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Die Begegnung der Weltreligionen im Denken Paul Tillichs
von Gérard Siegwalt

LeerDer Dialog mit der Kultur ist konstitutiv für das Denken von Paul Tillich. Im Jahre 1919 hat er in seinem Vortrag „Über die Idee einer Theologie der Kultur” den Entwurf einer Kulturtheologie ausdrücklich formuliert. Der Dialog mit den Religionen gehört in gleichem Maß zu seinem fundamentalen Projekt und kann vom eben erwähnten Entwurf nicht getrennt werden. Er ist sozusagen dessen andere Seite. Die Verbindung zwischen der Kultur und den Religionen wird durch die Religion hergestellt, die Tillich als „das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht”, definiert. Dieses Anliegen ist in der Kultur und in den Religionen gleicherweise vorhanden.

LeerIn bezug auf die Kultur stellt Tillich zwei Behauptungen auf: Einerseits ist die Religion die Substanz der Kultur, das heißt, diese wird durch das beseelt, was uns unbedingt angeht; andererseits ist die Kultur die Form der Religion, das heißt, was uns unbedingt angeht, drückt sich in kultureller Weise aus (Paul Tillich: Gesammelte Werke [fortan: GW.]. Stuttgart, 1959 ff., Bd. IX; Die religiöse Substanz der Kultur).

LeerDiese auf die Kultur bezogene Religion meint Tillich ohne Zweifel, wenn er sagt, sie könne autonom sein oder „ohne Kirche”, „ohne Partikularreligion” auskommen. Sie ist dann, was uns unbedingt angeht, ohne konkretes religiöses Substrat, wie dasselbe in den Religionen gegeben ist. Tillich sieht nun allerdings in der Entfernung, die zwischen der Religion und den Partikularreligionen eintreten kann, eine besonders große Gefahr. Dieser Abstand kann durch den Synkretismus zwischen den Religionen verursacht sein, der notwendigerweise durch einen abstrakten Religionsbegriff inspiriert ist. Hierzu sagt Tillich: „Wo die religiöse Erfahrung sich nicht konkret in spezifischen Symbolen, Frömmigkeitsübungen und gemeinschaftlicher Teilnahme daran ausdrückt, da ist, auf die Länge gesehen, das Resultat davon der Verlust der religiösen Substanz.” (D. Mackenzie Brown: Ultimate concern. New York, 1965 - Dialoge Tillichs mit Studenten. Hier aus dem 7. Dialog)

LeerDer erwähnte Abstand kann auch vom Säkularismus herrühren, der immer das Korrelat des Synkretismus ist: Beide bedingen einander gegenseitig. Für den Säkularismus gibt es nichts mehr, was uns unbedingt angeht. So muß man ihn sogar definieren. Aber was uns unbedingt angeht, stirbt niemals, nicht einmal im Säkularismus; es nimmt einfach eine dämonische Gestalt an. Der Säkularismus ist nämlich der Nährboden, aus dem die von Tillich so genannten „Quasi-Religionen” stammen, worunter er die verschiedenen totalitären Weltanschauungen versteht. Sie sind das Zeichen dafür, daß die Religion eine unverlierbare, fundamentale Dimension alles menschlichen Tuns und Seins ist; dieses umfaßt immer die Dimension von dem, was uns unbedingt angeht. Aber in den Quasi-Religionen wird das, was uns unbedingt angeht, zur heteronomen Größe oder zum Idol; das heißt, es verabsolutiert eine relative Wirklichkeit und macht daraus die endgültige, letzte Wirklichkeit.

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LeerAm Schicksal der autonomen Religion innerhalb der Kultur wird die unauflösliche Verbindung zwischen der Religion als dem, was uns in Wahrheit unbedingt angeht, und den Religionen sichtbar. So gibt es für Tillich zwei Religionsbegriffe: „Wenn man die Religion als das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, versteht - es ist dies meine Definition des Glaubens -, dann müssen wir diesen universalen und weiten Religionsbegriff vom enger gefaßten Begriff unterscheiden: Derselbe setzt die Existenz einer organisierten Gruppe mit ihrem Klerus, ihren Schriften und Dogmen voraus; hier wird eine Anzahl von Symbolen von dem, was uns unbedingt angeht, anerkannt und gepflegt, sowohl im Leben als auch im Denken. Es ist das die Religion im engen Sinn des Wortes, während die Religion verstanden als ‚das, was uns unbedingt angeht’ die Religion im weiten Sinn ist.” (Ultimate concern, 1. Dialog)

LeerDie Religion als das, was uns unbedingt angeht, ist das Kriterium, nach dem die Religionen beurteilt werden. Absolut sind also weder die Kultur noch die Religionen, absolut ist nur, was uns unbedingt angeht. Das findet seinen Ausdruck in kultureller Weise, aber es findet seine Nahrung in religiöser Weise in den Religionen oder in der und jener Partikularreligion. Es ist klar, daß damit nicht alles gesagt ist. Wie beurteilt Tillich die Religionen in ihrem Verhältnis zueinander? Sind sie alle gleichwertig? Sein christlicher Glaube schließt eine solche Antwort aus. Aber offenbar schließt der christliche Glaube für Tillich die Religionen nicht aus, wenigstens nicht in absoluter Weise. Er schließt sie vielmehr in gewisser Weise ein. Wir werden daran im II. Teil erinnern. Im I. Teil geht es darum zu zeigen, daß Tillich von Anfang an am Dialog mit den Religionen interessiert ist, so früh wie am Dialog mit der Kultur, und daß die beiden Dialoge von Anfang an Seite an Seite geführt werden.

