scheint, als wolle es ihm zunächst nicht gelingen, das Gedicht angemessen zu vertonen. Er entwirft verschiedene Liedversionen und verbindet schließlich einzelne melodische Elemente aus den Entwürfen miteinander. Die Frucht dieses Experimentierens ist das Lied, das wir kennen. Johannes Petzold (er starb 1985 im Alter von 73 Jahren) hat ein umfängliches Werk hinterlassen: Liedvertonungen, Motetten und andere Chorliteratur, Choralvorspiele für Orgel und mehrere Kantaten, aber es könnte sein, daß gerade seine Vertonung von Jochen Kleppers zweitem "Weihnachtslied" zu dem gehört, was nach Generationen noch an ihn erinnern wird - vorausgesetzt, es erfüllt sich nicht die düstere Vision des Dichters von 1936:
"Die Völker stehen ganz erstarrt in Waffen,
und der gilt viel, der neuen Tod erdenkt.
Auch wenn sie Sicheln zu den Schwertern schaffen,
bleibt dennoch nur der Untergang verhängt."
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Die Worte
Gestalt und Herkunft

LeerDie fünf Strophen des Gedichtes sind - äußerlich betrachtet - von schlichter, fast möchte man sagen: kunstloser Gestalt. Dreihebige Verse mit weiblichem und männlichem Zeilenende wechseln regelmäßig miteinander ab. Die Reimpaare überkreuzen sich, so daß eigentlich jede Strophe aus zwei kurzen Teilstrophen zu je vier Verszeilen besteht (abab/cdcd). Es ist die gleiche Struktur, die uns seit der Reformationszeit immer wieder im deutschsprachigen weltlichen und geistlichen Liedgut begegnet. Erinnert sei an das Volkslied "Weiß mir ein Blümlein blaue . . ." aus dem frühen 16. Jahrhundert oder an das von Georg Rhaw (1545) in seine Sammlung zweistimmiger Lieder aufgenommene "Herzlich tut mich erfreuen die fröhlich Sommerzeit . . ."

LeerDas letztere Lied wird übrigens von Luthers Freund Johann Walther 1552 für den geistlichen Gebrauch umgeschrieben. Walther versteht die "Sommerzeit" als Metapher für die Zeit der Neuschöpfung am jüngsten Tage: "Da werden wir mit Freuden / den Heiland schauen an, der durch sein Blut und Leiden / den Himmel aufgetan . . ." (Str. 3). Die nur beiläufige Anspielung auf die "böse Zeit" der Gegenwart bekommt allerdings starkes Gewicht in einer zweiten Neufassung des Textes durch Christoph Knoll (1563-1621): "Herzlich tut mich verlangen nach einem selgen End, weil ich hier bin umfangen mit Trübsal und Elend . . .", und die letzte Strophe schließt mit dem Sterbewort Jesu nach Johannes: "'s ist vollbracht." Sind es die bedrängenden Ereignisse der Gegenreformation im habsburgischen Schlesien, die im Dichter eine Sehnsucht weg von der Welt wecken? Wir wissen es nicht. Wohl aber wissen wir, daß Paul Gerhardt (1607-1676) die Melodie aufgreift, die diesem Lied durch Hans Leo Haßler gegeben worden war. Gerhardt benutzt sie, als er einen mittelalterlichen Hymnus in deutscher Sprache nachdichtet: "O Haupt voll Blut und Wunden . . ." Die gleiche metrische Struktur verwendet er auch in seinem Adventschoral "Wie soll ich dich empfangen . . ." So ist es wohl nicht verwunderlich, daß Johann Sebastian Bach gerade diesem adventlichen Hoffnungsgesang im "Weihnachtsoratorium" die Weise des Passionsliedes unterlegt: eben damit anzeigend, daß der ersehnte und nun in die Welt kommende Retter nicht mit Gewalt seine Herrschaft ausbreitet, sondern selber den Weg der Niedrigkeit und Ohnmacht geht, daß er unser Leiden zu seinem eigenen machen will. Krippe und Kreuz verschmelzen zu einem Bild. Gut zwei Jahrhunderte später bringt Jochen Klepper genau dies in seinem frühesten Kirchenlied (am 18. 6. 1935) zu Wort:
"Und über Stall und Stern und Hirten
wuchs Golgatha, dein Berg, empor.
Nah vor den Augen der Verirrten
trat aus der Nacht dein Kreuz hervor."
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Das Wort in den Wörtern

