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Kommunitäre Spiritualität
von Adolf Diestelkamp

Leer„Wir können uns nicht mehr leisten, uns zu isolieren.” So leitete der Spiritual der „Familiaritas” von Amelungsborn, Prof. Dr. Gerhard Ruhbach/Bethel, den von ihm einberufenen „Grundkurs Spiritualität” kommunitärer Gemeinschaften ein, der Mitte August 1986 in jenem ehrwürdigen Kloster stattfand. Einst als Zisterziensergründung erbaut, nach schwerer Kriegsbeschädigung restauriert, beheimatet es seit 25 Jahren jene der Michaelsbruderschaft verbundene Laienkongregation. Die anwesenden Brüder beherbergten uns, übernahmen die Leitung der Stundengebete und Eucharistiefeiern, ja, dienten selbst zu Tisch. Siebzehn verschiedene Kommunitäten, Brüder- und Schwesternschaften, davon fünfzehn evangelische und zwei römisch-katholische, waren durch siebenundzwanzig Frauen und Männer unterschiedlichen Alters vertreten. Zusammen mit Professor Ruhbach führte uns Mönchspriester Athanasius Polag von der Benediktinerabtei St. Matthias/Trier in die geistliche Arbeit ein mit dem Ziel, „in versöhnter Verschiedenheit” den gemeinsamen Auftrag zu erkennen und im gegenseitigen Erfahrungsaustausch zu bezeugen. Es war eine wahrhaft erfüllte Zeit, und wir spürten etwas von dem heiligen Ort geistgewirkter, geschenkter Begegnung.

LeerInmitten der Horen fügten sich die geistlichen Anleitungen und Gespräche ein, die jeweils zwei Meditationsringe des Morgens und nachmittags bildeten. Vier Themen waren auf den Kurs verteilt: sich der Berufung vergewissern - Leben in der Gemeinschaft - Elemente kommunitärer Spiritualität - Sammlung für und Sendung in die Welt. Eine abendliche Beichtfeier hielt uns zum Schweigen an bis zum Tischabendmahl und festlichen Beisammensein des nächstfolgenden Tages. Schweigend hielten wir vor den Gebeten und Feiern eine Statio von zehn Minuten. Der Weg aus dem Abthaus über den langen, mit Kerzen erhellten Gang des Seitenschiffes zum Hochaltar wurde zum unauslöschlichen Erlebnis einer beständigen Prozession. Der Erfahrungsaustausch nach den geistlichen Anleitungen der Referenten, die zugleich ureigenste Lebenszeugnisse waren, fand in Form einer „Anhörung” statt: Jeder sagt, was ihm wichtig ist, ohne sich auf andere zu beziehen. Geistliche Vorgänge haben ihre Stunde, die unwiederholbar ist. Das gilt vor allem für die Berufung selbst, die im Mittelpunkt unserer Besinnung stand.

LeerWir wollen erste Schritte finden zur „Gemeinsamkeit auf unterschiedlichen Wegen” unseres kommunitären Lebens. Darin waren sich beide Brüder Spirituales einig. „Grundkurs Spiritualität” kann nur bedeuten, unserem gemeinsamen Leben auf den Grund kommen. Darum führte Pater Polag zunächst in die Bedeutung und Praxis des Stundengebets ein. Gott will geheiligt und angesprochen werden, weil wir sein Ebenbild sind und stellvertretend für die wortlose Schöpfung als seine Menschenkinder den Tag, die Geschichte mit Gott in Verbindung bringen. Dabei treten wir ein in die gestiftete und nie einholbare Tradition des ganzen Volkes Gottes von Abraham, ja, den Urzeiten der Menschheit her. Für uns aber ist sie unabdingbar eingebunden in das Christusgeschehn. Es läuft alles auf Christus zu und durch ihn zum Vater. Zeiten und Texte haben von je her den Rhythmus des Stundengebets bestimmt. Psalmen und Hymnen bilden den Grundstock. Und Psalmen wurden nie einfach nachgebetet, sondern aus jeweils neuen Erfahrungen zum gedeuteten Wort des Lebens. Das in der Vesper gebetete Magnifikat macht uns die Symbolgestalt der Jungfrau und Mutter Maria bewußt. Wir spüren alle, daß diese uralten Worte im Hören, Sprechen und Wiederholen ihre eigene Dynamik haben und immer neu erhalten.