I

LeerDie Behauptung, Tillich sei von Anfang an, gleichzeitig mit dem Dialog mit der Kultur, am Dialog mit den Religionen interessiert, scheint dem zu widersprechen, was er 1962 in der Einleitung seiner Schrift über „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen” sagte. Er redet dort von seinem „wachsenden Interesse - als Theologe wie als Religionsphilosoph - an der Begegnung der heutigen Hochreligionen mit anderen Hochreligionen und mit den verschiedenen Ausprägungen säkularer Quasi-Religionen”. (GW. V. S. 51)

LeerWir reden hier nicht von den Quasi-Religionen, die ein besonderes Studium erfordern würden, und beschränken uns auf die „Religionen”. „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen” in bezug auf die nicht-christlichen Religionen, speziell auf den Buddhismus, ist die Frucht eines Aufenthaltes in Japan, den Tillich im Alter von 76 Jahren erlebte. Das wachsende Interesse an den Religionen beruht auf der Begegnung mit dem japanischen Buddhismus.

LeerEs sei zuerst angemerkt, daß Tillich, wenn er in dem genannten Buch von der lebendigen Religion spricht, nur beim Buddhismus längere Zeit verweilt, während er das Judentum, den Islam und die Religion des Zoroaster nur sehr kurz erwähnt.

LeerIm übrigen interessiert sich Tillich in der Begegnung zwischen dem Christentum und den anderen Religionen besonders dafür, „Leitbegriffe zu finden, die auf Religionstypen, ihre allgemeinen Merkmale und ihre Stellung zueinander hinweisen”. Bei diesen Bemühungen handelt es sich aber um etwas anderes als um die Ausarbeitung einer einfach beschreibenden Typologie. Tillich redet von „dynamischer Typologie”, für die im Gegensatz zu Hegel der Buddhismus (und man kann diese Behauptung auf andere nicht-christliche Religionen ausdehnen) nicht einfach eine erste Etappe einer religiösen Entwicklung ist, die von der späteren Geschichte überholt wurde, sondern eine lebendige Wirklichkeit darstellt, in der gewisse konstitutive Elemente jeder wahren Religion vorherrschen, die in Wahrheit im Wesentlichen polar, das heißt: auf andere Elemente bezogen sind, während andere Elemente in anderen Religionen vorherrschen.

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LeerSo unterscheidet Tillich „die primitiven, sakramentalen Religionen, die mystischen Religionen indischen Ursprungs und die aus Israel stammenden ethischen Religionen”, und er präzisiert: „Während einzelne Religionen, genauso wie einzelne Kulturen wachsen und absterben, gehören die Kräfte, die sie hervorbrachten, und die Elemente, die ihren Typ bestimmen, zum Wesen des Heiligen und damit zum Wesen des Menschen und folglich zum Wesen des Universums und zu der offenbarungsmäßigen Selbstmitteilung des Göttlichen” (GW. V. S. 77 f., 64, 79). Infolgedessen setzt die Methode der dynamischen Typologie voraus, „daß jeder Dialog zwischen den Religionen von einem stillen Dialog im Inneren der einzelnen Teilnehmer begleitet wird”, weil es in jeder von ihnen um eine „offenbarungsmäßige Selbstmitteilung des Göttlichen” geht.

LeerWir stellen fest, daß diese Behauptung dem von Tillich erwähnten Interesse für die Religion entspricht. Die steigende Aufmerksamkeit, die er für die Religionen aufbringt, zielt auf die Religion in den Religionen ab. Sein Religionsbegriff bereichert sich im Kontakt mit den Religionen, verändert sich aber nicht in seinem Wesen. Man kann z. B. seine Religionsphilosophie von 1925 mit „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen” vergleichen, um dies zu merken. Die Bemerkung über sein steigendes Interesse an den lebendigen Religionen gilt auf der praktischen Ebene des Dialogs mit ihnen; aber die Grundlagen und die subjektiven und objektiven Bedingungen, die den Dialog ermöglichen, bestehen schon viel früher als die effektive, konkrete Praxis anläßlich der Begegnung mit dem Buddhismus.

LeerDiese Aussage muß noch präzisiert werden. Tillich ist von Anfang an ein Denker des Dialogs gewesen. Was er als „Methode der Korrelation” formuliert hat, spiegelt die Praxis seines Lebens wider. Der Dialog hat lange Zeit hindurch in Deutschland und in Amerika mit verschiedenen wichtigen Ausdrucksweisen der Kultur stattgefunden, nicht aber mit den konkreten Formen der nicht-christlichen Religionen, außer dem Judentum, und zwar sowohl als Religion des Alten Testamentes - die Konfrontierung mit der prophetischen und der legalistischen Religion, die beide im Alten Testament vorkommen, begegnet uns oft bei Tillich - als auch als gegenwärtig bestehende Religion, im letzteren Fall nur gelegentlich. Es wäre falsch, dieser Tatsache eine wesentliche Ursache zu unterstellen; es ist ein rein zufälliges Geschehen, das mit dem Fehlen einer effektiven Begegnung Tillichs mit den nicht-christlichen Religionen zusammenhängt. Man kann in diesem Zusammenhang an einen autobiographischen Text Tillichs erinnern, wo er sagt, er sei in seinem persönlichen Denken immer ebenso stark, wenn nicht stärker, durch persönliche Begegnungen als durch die Lektüre von Büchern angeregt und befruchtet worden. Die Begegnung mit dem Buddhismus am Ende seines Lebens bestätigt diese Aussage, die übrigens die Erklärung dafür gibt, warum andere lebendige Religionen, wie z. B. die afrikanischen Religionen, in Tillichs Denken kaum vorkommen.