LeerIn einem Aufsatz aus dem Jahr 1939 bemerkt Jochen Klepper, daß "eine Fülle von Bibelworten als geschlossene Zeile ins Lied übernommen und zum Ausgangspunkt eines geistlichen Liedes werden können." (Gottes Wort und Lobgesang, in: Nachspiel, Berlin 1960, S. 114) Dieser Erkenntnis folgt der Dichter - wie in mehreren seiner geistlichen Lieder - auch in unserm Gedicht, und um den Leser ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, stellt er den fünf Strophen die Verse 11 und 12 aus dem 13. Kapitel des Römerbriefes (in der ursprünglichen Fassung von Luthers Übersetzung) voran; es ist der Anfang der altkirchlichen Epistellesung zum ersten Adventssonntag (In der revidierten Lutherbibel ist der Satz - ohne Verstehensgewinn - leider halbiert; in der Einheitsübersetzung treten an seine Stelle fünf kurze Sätze bzw. Satzgefüge, durch die die einzelnen Bilder und Gedanken m. E. geglückt und plastisch herausgearbeitet werden.): "Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf (sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden; die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen): so lasset uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes."

LeerDas Lied umspannt einen weiten Bogen: vom Freudenruf dessen, der um den Advent weiß, über die Botschaft von der Menschwerdung und die Einladung, zum Stall zu kommen, bis hin zum Weg derer, die wieder in die Nacht hinausziehen, und zur Vision des gnädigen Gerichtes. Sieht man näher zu, so entdeckt man unschwer das Nebeneinander zweier Redeformen - zum einen das Element des Erzählens und der Ansage, zum anderen das Element des Aufrufs.

LeerSo beginnt Strophe 1 in den beiden ersten Verszeilen schlicht erzählend, ruft in Zeile 3 bis 6 verhalten zum Lob auf, um in den letzten Verszeilen zum Erzählen zurückzukehren, das nun aber den Leser (oder den Singenden) unmittelbar einbezieht: ". . . auch deine Angst . . ."

LeerIst die zweite Strophe noch ähnlich streng gegliedert (Zeile 1-4 als Ansage, Zeile 5-8 als Aufruf), so scheint die dritte das Schema nicht mehr durchzuhalten. Nur die erste Zeile nimmt betrachtend noch einmal den Liedanfang auf (wobei das eindeutigere "im Schwinden" an die Stelle des ambivalenten Partizips "vorgedrungen" tritt); es folgt aber gleich der direkte Aufruf, der dann in fast ungestümer Sprache - doppelter Zeilensprung! - begründet wird: "Ihr sollt das Heil dort finden ... eure Schuld ... hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah!"

LeerStrophe 4 nimmt diese Unmittelbarkeit zunächst ein wenig zurück, aber schon ab Zeile 5 werden die Hörenden/Singenden selbst wieder angeredet nämlich auf ihre Zukunft, die durch "manche Nacht" führen wird; doch das Dunkel wird sie nicht halten - der Stern "wandert nun mit allen" (man möchte fast hinzufügen: ob sie davon wissen oder nicht).

