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von Hans-Joachim Thilo |
Es ist in der Kirche Mode geworden, mit schmückenden Attributen verschwenderisch umzugehen. Wir reden nicht mehr von „der” Gemeinde, sondern von Kerngemeinde, Randgemeinde, Bekennenden Gemeinden, mündigen Gemeinden. Wir versehen die Christen mit ähnlichen Attributen und reden von mündigen Christen, praktizierenden Christen, evangelikalen und fortschrittlichen Christen. Jede dieser Gruppen - und das ist das so Bedenkliche daran - sagt damit mehr oder weniger offen, daß sie allein den „wahren” Glauben, das „unverfälschte” Evangelium, den wirklichen Gehorsam aus Glauben verkörpere. Der Begriff der Allein-Seligmachenden-Kirche, von den Katholiken kaum noch verwendet, hat sich längst in unseren protestantischen Gruppen und Gruppierungen ein Heimatrecht geschaffen. Auch wir in der Bruderschaft sind nicht immer gegen solche Exklusivitäten gefeit. Wir formulieren nur anders: „Der Bruder weiß . . .” so beginnen viele Sätze der Regel. Noch immer habe ich beim Lesen der Regel das spitzbübische Lächeln von Karl Bernhard Ritter vor Augen, der einmal in einer Kapitelsitzung gefragt hat, wo denn in unserer Regel der „Bruder schwarz” bliebe ... Er meinte damit, wo denn die Frage nach dem M e n s c h e n bliebe, der nicht mehr, noch nicht oder nur beinahe Christ sein möchte. Um eben diesen Menschen soll es heute gehen. Mein Thema heißt nicht: Der eucharistische Christ, sondern: Der eucharistische M e n s c h . Ehe ich nun den Versuch unternehme, eine theologische, psychologische und soziale Definition dessen vorzulegen, was damit gemeint ist, ein kurzer Blick in die veränderte theologische Situation zur Frage des homo religiosus als Voraussetzung. Die Jüngeren unter uns werden sich nicht mehr vorstellen können, daß es nahezu ein theologisches Sakrileg war, wenn dieser Begriff in einer von Karl Barths Theologie beherrschten kirchlichen Gruppe fiel. Religion und Christentum - das hatten unüberbrückbare Gegensätze zu sein. Dietrich Bonhoeffer, Günter Jacob und ihre theologischen Freunde waren der festen Überzeugung, daß wir einem Zeitalter entgegengingen, in dem der „homo religiosus” total aufgehoben werde. Die Proklamierung des „nichtreligiösen Zeitalters” war bei Christen und Marxisten der ersten Nachkriegs-jahre unwidersprochenes Dogma. Die religiöse Entwicklung in der Welt und auch in beiden Teilen Deutschlands hat diese Meinung eindeutig widerlegt. Aber waren denn nun Männer wie Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Günter Jacob und andere falsche Propheten? Das sei ferne! Was und wo wären wir heute, wenn sie uns nicht in den Jahren des Nationalsozialismus geschenkt worden wären? Wie recht hatten sie mit ihrer Theologie angesichts der deutschen Blut- und Boden-Theologie und eingedenk jenes unseligen lutherischen Identifizierungsdenkens mit der deutschen Volksseele. Befinden wir uns nun heute heimlich auf dem Wege zurück zum Kulturprotestantismus von Troeltsch und Harnack, wenn wir erneut die Frage nach dem homo religiosus stellen und sie vom Wesen der Eucharistie her beantworten wollen? Ich hoffe, wir werden diese Frage am Schluß mit einem klaren „Nein” beantworten können. Aber warum? 1. Die Begegnung mit der Welt der Religionen. 2. Das Aufbrechen der ökologischen Problematik in allen Teilen der Welt. 3. Die Erfahrung der Wirklichkeit des Numinosen. Zu 1. Die Medien und der Tourismus haben uns eine Kenntnis von den ethischen und religiösen Lebensgewohnheiten anderer Völker vermittelt, die vor fünfzig Jahren noch für undenkbar gehalten worden wäre. Wie ein Moslem betet, welche Bedeutung die Trommel und der Tanz bei afrikanischen Kulten spielen, wie der südamerikanische Woodoo-Kult zelebriert wird, wie der Buddhist meditiert, das erläutert uns das Fernsehen nahezu in jeder Woche. Gebetszeiten und Gebetsriten des Islam waren mir aber während des Studiums nicht vorgeführt worden. Ganz zu schweigen von den theologischen