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LeerDie folgenden Bemerkungen wollen durch die Rückerinnerungen an einige mit dem Werden Tillichs zusammenhängende Tatsachen das Alter und die Wurzeln seines Interesses an den Religionen aufzeigen (ebenso wie seines Interesses an der Kultur im weiten Sinn) und zugleich seine Art, die Religionen im angegebenen Sinn anzugehen, beleuchten: es handelt sich um das Interesse an der Religion (schlechthin).

1.  In seinen „Autobiographischen Betrachtungen” redet Tillich von der Erfahrung des Heiligen, die er sehr früh in den Tagen seiner Kindheit gemacht hat und die die Grundlage seines ganzen religiösen und theologischen Werkes ist. „Ich ging von den Erlebnissen des Heiligen aus und kam von da zur Gottesidee, und nicht umgekehrt (GW. XII. S. 60). Die Erfahrung des Heiligen steht obenan, und sie ist „Erfahrung des Heiligen als jetzt und hier gegenwärtig, in diesem Gegenstand, in dieser Person, in diesem Ereignis”. Tillich sieht in dieser Erfahrung die Grundlage aller Religion, und er nennt diese Grundlage „Sakrament”; so offenbart sich das göttliche Mysterium im Endlichen. „Solange es Religion gibt, muß auch ihre sakramentale Grundlage bestehen bleiben.” Diese ist vorlogisch und geht auch der Ethik voraus: Alles religiöse und ethische Denken stammt aus ihr, solange es lebendig ist. Die ethischen und die logischen Elemente der Religion leitet Tillich deshalb „aus der Erfahrung der Gegenwart des Göttlichen ab und nicht umgekehrt”. In diesem Punkt weiß sich Tillich in der Nähe von R. Otto und F. Schleiermacher. Die sakramentale Grundlage kann sich auch in Mystik entfalten, was die indischen Religionen kennzeichnet. Aber es gibt keine Antinomie zwischen der Mystik und der ethischen Orientierung: Diese spiegeln vielmehr die „zwei Richtungen”, nach welchen „das Heilige erfahren wird”, es sei „als Seiendes oder als Sein-sollendes”. ((GW. V. S. 61, 79)

LeerEs besieht also eine Polarität zwischen den Religionen Indiens und den aus Israel stimmenden Religionen, aber die zwei Elemente sind in der sakramentalen Grundlage vorhanden, die die einen und die anderen bestimmt. Diese Grundlage charakterisiert Tillich auch noch als ästhetisch; damit will er, dem etymologischen Sinn dieses Wortes entsprechend, einfach sagen, daß sie gefühlt, erspürt, erfahren und nicht durch eine intellektuelle Anstrengung gefolgert wird.

LeerIn der genannten Schrift „Autobiographische Betrachtungen” setzt Tillich diesen frühentwickelten Sinn für das Heilige in Beziehung zu seinem „lutherischen Erbe”, für welches „finitum capax infiniti” die Formel ist: Es ist der Sinn für das „in jedem Endlichen gegenwärtige Unendliche”. Hier besteht ein Gegensatz zwischen dem Luthertum und dem Calvinismus, für den das Endliche das Unendliche nicht fassen kann. Das ist die Erklärung für das Extracalvinisticum in der Christologie: In Christus bleiben die beiden Naturen, die göttliche und die menschliche, voneinander getrennt. Dieser Gegensatz wird erhellt durch das, was Tillich über seine Affinität gegenüber der Natur sagt, die ihm den Ruf eines „Romantikers” eingetragen hat. Die Erfahrung des Heiligen ist gewiß nicht auf die Natur beschränkt. Tillich redet ausdrücklich von seiner „besonderen Beziehung zur Geschichte”. Was ihn dabei interessiert, ist die Geschichte „nicht (als) Gegenstand der Wissenschaft, sondern (als) lebendige Wirklichkeit, in der das Vergangene am Gegenwärtigen teilhat”; er redet von seiner Kindheit, die er in einem Pfarrhaus zwischen einer lutherischen Konfessionsschule und der schönen gotischen Kirche zugebracht hat, an der sein Vater Pfarrer war.

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LeerDie Erfahrung des Heiligen läßt sich also nicht auf die sakrale Dimension der Natur reduzieren; es gibt auch eine sakrale Dimension der Geschichte: Das Göttliche oder Unendliche ist in ihr gegenwärtig. Aber was Tillich über die Natur sagt, ist besonders für sein „vorlogisches” Denken bezeichnend und gilt übrigens nicht nur von der Natur, sondern kann auf alles Wirkliche, also auch auf das Historische ausgedehnt werden. Er qualifiziert diese Haltung als „ästhetisch-betrachtend” und fügt hinzu, sie sei eine „Haltung, die sich von der wissenschaftlich-analytischen oder technisch-beherrschenden unterscheidet” (GW. XII. S. 59, 60).