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LeerDas erste Thema „Sich der Berufung versichern”, wurde in zwei Schritten entfaltet: „Berufung erfahren” und „Die Berufung erneuern, in der Berufung reifen”. Wie geht es zu, wenn ein Mensch in eine geistliche Gemeinschaft berufen wird? Das beginnt zumeist mit einem personalen Akt, der das Alltägliche durchbricht. Das kann ein Kindheitserlebnis sein oder auch eine Naturerscheinung, welche in großes Staunen versetzt. „Von der Schöpfung her bekommt jeder Mensch eine Offenheit für Gott mit”, sagt Pater Polag, „hier ergänzen sich Humanwissenschaften und Theologie.” Aber es gilt, die Gottesfrage offenzuhalten. Wie geht's weiter? - Gott wendet sich dem Menschen je nach seiner Aufnahmefähigkeit zu, aber er läßt nicht über sich verfügen. Die Engel gehen wieder fort, nachdem sie Abraham begegnet sind: „Sie haben sich nicht ein Jahr lang bei ihm eingemietet!” Das persönliche Ereignis muß nunmehr zum Hören auf das Wort führen: „Herr, was willst du, daß ich tun soll?” Das ist der Schritt von der Religion zur Offenbarung, zur Erkenntnis des logos, des Wortes (Joh. 1.14). An dieser Schwelle ist brüderliche Hilfe nötig, damit es zur „Verdichtung” und Überführung des Glaubens hin zur klaren Entscheidung kommt für ein Leben in der Gemeinschaft, zur Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für das Volk Gottes.

Leer„Berufung erneuern, in der Berufung reifen”, setzte Ruhbach fort, geschieht mitten im Alltag: „Er weckt mich alle Morgen...” „Der Meister ist da”, ruft Martha ihre Schwester Maria. Auch der längst Erweckte bedarf der Selbstermahnung: „Daß ich nicht taub werde gegenüber deinem Ruf!” Ignatius konnte vor seinem Martyrium sagen: „Jetzt fange ich an, Christ zu sein.” Also nicht stehen bleiben, immer neu anfangen! „Wachsen wir bis zur Auferstehung”, sagt Pasternak. „Mensch werden heißt: sich oft wandeln müssen und sich gewandelt haben.” Dabei soll ich immer weniger tun. Die Frucht des Geistes wächst ohne uns, aber nicht schicksalhaft. Die Gabe will zur Aufgabe werden, aber so, „wie die zarten Blumen willig sich entfalten ...” Befruchtung geschieht durch Fremdbestäubung. Es geht um ein mediales, nicht passives (!) Verhalten. Das meint im christlichen Sinne „Gelassenheit”. Das läßt auf den Kairos achten, die Zeit und Stunde, wenn Gott da ist. Stand in den ersten Tagen die Berufung des einzelnen zum Thema an, so dann „Das Leben in der Gemeinschaft”. Ruhbach formulierte: „Gemeinschaft als Auftrag, ihre Chancen und Gefährdungen”. Was ist überhaupt Gemeinschaft? „Individuum und Co.”? - Wieviel Mühe um seine Selbstfindung macht sich der moderne Mensch! Und wieviel Hunger nach Gemeinschaft treibt ihn um! Dabei stellen wir fest: „Je mehr Gesellschaft, desto weniger Gemeinschaft!”

LeerGeistliche Gemeinschaft ist zuerst etwas Gegebenes, etwas Eigenes „zwischen Partnerschaft und Freundschaft”, zwischen diesem und jenem Wahlverhältnis. Hier werde ich zugleich mit vielen Brüdern und Schwestern zusammengeführt, trete in eine Geschichte ein, begründe sie nicht. Diese Gemeinschaft ist zutiefst ein Geschenk, ein Wunder.

LeerDas Leben in einer Kommunität hat zeichenhaften Charakter, ist Vorgriff auf das endzeitliche Ziel. Die Sehnsucht bleibt: Jesus war, wie wir sein sollten und sein werden.

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LeerLeben in der Gemeinschaft setzt die Taufe, setzt Gliedschaft am Leibe Christi voraus. Darum sind „Kommunität und Kirche” -dies war der weitere Themenkreis - unlöslich miteinander verbunden. Pater Polag bekundete: Gemeinschaft ist Kirche, und Gemeinschaft geschieht in der Kirche. Kirche ist schon dort, „wo zwei oder drei versammelt sind” in Jesu Namen. Das bedingt Autorität. Jüngerschaft Jesu ist durch seine Autorität geprägt. So wird das „Hören auf die Oberen”, die im Namen Jesu sprechen, zum Kennzeichen beider, der Kirche und der Kommunitäten. Wie sich beide gegenseitig annehmen, so sollten die einzelnen Gemeinschaften auch untereinander sich annehmen und tolerant miteinander umgehn. Wenn geistliche Gemeinschaften selbst Kirche sind, so gilt auch das andere: Die Kirche bleibt als Orts- oder Gesamtkirche die übergreifende Instanz.

LeerSchon früh hat sich die Gesamtkirche der Gemeinschaften angenommen. Aber ein rein juristisches Verhältnis zu den Gemeinschaften genügt nicht. Die Beziehung zur Kirche wird zur Herausforderung für die Gemeinschaften wie diese für jene. Wichtig ist, konkrete Beziehungen zu den verantwortlichen Personen in der Kirche zu pflegen, zum Bischof, den Presbytern und Priestern. Darum erscheint die neue Prägung im Credo. „Gemeinschaft (statt Gemeinde) der Heiligen” im heutigen Sprachgebrauch gelungener. In der darauffolgenden „Anhörung” wurde deutlich: Ein rechter Bruder und eine rechte Schwester muß die Liebe zur Kirche besitzen. Gerade die Kommunitäten können darstellen, daß Kirche mehr als ein Verwaltungsapparat ist. Alles in allem besagt die Regel der Michaelsbruderschaft: „Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind.”