Inhalten der Religionen! Gewiß gab es eine kleine Gruppe Interessierter, die sich im Studium mit Missionswissenschaften befaßten, aber als auch nur annähernd gleichwertiges Fach zu den exegetischen und systematischen Disziplinen haben wir das in meinen Studienjahren nicht angesehen. Die einzige religionsgeschichtliche Vorlesung, die ich gehört habe, stellte uns den Buddhismus apologetisch, um nicht zu sagen ironisch vor. Auch mit der Kenntnis des Wesens der anderen Kirchen ist es meiner Generation kaum anders gegangen. Man muß nur heute einmal nachlesen, wie Mulerts „Konfessionskunde” über den Katholizismus berichtet, wie die russische Orthodoxie dort schlichtweg als „Brimborium” gekennzeichnet wird, um die Unverantwortlichkeit solcher konfessionellen Engstirnigkeit zu erkennen. Ein ganz anderer Weg zur Begegnung mit den Religionen hat sich ausgerechnet bei den Naturwissenschaften angebahnt. Wer einmal mit den Gedanken Sigmund Freuds oder Carl Gustav Jungs in Berührung gekommen ist, hat erkennen müssen, welchen tiefen Wahrheitsgehalt die Mythen der Antike zu vermitteln vermögen. Märchen, meist nur als mehr oder weniger problematische Unterhaltung für Kinder angesehen, erwiesen plötzlich ihren tiefen Wahrheitsgehalt ebenso wie die mythischen Bilder der griechischen Dramen. Das Schicksal des Ödipus und der Elektra, die Unerforschbarkeit des göttlichen Ratschlusses im Odysseus-Mythos, die Trauerreaktionen der Keres um ihre von Pluto geraubte Tochter zeigten uns plötzlich psychische Heilungsmöglichkeiten auf und ließen uns psychotische und neurotische Krankheitsbilder neu sehen und - heilen! Niemand wird heute noch angesichts dieses Tatbestandes von „primitiven Religionen” reden können. Überall in der Welt beginnt man einzusehen, daß der Verschleiß an Ressourcen irgendwann einmal zu einem Kollaps führen muß, daß Wachstumsraten keineswegs unbegrenzt zu erwarten sind, und die Aufforderung in der Genesis zur Verantwortlichkeit des Menschen der Schöpfung gegenüber eine völlig neue Akzentuierung erhält. Dies sind die Hintergründe, die uns zum wichtigsten Punkt unserer Überlegungen kommen lassen, zum Bild des eucharistischen Menschen, zur Erahnung der Wirklichkeit des Numinosen. Zu 3. Für West und Ost gilt: Der Zweifel an der herrschenden Rationalität ist weltweit und nicht beschränkt auf die jeweiligen gesellschaftlichen Systeme. In den kapitalistischen Ländern ist diese Skepsis unschwer zu erkennen. Lebensqualität - ein erfolgreiches Losungswort für die Bundestagswahl 1979 -hat heute in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu tun mit der Forderung nach mehr materiellem Lebensgenuß. Die geheime Frage junger Intellektueller in der DDR lautet: Ständiges materielles Wachstum - von den Funktionären der Partei in jeder Verlautbarkeit prophezeit - hat ja der Kapitalismus auch und besser anzubieten. Wir aber hatten vom Sozialismus eigentlich mehr erwartet. Das alles kennzeichnet ein Begriff, der in unseren Tagen immer häufiger auftaucht: „Neue Nachdenklichkeit”. Ein Wortungeheuer gewiß, aber doch recht kennzeichnend für eine Situation. Die bloße Nostalgie ist nun ebensowenig gefragt, wie die ständig sich neu gebärenden Alternativen ohne Rücksicht auf Realisierung. Eben das aber führt zu einer neuen Beurteilung dessen, was wir „Religion” nennen. Im Lutherischen Weltbund in Genf wird seit 1981 an einem Projekt gearbeitet, das den Titel trägt Civil Religion. Der Ungar Béla Harmati, Leiter dieses Projektes, definiert das, was gemeint ist, so: „Unsere Aufgabe ist es, die Rolle der Religion in der Gesellschaft zu analysieren. Dabei haben wir drei Aspekte immer vor Augen: Es geht um Religion, Staat, Grundwerte. Wir sind mit 65 Staaten der östlichen und westlichen Welt in Verbindung über diese Fragen. Aber trotz ‚Religionsloser Gesellschaft’ im Osten und ‚Säkularisation’ im Westen haben wir kein Land gefunden, in dem Religion bedeutungslos geworden ist ... Es existiert heute ein quasi-religiöses