LeerOhne diese Zusammenstellung pressen zu müssen, kann man immerhin eine Parallele ziehen zwischen dieser Aussage Tillichs über sein lutherisches Erbe und über diese ästhetische und meditative Haltung einerseits und seiner Aussage über den calvinistischen Zweig der Reformation und der analytischen und wissenschaftlichen Haltung andererseits. Die letztgenannte Haltung erinnert an das, was Tillich in seiner „Systematischen Theologie” die „formal-technische Vernunft” nennt, während die erstgenannte Haltung der „ontologischen Vernunft” oder der „Tiefe der Vernunft” entspricht. Es handelt sich auch hier um eine Polarität, wie sie zwischen den Religionen Indiens und den Religionen Israels besteht, die aber diesmal innerhalb der westlichen Sphäre existiert und sich in den beiden Zweigen der Reformation widerspiegelt, wie sie in ihrer eigenen Typizität verstanden werden Trotz seiner Kritik an Calvin und seiner Abneigung gegen Ritschl erkennt sich Tillich in beiden Richtungen wieder, und zwar in dem, was er das protestantische Prinzip nennt, ebenso wie im theonomen Denken, das den Katholizismus kennzeichnet.

LeerDaß man die Erfahrung des Heiligen auf die ganze Geschichte ausdehnen muß und nicht auf die Natur beschränken darf, zeigt sich auch daran, daß Tillich ein Mann der Jugendbewegung ist. Diese zu Beginn unseres Jahrhunderts entstandene Bewegung innerhalb der deutschen Jugend schöpfte in der Geschichte, in Folklore und in der Erfahrung des Zusammenlebens, auf gemeinsamen Fahrten und Lagern in Berührung mit der Natur die Inspiration eines echten und verantwortlichen Lebens. Das war unter allen diesen unentwirrbar miteinander verflochtenen Formen die Erfahrung des Heiligen. Aber dieses ist nicht nur das Göttliche; es ist auch das Dämonische. Das Heilige ist zutiefst zweideutig. Da liegt die Ursache von Tillichs „Christentum” und seiner Abgrenzung gegenüber jedem Synkretismus. Dieser bleibt in der Zweideutigkeit des Heiligen kleben und enthüllt sich dann in letzter Instanz als dämonisch. Denn wo die Zweideutigkeit verkannt wird, wird das Göttliche durch das mit ihm Vermischte besiegt. Das „Christentum” Tillichs hält daran fest, daß uneingeschränkt zugegeben wird: Das Heilige muß erlöst werden; es hat seine Norm in Christus.

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LeerDurch diese zugleich offene und kritische Haltung gegenüber dem so verstandenen Heiligen schwenkt Tillich auf eine Linie des Fühlens und Denkens ein, die man als theosophisch und platonisch qualifizieren kann. Ihre Vertreter sind Origenes und Nikolaus von Cusa, sie fehlt nicht bei Luther und gelangt über J. Boehme und G. Hamann zu einem besonders bemerkenswerten Ausdruck bei Fr. Baader, bei F. W. Schelling und auch im schwäbischen Pietismus. Man versteht, welch ein Abstand Tillich von Karl Barth trennt, der in der aufgezeigten Linie die ominöse Natürliche Theologie wittern und verdammen würde; man versteht auch, daß Tillich selbst der Natürlichen Theologie kritisch gegenüberstand, die nur auf den ersten Pol der Korrelationsmethode bezogen werden kann, auf den Pol der Situation, nicht auf den Pol der Botschaft. Man kann sagen, daß Tillich, der seine Doktoratsthesen über Schelling geschrieben hat, die natürliche Philosophie (und ebenso die Geschichtsphilosophie) anerkennt, wenn sie sich nicht selbst zur Theologie der besonderen Offenbarung macht. Es gibt gewiß einen Offenbarungsaspekt in der Natur und in der Geschichte, aber seine Norm ist Christus.

LeerDer Christus des Neuen Testaments ist Schöpfer und Erlöser. Die Selbstbezeugung des Göttlichen in der Natur und in der Geschichte ist also von Anfang an die des Christus, und sie begründet den „christlichen Universalismus, der Offenbarungserfahrungen auch in nicht-christlichen Religionen anerkennt” (GW. V. S. 88). Der christliche Universalismus ist kein Synkretismus, denn dieser Universalismus ist christlich, auf Christus bezogen.

2.  In den „Autobiographischen Betrachtungen” begründet Tillich die Tatsache, daß er - mit R. Otto - dazu geführt wurde, „an Bewegungen für eine liturgische Erneuerung teilzunehmen und eine neue Würdigung der christlichen und der nicht-christlichen Mystik anzustreben” (GW. XII. S. 61), auf seinen Sinn für das Heilige, das sich, mit Mircea Eliade zu reden, „auf alle denkbaren Weisen und überall in der profanen Welt” manifestieren kann. Während K. Barth und E. Brunner Gotteswort und Menschenwort unterschieden und die Mystik im Namen des Wortes heruntermachten, war eine neue Bewegung im Entstehen, die zugleich aus der Jugendbewegung und aus dem durch den Ersten Weltkrieg verursachten Zusammenbruch des Kulturprotestantismus hervorging. Diese Bewegung hatte zum Ziel eine evangelische Katholizität und fand ihren ersten Ausdruck im Jahr 1926 im „Berneuchener Buch”. Dieses war von den späteren Begründern der aus der Berneuchener Bewegung hervorgegangenen Evangelischen Michaelsbruderschaft (1931) verfaßt worden: Ludwig Heitmann, K. B. Ritter, W. Stählin. Paul Tillich, der es entscheidend inspiriert hatte, hatte es auch mitunterzeichnet. Man findet in dieser sowohl im Denken wie im Ausdruck bemerkenswerten Schrift das Wesentliche der Tillichschen Themen wieder, die sich also in einer Gemeinschaft des Denkens, des Gebetes und des Willens zum Dienst als lebendig erwiesen.

