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Anonyme Bestattung
von Christian J. Hövermann

LeerUrnenbeisetzung im Berliner Krematorium Ruhleben: Die Orgel ist verklungen, der Trauerzug setzt sich in Bewegung. Voran der Träger mit der blumengeschmückten Urne, dahinter ich, der Pfarrer, dann die Schar der Angehörigen und Bekannten. Das Besondere an diesem Trauerzug ist, daß er nicht zu einem Grab führt. Sein Ziel ist eine weitläufige plane Wiese. Dort ist ein kleines Loch für die Urne ausgehoben, das gleich nach der Beisetzung fugenlos mit einem Grasstück abgedeckt wird. Die Wiese ist zum stummen Sammelgrab bestimmt. Wer hier begraben wurde, soll für immer ihr Geheimnis bleiben. Deshalb darf auf diese Wiese niemand Blumen bringen. Alle Blumen, die den hier Bestatteten zugedacht sind, legt man an einer bestimmten Stelle in der Nähe ab.

LeerMich interessierte, weshalb sich neuerdings etliche Leute für eine solche anonyme Bestattung entscheiden. Von Herrn A. hörte ich: „Herr Pfarrer, sehen Sie, es gibt auf dem Friedhof so viele verwilderte Gräber. Das finde ich ganz furchtbar. Bei mir möchte ich das nicht so haben. Ich möchte anonym bestattet werden, weil ich niemanden habe, der sich um mein Grab kümmert.” - Frau B. antwortete auf meine Frage bitter: „Ach wissen Sie, ich möchte keinem zur Last fallen.” Zwar hatte sie Angehörige, aber in ihren Ohren gellte das Jammern: „Was ist denn schon wieder, Mutter?! Du weißt doch, wir haben jetzt wirklich keine Zeit!”

LeerIch meine, die anonyme Bestattung ist auch ein geistliches Problem, und zwar nicht nur für den Pfarrer, der auf dem Friedhof Dienst zu tun hat, sondern für jeden Christen: „Prüfet alles, aber das Gute behaltet”, ist uns aufgetragen. Gehört die neuerdings häufiger gewünschte anonyme Bestattung zu dem Guten, das wir beibehalten können? Ist sie unserem Glauben gemäß? Die erste und grundlegende Einsicht zu diesem Thema fand ich bei dem Kirchenvater Augustinus. Er hebt im ersten Buch des „Gottesstaates” hervor, daß die Art der Bestattung für das ewige Schicksal eines Menschen ohne Bedeutung ist. Dem Gottlosen nützt keine noch so teure Bestattung, dem Frommen kann es nicht schaden, wenn er schäbig oder gar nicht bestattet wird. „All das wie Pflege des Leichnams, Bestattungsart und Prunk des Leichenbegräbnisses” sei „mehr Tröstung für die Lebenden als Hilfe für die Toten”, schreibt Augustinus.

LeerMan kann also nicht behaupten, daß eine bestimmte Bestattungsart heilsnotwendig sei. Verfolgt man - angefangen mit der Zeit des Alten Testaments -die in der Geschichte der Christenheit geübten Begräbnissitten, entsteht ein weitgespanntes Bild, auf dem vieles zu sehen ist: vom Massengrab bis zum Beinhaus, von der Katakombe bis zum Grabmal mit einem Thorwaldsen-Christus.

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LeerDas heißt aber nicht, daß alle irgendwann einmal geübten Bestattungsbräuche von gleicher Dignität wären. Auch für das Bestattungswesen gilt der biblische Grundsatz: „Alles ist erlaubt, aber es frommt nicht alles.” Ich meine, daß sich aus guten biblischen Gründen im Laufe der Zeit die namentliche Bestattung mit einer Grabinschrift durchgesetzt hat. Werfen wir dazu einen Blick ins Alte und ins Neue Testament!

LeerIm Alten Testament spielt das Andenken der Toten eine wichtige Rolle. „Der Gerechte wird nimmermehr vergessen”, heißt es im 112. Psalm. Und in den „Sprüchen” lesen wir:

Leer„Das Andenken des Gerechten bleibt im Segen; aber der Name der Gottlosen wird verwesen.” (Spr. 10,7) Dabei fällt auf, daß die Wörter „Andenken” und „Name” parallel gebraucht werden. Das ist kein Zufall, sondern rührt daher, daß das Gedächtnis der Toten stets als namentliches Gedenken verstanden und geübt wird. Es geschieht nie allein in Gedanken oder im Herzen (wie das heutzutage mancher sagt), sondern wird als Erwähnung vollzogen: Mindestens der Name des Toten wird dabei ausgesprochen. Der Tote, dessen Name nicht mehr genannt wird, ist dem Vergessen preisgegeben.