Bewußtsein, das häufig nur christlich begründet wird und sich in den Grundwertdebatten in Ost und West zu erkennen gibt.” Damit haben wir das Fundament zu dem gelegt, was wir zu beschreiben uns vorgenommen haben: Die Frage nach dem eucharistischen Menschen. Die Feier der Eucharistie faßt alles das zusammen, was wir als Charakteristika einer religiösen Haltung genannt haben und führt doch zugleich weit darüber hinaus. Eucharistie ist zunächst von ihrem Wesen her ökumenisch in dem Sinne, daß fast alle christlichen Kirchen die sakramentale Gemeinschaft als Kern ihrer Gottesbeziehung betrachten. Ökumenisch ist dabei auch die Überzeugung, daß die Gegenwart Gottes sich in dieser Feier ereignet, wenn auch die theologischen Spekulationen über das „Wie” einer solchen Gegenwart die Christenheit bis heute spaltet. Dabei wird immer deutlicher, daß es sich weitgehend um Scheingefechte handelt, deren eigentliche Hintergründe weit weniger theologisch als vielmehr historisch und tiefenpsychologisch erklärt werden können. Es handelt sich bei den theologischen Differenzen in der Frage der eucharistischen Gegenwart des Herrn um ähnliche intrapsychische Vorgänge, wie etwa bei der Frage nach dem geistlichen Amt für die Frau: Tiefe Ängste, Verlustvorstellungen auf den Gebieten geistlicher Macht, Aufgabe von Vorrangstellungen, Regressionen auf heidnisch-mythisches Denken von „Unwürdigkeit” und „Unreinheit” prägen die theologischen Unterschiede in der Eucharistiefrage weit mehr, als unter uns deutlich. Dazu kommt die mangelnde Ehrfurcht vor dem Mysterium tremendum ac fascinosum, dem erschreckenden und beseligenden Heiligen, dem numinosum, von dem Rudolf Otto gesprochen hat. Diese mangelnde Ehrfurcht wirkt sich im Protestantismus verheerend aus. Dazu kommt das Unverständnis gegenüber geistlichen Erfahrungen und das nur auf rationales Erkennen ausgerichtete theologische Denken im Protestantismus. Dieses ist letztlich untheologisch, auch wenn es mit der rabies theologorum, dem Eifer der Theologen, aufs neue theologisch bemäntelt wird. Damit predigen wir keinen platten Synkretismus! Wir können nicht mit Nathan dem Weisen sagen, daß alle an den gleichen Gott glauben. Sähen wir die Religionen und deren Kulte als gleichrangig mit der christlichen Eucharistie an, würden wir allerdings dem Verdikt des Synkretismus verfallen. Darum geht es nicht! Wir meinen aber in der Tat, daß der Vater Jesu Christi auch in den Mythen der Religionen geahnt wird, verhüllt anwesend ist. Die göttlichen Kinder unter wilden Tieren, bei deren Geburt die Engelsmächte anwesend sind, die ausgesetzten Knaben auf dem Nil in den ägyptischen Religionen, Tod und Rückkehr ins Leben, wie es der Osiriskult schildert, sind dafür Zeugen. Eugen Drewermann, katholischer Systematiker, hat hier bahnbrechende Arbeit geleistet. These 1: Der eucharistische Mensch steht anbetend und feiernd in dem großen Kreis derer, die jemals und jetzt ihre Knie vor Gott gebeugt haben. Er vermag eine heimliche Bruderschaft zu denen zu haben, die in Jahrtausenden die Erfahrung der Nähe Gottes gemacht haben. Hier hat Carl Gustav Jung recht, wenn er von der Messe sagt: „Obschon die Messe in der vergleichenden Religionsgeschichte eine an sich einzigartige Erscheinung ist, so wäre doch ihr Symbolgehalt den Menschen fremd und unverwandt, wenn er nicht in seiner Seele verwurzelt wäre.” (Psychologie und Religion, S. 187). These 2: Der eucharistische Mensch lebt vom Wesen und Sinngehalt der Wandlung. Wer sich die Mühe gemacht hat, die Seiltänzerakte zwischen Transsubstantation und Konsubstantiation nachzuvollziehen, wer dabei nicht die philosophischen und kirchenrechtlichen Aspekte aus den Augen gelassen hat, wer im Protestantismus endlich zur Kenntnis nimmt, daß die heutige römische Dogmatik gerade bei der letzten Bischofssynode nicht zum 4. Laterankonzil von 1215 zurückgekehrt ist, kann sich nicht länger bei den dogmengeschichtlichen Formulierungen des frühen Mittelalters und der