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LeerDas Ergebnis dieses Willens zum Dienst war für Tillich zum selben Zeitpunkt sein Engagement in der Bewegung des religiösen Sozialismus; dieser findet seine grundlegende Inspiration in den Äußerungen des Berneuchener Buchs (in seinem Kapitel „Evangelisches Werk” mit dem dreifachen Anliegen: Heiligung der Geschlechtlichkeit, Heiligung des Volkes, Heiligung der Arbeit). Das Berneuchener Buch redet auch von der „evangelischen Erkenntnis” und der „evangelischen Form”; erstere ist durch die Theonomie gekennzeichnet, letztere durch den gemeindeaufbauenden Gottesdienst. Man findet in dieser dreifachen durch das Berneuchener Buch geforderten Erneuerung der Kirche - evangelisches Denken, evangelische Form, evangelisches Werk - den Keim der für die Evangelische Michelsbruderschaft bezeichnenden Trilogie: Leiturgia, Martyria, Diakonia. Die gleiche Trilogie begegnet bei Tillich selbst, wenn er von der Notwendigkeit einer Vertiefung unserer eigenen Religion durch Gebet, Denken und Wirken spricht. (GW. V. S. 98)

LeerDas ist die geistliche Umwelt Tillichs in den zwanziger Jahren, die durch ihn geprägt wird und die ihn prägt. Es geht in diesem Milieu nicht einfach um noch so ausgezeichnete Ideen, sondern um Verwirklichung. Im Denken, in der Form und im Werk soll die Wirklichkeit Christi sich verwirklichen. Die Leiturgia nimmt hier den ersten Platz ein, entsprechend den Aussagen Tillichs über den sakramentalen Ursprung jeder Religion. Sie begründet ein Denken und eine Verpflichtung. Wir haben auf Tillichs besonderes Engagement in jenen Jahren hingewiesen: Es ist der als „religiös” qualifizierte Sozialismus. Diese Präzisierung ist für Tillich und für das Verständnis dessen, worum es sich hier handelt, wesentlich. Das auf die Erfahrung des im Gottesdienst gefeierten Mysteriums Gottes gegründete Denken ist das systematische Denken; das ist die Theonomie, für die alle Dinge ihren Grund in Gott haben und durch ihn erlöst werden müssen.

LeerTillichs Hauptschrift in diesen Jahren ist „Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden” (1923, GW. I). Hier nimmt er im Namen der Theonomie Stellung gegen das Auseinanderklaffen der verschiedenen Wissenschaften und Wissenschaftsgruppen und öffnet sie auf ihre wesentliche theologische Dimension hin, dank derer sie „systematisch” und dem theologischen Denken verbunden werden. Der ganze Tillich ist in diesen zwanziger Jahren gegenwärtig, und eine gerade Linie führt von da aus zu seiner „Systematischen Theologie”. Ohne diese Erwägungen wird man Tillich nie in seiner ganzen Fülle verstehen; und man wird besonders nicht verstehen, daß er etwas anderes ist als ein rein akademischer Theologe. Er ist ein Denker, der in der Liturgie lebt und der sie so lebt, daß die in ihr gefeierte sakramentale Gegenwart Christi das Universum in seiner Gesamtheit erleuchtet und die menschlichen, auch die sozialen und politischen Situationen erneuert. Es darf hier an den schon zitierten Satz des älteren Tillich erinnert werden: „Wo die religiöse Erfahrung sich nicht konkret in spezifischen Symbolen, Frömmigkeitsübungen und gemeinschaftlicher Teilnahme daran ausdrückt, da ist, auf die Länge gesehen, das Resultat davon der Verlust der religiösen Substanz.” Die Religion braucht Religion, die religiöse Substanz braucht konkrete Frömmigkeit, „praxis pietatis”.

LeerObwohl Tillich die Gefahr der Abgötterei nicht verkennt, die der Religion droht, und obwohl er abgöttische (heteronome) Formen von Religion feststellt, setzt er niemals (wie Karl Barth) die Religion dem Glauben entgegen. Für Tillich gibt es keinen Glauben ohne Religion, d. h. ohne praxis pietatis, ohne Religiosität. Weder in den nicht-christlichen Religionen noch im Christentum kann die Religiosität von einem solchen Ansatz her rein negativ bewertet werden, so wenig wie der Inhalt der nicht-christlichen Religionen.