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LeerIm dritten Themenkreis stellte Ruhbach mehr die geistlichen „Elemente kommunitärer Spiritualität”, Polag die anthropologischen heraus. Das Modewort „Spiritualität” hat ökumenische Bedeutung erlangt. Es stammt aus der Ordenstheologie Frankreichs und fand in allen Kirchen Eingang. Der Weltrat der Kirchen verwendet es seit Nairobi. Eine Denkschrift der EKD greift es auf. Es meint verantwortliches Christsein. Offenbarung und Frömmigkeit werden zur Lebensform. Es geht also um die Gestaltung des Lebens im Sinne der Christusspiritualität. Dabei sind die einzelnen Gemeinschaften modellhaft verschiedene Ausformungen christlicher Lebensgestaltung.

LeerEs geht nicht um die Begeisterung oder das geistvolle Sein eines Menschen, sondern um die Geistesgegenwart und Vergegenwärtigung des Herrn, vor allem beim Mahl und in der Sendung. Fiat mihi - „Es geschehe mir!” - antwortet Maria dem Engel. Gottes Zuwendung will also Gestalt annehmen, auch in ästhetischer Form. „Ästhetik ist eine Kategorie der Ethik.” Wieviel Chancen hat kommunitäre Spiritualität in ihrer je verschiedenen Ausprägung? Sie kann etwas widerspiegeln von der Zuwendung Gottes: Volkskirchlicher Frömmigkeit Ausprägung geben, die Raumlosigkeit der Verkündigung durch geprägte Orte überwinden, die Zeit gliedern in ihren Stundengebeten, Hörfähigkeit vertiefen im kontinuierlichen Lesen der Schrift, die Leibhaftigkeit des Christusleibes zur Darstellung bringen in Lebensbildern und Symbolen, Lebenszucht üben, mit einem Wort: Heiligung leben!

LeerUnter den „anthropologischen Aspekten von Spiritualität” brachte Bruder Athanasius die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit zur Berufung in Ansatz. Denn der Glaube kommt aus dem Hören. Augustin hört die Worte des Kindes: „Nimm und lies!” Solche Betroffenheit eines einzelnen haben die Gemeinschaften, hat die Kirche zu respektieren. Johannes XXIII. verhielt sich ganz anders, als die Kirche wollte. Und welche Impulse gingen von ihm aus! - Gott begegnet dem Menschen so, daß er die Zukunft erfaßt und fähig wird, „Präsenz zu schaffen”, indem er gleichzeitig wird mit dem Leben geisterfüllter Persönlichkeiten (wie der Ordensstifter), um es für sein heutiges geistliches Leben erfahrbar zu machen.

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LeerZum letzten Thema „Sammlung und Sendung in und für die Welt” wurde festgestellt: Der Organismus der Kirche lebt von der Zelle. Die Lauterkeit der Beziehungen in den Kommunitäten bleibt nicht verborgen! Aber wo Eucharistie gefeiert wird, geschieht zugleich Sendung. Und das heißt auch: Wir sollten einstehen für christliche Lebenswerte, Einfluß nehmen auf öffentliche Meinung, die Gesellschaft durch kommunitäres Leben provozieren (etwa im Blick auf die „neue Armut”) und offen sein für suchende Menschen. Gerhard Ruhbach faßte im Schlußwort zusammen: Wichtig bleibt die Bemühung um die eigene Gemeinschaft, um nach außen wirken zu können.

LeerAls sehr hilfreich habe ich in diesem „Grundkurs” die „Anhörkreise” empfunden: Es wurde nichts zerredet! Die außergewöhnliche Gemeinschaft, die wir in Amelungsborn erlebten, ist wohl durch einen schriftlichen Bericht kaum mitteilbar, ebensowenig, wie man die einzelnen Gespräche hätte belauschen können und belauschen dürfen, die zwischen den Teilnehmern hin und her gingen im ganzen Klostergelände. Nur eine Stimme möchte ich noch zu Gehör bringen, die einen Eindruck von diesen Gesprächen vermitteln kann: Hervorgehoben wurde der große Ernst der Familiaritasbrüder in den Stundengebeten, die gute gegenseitige Ergänzung der leitenden Brüder. Daß Probleme, ähnlich denen, die wir in der Michaelsbruderschaft kennen, auch anderswo bestehen und gemeistert werden können, machte den anwesenden Brüdern aus Hessen, aus dem Elsaß und aus Hannover Mut, auf dem begonnenen eigenen Wege weiter zu gehen.

Quatember 1987, S. 40-43

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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