Reformationszeit aufhalten, wenn es um die Abendmahlsgemeinschaft geht. Eucharistie ist Wandlung! Aber eben nicht im materiellen Sinne, sondern im Sinne jener Wandlung, die die Abläufe unseres irdischen Daseins bestimmt. Alles ist Wandlung! Der Wechsel der Jahreszeiten, der Wechsel der menschlichen Reifungsprozesse, die biologischen Vorgänge bei Mensch, Tier und Pflanze. Der Apostel benutzte den Wandel vom Saatkorn zur Ähre, um damit das Geheimnis der Auferstehung der Gemeinde in Korinth anschaulich zu machen, der auferstandene Herr ist der gewandelte Herr, den die Jünger nicht erkennen, Paulus kennt den Jesus „im Fleische” nicht mehr, sondern nur den, den er erfahren hat. Alles ist Wandlung, auch die Wandlung von Brot und Wein zur Gegenwart des Herrn in meiner Hand, in meinem Mund. These 3: Der eucharistische Mensch lebt von der Dankbarkeit und vom Teilhaben. Die Reihenfolge der neutestamentlichen Aussage bei den Einsetzungsworten ist wichtig: „Dankte und brach's und gab es ihnen ...” Leben aus dem Wissen um den Dank, das ist Voraussetzung für einen eucharistischen Lebensstil. Dabei muß angemerkt werden, daß dieses Danken im Angesicht des nahen Todes und einer unausweichlichen Schicksalhaftigkeit geschieht. Es ist also allem zu wehren, was das Danken in die Nähe von Glück und Erfüllung bringt. Grund des Dankens ist die Gegenwart Gottes, nichts anderes! Das darauffolgende Brechen des Brotes ist an sich nichts Neues. Es ist vielmehr die alltägliche Aufgabe des Hausvaters, der den Seinen das Brot zuteilt. Man nahm sich nicht einfach von dem, was auf dem Tisch angeboten wurde. Zumindestens zu Beginn des Mahles wartete man auf die Zuteilung durch den Hausherrn. Der Gast verfügt nicht über das, was ihm angeboten wird. Er soll wissen, daß die vor ihm liegenden Dinge zwar für ihn angerichtet sind, dennoch nur empfangen werden können, weil der Herr sie zuteilt. Hier wird ein Stück unserer ökologischen Problematik transparent. Das Brot, der Acker, die Luft, sie alle sind von Gott zugeteilte Gaben. Die Habgier an den Dingen setzt dort ein, wo das vergessen wird. Aber nicht das ganze Brot wird herumgereicht, sondern der Hausherr bricht das Brot. Ein Teil nur steht mir zu, damit es für alle reicht. Seit den Tagen der Didache aber, jener frühchristlichen Schrift vom Beginn des zweiten Jahrhunderts, hat der liturgische Vollzug des Brotbrechens eine symbolhafte Erweiterung erfahren: Der gebrochene Mensch, die zerbrochene Schöpfung und die Notwendigkeit, zur Wiederherstellung der Ganzheit beizutragen, wird im Brotbrechen sichtbar. In der Formulierung des Lima-Textes heißt das dann so: „Wie die Körner, einst verstreut in den Feldern, und die Beeren, einst verstreut auf den Bergen, jetzt auf diesem Tisch vereint sind in Brot und Wein, so, Herr, laß Deine Kirche bald versammelt werden von den Enden der Erde in Deinem Reich.” These 4: Leben aus der Eucharistie bedeutet, das Leben als ständiges Transzendieren zwischen Realität und Wirklichkeit zu erfahren. Zwischen den Begriffen „Realität” und „Wirklichkeit” bestehen ganz entscheidende Unterschiede. Realität ist der Begriff für empirisch meßbare, mikroskopisch nachweisbare und mathematisch belegbare Vorgänge. Unter „Wirklichkeit” verstehen wir jene unser ganzes Leben entscheidend prägenden Vorgänge, die nicht im eben angegebenen Sinne beweisbar sind. Ich kann niemandem beweisen, daß ich ihn liebe. Wenn der geliebte Partner zu allen meinen „Beweisen” meiner Liebe sagt „Ich glaube Dir nicht”, bin ich machtlos. Dennoch bestimmen Liebe und Haß mein Wesen, meine Existenz, gerade auch deshalb, weil sie nicht empirisch beweisbar sind. Aber sie existieren! Nach der Aussage des Neuen Testamentes besteht Leben im ständigen Transzendieren zwischen Realität und Wirklichkeit. „Zoee” endet nicht mit der Meßbarkeit der Gehirnströme. Für Jesus können lebende Menschen sein wie „getünchte Gräber”, und von den Toten wird ausgesagt „In ihm leben sie alle”. Der neutestamentliche