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3.  Wir haben von Tillichs besonderer Sympathie für die Geschichte gesprochen, die er als „lebendige Wirklichkeit” versteht, in der „das Vergangene am Gegenwärtigen teilhat”. Was versteht Tillich hier unter Geschichte? Es geht nicht darum, diese Frage als solche zu behandeln, sondern sie dank einer Anspielung auf die Tiefenpsychologie in den „Autobiographischen Betrachtungen” zu erhellen; neben anderen Themen interessierte sich Tillich in den zwanziger Jahren auch hierfür. Bekanntlich hat Tillich in seinen Schriften immer wieder den Namen Sigmund Freuds zitiert, und man kann die Begriffe der Autonomie, der Heteronomie, der Entfremdung und des damit verbundenen Dämonischen bestimmt im Licht Freuds interpretieren, selbst wenn sie über die psychologische Ebene hinausgreifen und unabhängig von Freud ausgearbeitet worden sind. Aber für Tillich gibt es nicht nur die individuelle Geschichte. Es gibt einen universalen Grund, eine kollektive Seele. Es sei an den früher schon zitierten Satz erinnert: Die Kräfte, die die einzelnen Religionen wie auch die einzelnen Kulturen hervorbrachten, und auch die Elemente, die ihren Typ bestimmen, gehören zum Wesen der Religion und damit zum Wesen des Menschen und folglich zum Wesen des Universums und zu der offenbarungsmäßigen Selbstmitteilung des Göttlichen. Wie sollte man dies nicht im Licht C. G. Jungs und durch dessen Aussagen über die Archetypen der Seele erhellen?

LeerGewiß hängt Tillich ebensowenig von Jung ab als von Freud. Man kann eher sagen: Tillich hat sich der beiden global bemächtigt, mit einer ohne Zweifel tieferen existentiellen Affinität für Freud und einer ohne Zweifel tieferen philosophischen und theologischen Affinität für Jung. Das liegt daran, daß Tillich sozusagen auf die gleiche Wirklichkeit eingestellt ist. Wir haben die Freudsche Wirklichkeit erwähnt; man kann sagen, daß Jungs Wirklichkeit die des Symbols und des Mythos ist, den Tillich nicht auf seine psychologische Tragweite beschränkt, sondern den er in seiner religiösen und theologischen Bedeutung meint. Schon in seiner These über „Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung” (1912) redet Tillich von der Mythologie, die er in Beziehung zur Offenbarung setzt. Schelling hat ihn in die Welt des Mythos und des Symbols eingeführt, von der man sagen kann, sie entspreche der ästhetischen und meditativen Haltung, von der Tillich in seinen „Autobiographischen Betrachtungen” spricht. Dank Schelling wird also Tillich eine auch sehr früh vorhandene Sensibilität entwickeln, die von der Tiefenpsychologie Jungs erhellt werden wird. Der Geschichtsbegriff Tillichs senkt seine Wurzeln in dies alles hinein, und man muß gewiß den III. Band der „Systematischen Theologie”, der besonders dem Thema der Geschichte gewidmet ist, von da aus lesen.

LeerIn bezug auf die Religionen bedeutet das soeben Gesagte, daß Tillich weniger Sinn für ihre endgültigen Ausdrucksformen hat, daß er aber durch sie hindurch die Kräfte, die sie ins Leben rufen, und ihre konstitutiven Bestandteile spürt, das heißt, die Natur des Heiligen selbst. Dieses findet seinen Ausdruck im Mythos und ist symbolisch. Es verbindet den Menschen und das Universum und die Selbstoffenbarung des Göttlichen. Gewiß kennt Tillich nicht nur diese Offenbarung, die wir mythisch nennen können; er kennt die personalistische Offenbarung, die nicht aus dem Gemeingut der Geschichte hervorgeht, die aber in die Geschichte eingeht: die Offenbarung Gottes an Israel und in Jesus, dem Christus. Ebenso verschreibt er sich nicht nur der „romantischen Strömung”, aus der auch der mythische Geschichtsbegriff stammt, sondern auch der in der ethischen Religion Israels begründeten „revolutionären Strömung”, die ihn im besonderen zum religiösen Sozialismus führt. „Es ist”, sagt er, „das Grundproblem meines Denkens und Lebens, das Gleichgewicht zwischen diesen Gegensätzen herzustellen.” (GW. XII. S. 63)

LeerIn der Berneuchener Bewegung, wie sie im Berneuchener Buch zum Ausdruck kommt, fließen die beiden Strömungen zusammen, ebenso wie die zwei Dimensionen der Offenbarung. Sie können gewiß nie in einer vollkommenen Synthese gegeben werden, die in der Geschichte nicht existiert, sondern nur in einer fruchtbaren Spannung. Dies ist auch die Spannung zwischen dem Christentum und den Religionen. Das ist das Thema unseres zweiten Teils.


II

LeerEs geht hier darum, den Einstieg Tillichs in die Religionen zu präzisieren. Wir betrachten damit die Dinge in einer besonderen und doch fundamentalen Weise, einer Weise, die kein völliges Ausschöpfen erstrebt und die doch die Frage in ihren wesentlichen Aspekten erhellen will. Das Ausschöpfen ist unmöglich, besonders bei einem systematischen Denker wie Tillich, für den immer alles in allem enthalten ist. Das rechtfertigt und erklärt unser Vorgehen. Man müßte indessen von der gesamten Religionsphilosophie Tillichs reden, denn das Phänomen „Religion” findet sich in den Religionen wieder. Man müßte zeigen (und das wäre die normale Fortsetzung des im I. Teil Gesagten), daß Tillich wegen seiner Religionsphilosophie den Religionen so wohlwollend begegnet, die verschiedene, aber einander fundamental ergänzende Typen darstellen - man erinnere sich an unsere Ausführungen über die dynamische Typologie der Religionen! Auf der gleichen Linie müßte man ausführlicher über die religiöse Sprache und also über den Mythos und das Symbol und ihre notwendige „Aufhebung” reden. (Sie „aufheben” heißt hier: sie auf der Basis ihrer Bewahrung transzendieren.)