LeerVon diesem alttestamentlichen Verständnis des Totengedenkens ist es nur ein kleiner Schritt zur Liturgie des Gedenkgottesdienstes für die Entschlafenen, die in einigen Berliner Gemeinden am Ewigkeitssonntag gehalten wird. In diesem Gottesdienst wird aller Verstorbenen eines Jahres namentlich gedacht, indem das Totenbuch der Gemeinde verlesen wird. - Ein kleiner Schritt ist es ebenfalls nur vom alttestamentlichen namentlichen Totengedenken zum Setzen eines Grabsteins mit Inschrift, wie es im Judentum seit Jahrhunderten Brauch ist.

LeerIm Neuen Testament kommt ein entscheidender Gesichtspunkt hinzu: Gottes namentliches Gedenken an die Toten. Wenn es vom guten Hirten heißt: „Er ruft seine Schafe mit Namen” (Joh. 10,3), so gilt dieser Ruf über den Tod hinaus. Gott vergißt die Seinen nicht. Deshalb ermutigt Jesus seine Jünger mit den Worten: „Freut euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.” (Lk. 10,20) Im gleichen Sinne nennt der Völkerapostel Paulus seine Mitarbeiter Menschen, „deren Namen im Buch des Lebens stehen”. (Phil. 4,3) Die ganze Gemeinde hat der Hebräerbrief im Blick, wenn er von den „Erstgeborenen” spricht, „die im Himmel aufgeschrieben sind”. (Hbr. 12,23) Und in der Offenbarung des Johannes spricht der erhöhte Herr:

Leer„Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln.” (Offb. 3,5)

LeerDas anschauliche Bild vom Buch des Lebens wird im Neuen Testament für Gottes namentliches Gedenken an einen Menschen über dessen Tod hinaus verwendet. Was in einem Buch niedergelegt ist, kann nicht mehr vergessen werden. Was im Buch des Lebens steht, kann der Tod nicht ausradieren. - Jedermann hatte damals vor Augen, wie die selbständigen Städte Bürgerlisten führten. Wer in ihren Mauern das Bürgerrecht genoß, mußte hier verzeichnet sein. Er war durch diese Eintragung, die nicht leicht zu erlangen war, aus der Masse der Fremden herausgehoben, hatte besondere Rechte und Pflichten.

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LeerDas biblische Bild knüpft daran an: Was für die irdischen Städte gilt, gilt im übertragenen Sinne auch für die himmlische Stadt. In ihr wird das Buch des Lebens geführt. Wer in diesem Buch eingetragen ist, hat das himmlische „Bürgerrecht”; er genießt Gottes Schutz und darf darauf hoffen, daß sein Name dereinst vor dem himmlischen Vater bekannt wird. - Ich fasse zusammen: Das Neue Testament geht davon aus, daß wir Menschen vor Gott nicht Tropfen im Meer der Zeit, sondern Personen mit einem unverlierbaren Namen sind.

LeerVon hier aus wird es möglich, eine geistliche Antwort auf die Frage „Anonyme Bestattung?” zu finden. Achten wir einmal darauf, was bei einer anonymen Bestattung passiert. Ich empfinde das so: Die sterblichen Überreste eines Menschen werden in eine Ewigkeit eingesenkt, die keine Namen mehr kennt. Was einmal war, deckt fugenlos der stumme Rasen. Was bleibt, ist der ewige Kreislauf der Natur, das Blühen und Verblühen der anonymen Friedhofswiese.

LeerMeines Erachtens kommt in einer anonymen Bestattung damit das Gegenteil von dem zum Ausdruck, was im Neuen Testament steht: Weder die Lebenden noch die Toten sind für Gott jene anonyme Masse, zu der sie im stummen Sammelgrab werden. Und weil sie vor Gott keine anonyme Masse sind, sollten wir sie auch nicht so behandeln, sondern unsere christliche Hoffnung auf dem Friedhof deutlich machen. Nicht der grüne Rasen ist das, was letztlich bleibt, sondern Gottes namentliches Gedenken an unsere Verstorbenen. Ich glaube, es ist daher kein Zufall, daß sich im Umkreis des Christentums die namentliche Bestattung mit einer Grabinschrift durchgesetzt hat. Der Grabstein, der meinen Namen über mein irdisches Leben hinaus bewahrt, bringt meine Hoffnung darauf zum Ausdruck, daß Gott meinen Namen und damit mich selbst im Tode und über den Tod hinaus bewahren wird. Als Zeichen dieses Glaubens halte ich einen schlichten Grabstein, der den Namen und die Lebensdaten des Verstorbenen trägt, bei einem Christen für sinnvoll und angemessen.