Begriff vom Leben hat also zu tun mit der Bindung an Gott. Also mit dem religere (rückbinden) - auch wenn nicht geklärt ist, ob das Wort „Religion” ausschließlich von diesem Wortstamm ableitbar ist. Die Entdeckung, daß solches Transzendieren notwendig ist, prägt die Diskussion um das, was wir „leben” nennen, immer stärker. War gestern noch das Wachstum und die damit angeblich verbundene Lebensqualität letzter Maßstab, so lehrt uns die ökologische Bewegung die Schau der Natur von ihrer transzendentalen Deutung her zu begreifen. Real denken kann nur, wer transzendentierend denkt. Augustinus' großes Wort, wonach Vernunft durch den Glauben vernünftiger wird, bekommt neue Bedeutung. Die einzige Möglichkeit jedoch, Wirklichkeiten darstellbar, also real zu machen, bietet das Symbol innerhalb eines ihm gemäßen Ritus. Symbole aber sind doppeldeutig. Das gehört zum Wesen des Symbols hinzu und unterscheidet es vom Signal und vom Klischee. Der Ring an meinem Finger kann Zeichen der Treue u n d Symbol der Fesselung sein. Das Wasser in der Taufe ist Symbol des Lebens u n d des Todes, Feuer ist Symbol der Reinigung u n d der fressenden Zerstörung. Daher bedarf das Symbol der Deutung, also der Gebundenheit an Realität. Das Gegenstück zum eucharistischen Menschen aber ist der Sysiphus religiosus. Wir müssen - leider - zum Schluß auch von ihm sprechen, weil er zu den großen Versuchungen unserer Bruderschaft gehört. Es gibt den Sysiphus religiosus in zwei Spezies: Den Sysiphus liturgicus und den Sysiphus moralis. Beide mühen sich unablässig um Perfektion, beide unterliegen einem Zwang, beide zerbrechen erschöpft gerade an dem, was sie genießen sollten. Beide rollen ihre Steine der Perfektion wieder und wieder auf den Gipfel ihrer vermeintlich von Gott geforderten Leistungen und erleben wieder und wieder die grenzenlose Enttäuschung. Das betrifft Familie, Gemeinde, Kirche und die eigene Existenz. Daher sei auch abschließend auf den Januskopf allen Rituals hingewiesen. Keine schöne, aber gerade in unserer Bruderschaft notwendige Aufgabe. Ritual und Liturgie können unerhört starke Hilfen zur Bewältigung unseres Lebens sein. Sie können aber auch das auslösen, fördern und stabilisieren, was uns als Psychiatern und Psychotherapeuten im Gewand der Zwangsneurose eben leider nicht selten bei Menschen begegnet, die eine bewußte Bindung an ihre Kirche haben. Im extremen Falle eines manifesten neurotischen Befundes kann das zum Beispiel so aussehen, daß bestimmte Gebetsformeln in bestimmter Reihenfolge und bestimmter Anzahl wiederholt werden müssen, um sich zu schützen. Ich erinnere mich an einen Patienten, der jedes Glas Bier in drei Schlucken austrinken mußte und dabei sagen mußte: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes”. Er brauchte dieses Ritual, um sich gegen seine Angst, Alkoholiker zu werden, abzusichern. Wenn für den Pietisten ausschlaggebend ist, wie oft der Name Jesu in einer Predigt vorkommt, damit sie schriftgemäß ist, so könnte für manche unter uns von Bedeutung sein, welches liturgische Stück unter keinen Umständen abgeändert werden darf, um nicht seinen geistlichen Charakter zu verlieren. In besonderem Maße gilt das für Moralvorstellungen, wenn wir feststellen müssen, daß wir für unsere jeweilige Ansicht zu einem ethischen Problem keine wirkliche Begründung mehr angeben können. Seien wir uns also als Michaelsbrüder des großen Segens und zugleich der großen Versuchung alles Rituellen bewußt! Damit stehen wir an der Frage nach der therapeutischen Bedeutung des Gottesdienstes. Gottesdienst ist immer zugleich Prozeß des Heilens und des Kampfes. Gottesdienst hat es immer mit der Gespaltenheit des Kosmos und deshalb auch des Menschen in Realität und Wirklichkeit zu tun. Nur einen Ort können wir angeben, an dem durch die Zerbrochenheit die Ganzheit für wenige Augenblicke hindurchscheint: Die Feier der Eucharistie. Quatember 1986, S. 210-219 |
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