LeerDas alles wäre wichtig und notwendig, und das alles wird in dem zutage treten, was wir noch zu sagen haben. Aber das alles ist in letzter Instanz nicht der Einstieg, der Punkt, von dem aus Tillich die Dinge angeht. Es handelt sich für uns hier darum, sozusagen hinter die Religionsphilosophie, hinter die Typologie der Religionen, hinter das Symboldenken Tillichs zurückzugehen, um zu zeigen, was sie hält und unterspannt und was, wenigstens teilweise, Tillich nicht selber deutlich ausgeführt hat.

LeerEs geht uns darum, in einer angemessenen, der patristischen Tradition entnommenen Sprache die theologischen Voraussetzungen der Religionsphilosophie Tillichs zum Ausdruck zu bringen, wie sie in seiner Typologie und seiner Philosophie des Symbols deutlich werden. Denn die Theologie setzt nicht nur eine Philosophie voraus; die Philosophie setzt auch eine Theologie voraus. Wenn wir Tillichs Denken auf die patristische Tradition beziehen, so deshalb, weil diese uns am besten geeignet erscheint, dieses Denken zu charakterisieren. Die evangelische Katholizität, die ihren Ausdruck im Berneuchener Buch gefunden hat, schöpft ihre Inspiration über die Reformation und das theonome Mittelalter hinweg bei den Kirchenvätern (besonders den griechischen Vätern) der ersten Jahrhunderte. Diese Tradition wird hier wieder lebendig, und sie ist durch die lateinische Katholizität und die (im besonderen lutherische) Reformation noch bereichert worden. Tillich öffnet beständig Rom, Wittenberg, auch Genf, auf einen bestimmten christlichen Orient (und Okzident) der ersten Jahrhunderte hin.

LeerDiese Zeitperiode wird wie die ganze Geschichte als eine „lebendige Wirklichkeit” erfaßt, „in der das Vergangene am Gegenwärtigen teilhat”. Man wird uns vielleicht entgegenhalten, daß der Bezug auf die Kirchenväter im Werk Tillichs offenkundig nicht so entscheidend ist. Darauf antworten wir: Man beurteile das Begründetsein der gemachten Behauptung an der Konsistenz des zu Sagenden. Wir antworten auch so: Das, worauf man in seiner eigenen Tiefe aufgepfropft ist, steht nicht unter den Gesetzen des Geschichtsschreibung, sondern der Partizipation, und das ist der Mutterboden des Denkens.

LeerWir charakterisieren die theologischen Voraussetzungen Tillichs in seiner Begegnung der Religionen einerseits als sakramentale Theologie, andererseits als apophatische Theologie, und wir werden abschließend sagen, daß die so gekennzeichnete Theologie Tillichs eine Theologie der recapitulatio ist.

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1.  Die erste Verankerung von Tillichs Denken, die uns erlaubt, seinen Einstieg in die Religionen zu präzisieren, ist seine  s a k r a m e n t a l e  T h e o l o g i e . Diese Behauptung kann vielleicht überraschen, denn Tillich redet nur gelegentlich von den Sakramenten (bes. in „Natur und Sakrament”, GW. VII). Dies bestätigt jedoch unsere Behauptung, denn es sind nicht so sehr  d i e  Sakramente als vielmehr  d a s  Sakrament, das Tillichs Denken von Grund auf bestimmt; man kann auch sagen: Es ist das Sakramentale (s. dazu Ulrich Reetz: Das Sakramentale in der Theologie Paul Tillichs. Stuttgart, 1974). Wir reden nicht von der Theologie der Sakramente bei Tillich, sondern wir bezeichnen seine Theologie als sakramental. Hier wird Tillichs Luthertum sichtbar; für Luther gibt es im Grunde nur  e i n  Sakrament, Christus; alles übrige, die Sakramente, sind signa sacramentalia dieses einen Sakraments.

LeerAber Tillichs Luthertum ist in Luthers Patristik, in Luthers Verankerung in den alten Vätern begründet, und man muß sagen, daß die Kirchenväter ihre Theologie aus dem Neuen Testament schöpfen; so handelt auch Luther selbst. Das alles ist in den zwanziger Jahren in der Erneuerung der Sakramentstheologie (in Verbindung mit der liturgischen Erneuerung) gegenwärtig; das Sakrament wird im neutestamentlichen Sinn als Mysterium verstanden. Es genügt als Beispiele die Namen von Fr. Heiler, O. Casel, R. Guardini zu zitieren; die Berneuchener Bewegung hat Anteil an dieser Erneuerung. Nach den Schlüsseltexten der Briefe an die Epheser und Kolosser ist das „Mysterium” Christus selbst in der Aktualisierung seines heilschaffenden Wirkens, in der repraesentatio desselben innerhalb der Kirche; mit der ganzen Tradition der Kirche wird behauptet, daß diese Vergegenwärtigung in der Versammlung der christlichen Gemeinde um Wort und Sakrament und im Gebet geschieht. Das Sakrament als Mysterium reicht weiter als die noetische Ebene, die Ebene des Bewußtseins, und trifft den Menschen in ontischer Weise, in seiner ganzen Person. Man kann sagen: Diese sakramentale Theologie ist zugleich ontologisch und personalistisch.