LeerDamit aber - und davon redet die letzte Strophe - erhält die Gegenwart eine ganz neue und andere Qualität. Was metaphorisch nur als "Nacht" und "Dunkel" benannt werden kann, als Ort von "Angst und Pein", als Folge und zugleich als Rahmenbedingung von "Schuld", die uns vor das "Gericht" bringen müßte, wird jetzt dechiffriert als Ort Gottes. ER selbst "will im Dunkel wohnen", "zur Sühne für sein Recht"; ER hat sich durch sein brüderliches Erscheinen (ohnmächtig, als "Kind") den Verstrickten und Gefangenen "verbündet" - sein Richten ist nicht tödliche Verurteilung, sondern liebevolle Solidarität. Man könnte wiederum an Paul Gerhardt denken, dessen Strophe "Ich will hier bei dir stehen . . ." (EKG 63, 3) ja nicht nur den Vorsatz der Gemeinde, sondern zugleich den in Jesus wirkenden Willen Gottes ausdrückt - einen Willen, der alle Vorsätze des Glaubens überhaupt erst ermöglicht. Gleichwohl liegt ein furchtbares Geheimnis über dieser Botschaft: "Der sich den Erdkreis baute, der läßt den Sünder nicht." Wer sich nicht als Sünder, d. h. als Gefangener, Verirrter, in schicksalhafte Schuld verstrickt und auf Liebe angewiesen erkennt, wird es schwer haben, dieses erlösende Wort als an ihn selbst gerichtete gute Nachricht zu hören. "Dem Sohn" vertrauen und auf die eigene Kraft (auch die eigene geistliche Kraft, ,Gläubigkeit`, frommes Tun) vertrauen - diese beiden Möglichkeiten schließen einander aus. (Vgl. dazu auch Jesu Gleichnis von den beiden Schuldnern im Kontext von Lk 7.)

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Die Weise

LeerJohannes Petzolds Vertonung von Kleppers Gedicht läßt sich durchaus von der Tradition des evangelischen Gemeindeliedes leiten. Die melodischen Elemente folgen dem Aufbau ||:ab:llcdef; die beiden ersten Choralzeilen werden also wiederholt, der fünften bis achten Textzeile entspricht ein durchkomponiertes Stück.

LeerDie in c-moll stehende Melodie (eigentlich müßte man von einer phrygischen Weise sprechen) umkreist den Ton g, ist also nicht auf den "Grundton" bezogen, der unsern Hörgewohnheiten entspräche: g ist Ausgangs- und Schlußton. Entsprechend ist der Schlußakkord der Harmonisierung im "Gitarrenspiel zum Gotteslob" (Zürich und Freiburg 1970), wo das Lied in h-moll notiert ist, ein Fis-(Dur-)Arpeggio; Petzold selbst schließt allerdings seinen Begleitsatz zur c-moll-Fassung (Klavier-Choralbuch BA 3499) mit einem strahlenden C-Dur. So hat das Lied durchaus einen Doppelcharakter, bewegt sich zwischen der alten phrygischen Kirchentonart und unserm heutigen Moll. Diese Eigenart des Nicht-Festgelegten wird noch durch den Rhythmus unterstrichen: der ruhige Drei-Halbe-Takt ist immer wieder in Vierteltonbewegungen aufgelöst, und im Übergang von der 3. zur 4. (und von der 5. zur 6.) Verszeile tritt an seine Stelle sogar jeweils ein 4/4-Takt. Trotzdem eignet dieser Vertonung nicht der schwebend-differenzierte Rhythmus des Haßler'schen Liedes; die durchlaufenden Halbschläge rücken es vielmehr fast in die Nähe eines Schreittanzes. Das wird den Singenden sofort deutlich, wo eine Gemeinde das Lied nicht nur als "Eingangslied", sondern zu einem wirklichen Einzug, also beim Hineingehen in die Kirche singt (vgl. Ps 24, 7 oder 118, 19 ff.).