LeerDie Tatsache, daß die meisten Gräber nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes neu belegt werden, tut in meinen Augen dem besonderen Zeichencharakter eines Grabsteins keinen Abbruch. Der Grabstein soll und kann keinesfalls Gottes Ewigkeit kopieren. Er kann und soll aber eine Zeitlang meine Hoffnung auf Gottes namentliches Gedenken an mich bezeugen.

LeerAus diesen Überlegungen heraus, möchte ich von den anonymen Bestattungen abraten und dazu ermutigen, Wege zu suchen, wie man sie vermeiden kann:

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Leer1. Niemand sollte sich aus Sorge um die Grabpflege anonym beisetzen lassen müssen.

LeerDas Grab eines Christen braucht keinen aufwendigen Schmuck. Das gilt auch für die Blumen. Nicht jeder kann im voraus für seine Ruhezeit der Friedhofsgärtnerei einen Grabpflegeauftrag erteilen. Nicht jeder hat Menschen, die die Pflege seines Grabes übernehmen. Dennoch läßt sich eine anonyme Bestattung vermeiden, wenn man sich auf das Wesentliche beschränkt. Wesentlich für ein Begräbnis in der Hoffnung auf Gott ist allein der Grabstein mit dem Namen des Verstorbenen. Das können wir Christen von den jüdischen Friedhöfen neu lernen. Auf dieses Wesentliche sollte man sich beschränken, wenn die Grabpflege unsicher ist. Ich denke dabei an ein Kolumbarium, bei dem die Urnennische mit einer Grabplatte abgedeckt ist. In diesem Zusammenhang wäre zu bedenken, ob die schlichte Bestattungsart, die auf unseren Friedhöfen bisher den Kriegsopfern vorbehalten ist, nicht in größerem Umfange angeboten werden könnte.

LeerAuf dem Friedhof Bergstraße im Berliner Bezirk Steglitz zum Beispiel gibt es dieses Gelände: eine weiträumige Wiese mit zahlreichen kleinen liegenden Grabsteinen, die die Namen der Verstorbenen tragen. Gärtnerisch wird diese Wiese von der Friedhofsverwaltung betreut. Die Angehörigen brauchen keine Grabpflege zu leisten, haben aber die Möglichkeit eines stillen Gedenkens am Grabe. Auch die Kirchengemeinden könnten eine wichtige Hilfe leisten. Es gibt ja auch in unseren Gemeinden Menschen, die eine anonyme Bestattung erwägen. Da wäre es schön, wenn die Gemeinde sagen könnte: „Du brauchst dich nicht anonym bestatten zu lassen. Wir haben eine gemeindeeigene Grabstätte, in die wir dich aufnehmen können.” Zwei andere Gemeinden aus meinem Kirchenkreis und meine eigene haben bereits auf einem ehemaligen Erbbegräbnis unseres Alten Kirchhofs Schöneberg eine solche gemeindeeigene Grabstätte eingerichtet. Auch dort werden die Urnen unter einer Grasfläche in die Erde versenkt, aber wie bei einem Familiengrab sind die Namen der Verstorbenen alle hintereinander auf einer Tafel aulgeführt.

Leer2. Niemand sollte sich anonym beisetzen lassen, weil er befürchtet, daß sein Grab allein bleibt.

LeerJeder Grabstein kann als Bekenntnis dazu verstanden werden, daß Gott meinen Namen über den Tod hinaus bewahrt. Mit meinem Grabstein setze ich ein Zeichen, daß ich auf meine Auferweckung hoffe. Ein solches Zeichen ist gerade in unserer Zeit von unschätzbarem Wert, und zwar - wie ich meine - unabhängig von der Zahl der Besucher an meinem Grab. Außerdem: Wie will man diese Zahl abschätzen? Ist es richtig, dabei nur an die eigenen Angehörigen und Bekannten zu denken? Mir jedenfalls geht es so, daß ich bei meinen Wegen auf dem Friedhof immer auch die Gräber „fremder” Menschen gedenkend und fürbittend mit im Blick habe. Ein Friedhof lädt jeden zum Verweilen und zur Besinnung ein. Auch unsere Friedhofsgottesdienste, die am Volkstrauertag, am Ewigkeitssonntag und, nach Herrnhuter Brauch auch am Ostermorgen, vielerorts gehalten werden, könnten in diesem Zusammenhang eine neue „alte” Aufgabe wieder wahrnehmen. Ich meine, es ist ein geistlich sinnvoller Brauch, nach dem Gottesdienst auf dem Friedhof eine Prozession zu den Gräbern zu halten. Der Gedanke der Prozession lebt ja zur Zeit auch anderen Orts gerade am Bußtag in unserer Kirche wieder auf. Mit der Prozession zu den Gräbern kann die christliche Gemeinde auf dem Friedhof deutlich machen: Wir wollen kein Grab unbesucht lassen.

Quatember 1987, S. 13-17

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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