LeerAllerdings: dieses Einzugslied (im Sinne der alttestamentlichen Praxis) erzählt auch musikalisch von dem, der "in sein Eigentum kam und die Seinen nahmen ihn nicht auf". So ist es gewiß kein Zufall, daß die ganz und gar eigenständige Weise dennoch deutliche Anklänge an Haßlers Melodie zu "Herzlich tut mich verlangen" und damit "O Haupt voll Blut und Wunden" erkennen läßt. Beide beginnen mit der Quinte (oder mit der Unterquart des Grundtones der entsprechenden Moll-Tonart), in beiden ist das erste Intervall eine Quarte, in beiden schließt die erste Choralzeile mit dem Anfangston des Liedes, in beiden beginnt und endet die letzte Choralzeile mit eben diesem Grundton der phrygischen Tonart, in beiden ist das letzte Intervall ein aufsteigender Ganztonschritt. Johannes Petzold muß den auf Leiden und Tod Jesu vorausweisenden Unterton in Kleppers Gedicht (vgl. vor allem die 2. Strophe) wahrgenommen und sehr bewußt versucht haben, dem auch musikalisch Gestalt zu geben.

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Notwendige Nachbemerkung

LeerJochen Kleppers Selbstverständnis ist bestimmt von der "Aufgabe", die er dem christlichen Dichter im Deutschland seiner Zeit zumißt - "Buße zu predigen", wie es in einer Tagebucheintragung vom 30. März 1936 heißt. Trotzdem sind seine Verse - auch die Verse dieses Adventsliedes - weder unmittelbarer Aufruf zur tätigen Umkehr noch Predigt, die auf "Bekehrung" zielt. Diese Verse lassen sich nicht an irgendwelchen äußeren Fronten singen; sie sind das Bekenntnis eines Menschen, der "nur" sein Vertrauen und seine Hoffnung weitersagt - ein Vertrauen und eine Hoffnung, die nicht abzulösen sind von der Gemeinschaft der Mit-Vertrauenden und Mit-Hoffenden. Diese Gemeinschaft - die Gemeinde Christi, die Kirche - ist für Klepper die Stadt, "in deren Mauern die Schrift zu uns zu reden beginnt" ("Die Stadt in der Mitte" in: "Nachspiel", S. 44) - Wurzelt auch unser eigener Glaube in dieser Gemeinschaft?

LeerKleppers Glaube allerdings genügt nicht sich selbst - so, wie auch das wandernde Gottesvolk, die "Stadt auf dem Berge" nicht sich selbst genügt. Die Gemeinde empfängt ihren Sinn im Mit-Gehen mit ihrem Herrn, der die "alles tragende Kraft in bedrängter, armer Enge" ist und "alle Last des Himmels und der Erde" auf sich nimmt. ("Die bunte Stadt im Schatten", ebd. S. 23) Bonhoeffer könnte einem in den Sinn kommen, der im Gefängnis die Sätze notiert: "Wir sind nicht Christus, aber wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, daß wir an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat ... Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder, um derentwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden." ("Widerstand und Ergebung", 9. Aufl. 1959, S. 27) - In diesem Bonhoefferschen Sinne dürfen wir die Verse Jochen Kleppers als Aufruf und Anspruch lesen; sie fordern uns heraus, durch "kein Dunkel mehr" gehalten den Weg Christi mitzugehen - betend mitzutragen an "aller Last", die auf jenen liegt, welche mit uns durch die Zeiten wandern - ihnen teilzugeben an der Gewißheit, daß uns kein Schicksal und keine Schuld mehr von dem trennen kann, der heilen und retten will, nichts als heilen und retten. Der Römerbrief umschreibt das Leben aus dieser Gewißheit als "Ablegen der Werke der Finsternis" und "Anlegen der Waffen des Lichtes". Wer das Lied von Jochen Klepper und Johannes Petzold singt, kann an der paulinischen Mahnung nicht vorbeihören. Er wird danach fragen müssen, was sie für sein eigenes Leben konkret bedeutet und wie sie darin fruchtbar werden kann. Fragen wir danach, wenn wir es singen?

© Prof. Heinz Grosch, Aichwald
Quatember 1986, S. 197-203

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-10
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