LeerMan wundert sich nicht, daß Tillich dieser Erneuerung nahesteht, wenn man sich an seinen schon früh vorhandenen Sinn für das Heilige, an seinen Umgang mit Schelling und an seine Beteiligung an der Berneuchener Bewegung erinnert. Man versteht nur von daher den entscheidenden Charakter und den Sinn des Wortes „sakramental” in „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen”. Die mystischen Religionen Indiens ebenso wie die aus Israel hervorgegangenen ethischen Religionen sind verschiedene (und polare) Entfaltungen eines und desselben sakramentalen Fundaments. Es sei an einen Schlüsselsatz erinnert: „Solange es Religion gibt, muß auch ihre sakramentale Grundlage bestehen bleiben.” (GW. V. S. 79)

LeerTillich bindet, wie wir es im I. Teil gesehen haben, das Sakramentale an das Heilige. Aber er gebraucht bei dieser Gelegenheit das Wort „sakramental”. Dieses Wort enthält für ihn den ganzen „christlichen” Inhalt, der in der Erneuerung der sakramentalen Theologie in den zwanziger Jahren zutage tritt. Dieser Inhalt wird auf eine konkrete kultische Praxis bezogen, ohne die das Sakramentale sich in einen Spiritualismus verflüchtigen würde. Dieser Inhalt wird auf die Sakramente bezogen. Es gibt in der Tat keine Religion ohne Kultus. „Die beiden Wesenszüge der Religion im engeren Sinn sind Mythus und Kultus”. (GW. V. S. 94)

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LeerDie Tatsache, daß das Sakramentale im „christlichen” Sinn des Wortes verstanden wird, erklärt den von Tillich behaupteten christlichen Universalismus, das heißt, sein universalistisches Verständnis der Offenbarung Gottes in Christus. Es ist an diese sakramentale Theologie gebunden. Christus als Mysterium ist nämlich auch der universale Logos des Johannesevangeliums. Tillich bezieht sich in „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen” ausdrücklich auf die Logoslehre der Apostolischen Väter, die die universale Gegenwart des Logos von Anfang an behaupteten. Diese Gegenwart des Logos hat seine endgültige Kundgebung in der historischen Person des Christus vorbereitet. Wegen dieser Lehre, schreibt Tillich, „war das frühe Christentum keine radikal-exklusive Religion, sondern eine alles umfassende im Sinn des Ausspruchs: ‚Alles irgendwo in der Welt, was wahr ist, gehört zu uns, den Christen’.” (GW. V. S. 68)

LeerIm Gegensatz zu Hegel präzisiert Tillich, daß die nicht-christlichen Religionen nicht hinfällig werden, das hieße den erlösenden Logos vom schöpferischen Logos, den speziellen, konkreten Logos vom universalen Logos abtrennen. Zugleich führt dieser christliche Universalimus nicht zum synkretistischen Konfusionismus; das hieße den schöpferischen Logos vom erlösenden Logos abtrennen. Also kann weder der Universalismus verabsolutiert (also von Jesus als dem Christus abgetrennt) werden, noch kann der Partikularismus verabsolutiert (also vom universalen Logos abgetrennt) werden. Der universale Charakter des Christentums ist an seinen unbedingten Charakter gebunden und umgekehrt. Man kann auch sagen: Das mythisch-ontologische Wort (der universale Logos) und das geschichtlich-personalistische Wort (der konkrete Logos) sind miteinander in einer dynamischen Spannung verbunden.

LeerDer so auf die sakramentale Theologie bezogene christliche Universalismus wird einerseits auf die Leiturgia, den christlichen Gottesdienst, bezogen und andererseits vor jeder Verflüchtigung in einen verschwommenen Spiritualismus bewahrt. Man erinnere sich daran, daß Tillich seine Theologie als „gläubigen Realismus” charakterisiert. Der auf die sakramentale Theologie gegründete Universalismus ist im wahrsten Sinn des Wortes „christlich”. Deshalb folgt, „daß das Christentum in der Begegnung mit anderen Religionen und Quasi-Religionen diejenigen Lehren verwerfen muß, die das christliche Prinzip unausgesprochen oder ausgesprochen verneinen”. Das Verhältnis von Christentum und anderen Religionen muß sich darum „als dialektische Einheit von wechselseitiger Ablehnung und Anerkennung gestalten”. Es handelt sich also in der Begegnung der nicht-christlichen Religionen um einen kritischen Dialog, der aber aufmerkt auf die „typischen Elemente, die auf verschiedene Art die bestimmenden Faktoren in jeder konkreten Religion sind”. (GW. V. S. 65, 79)

LeerWelches sind diese typischen Elemente, und wie ist ihr typischer Wert zu beurteilen? Es sind einerseits das mystische, andererseits das ethische Element, die beide im Sakramentalen begründet sind. Infolgedessen ist der Dialog nicht nur möglich; er ist nötig: Das westliche Christentum entfaltet in der Tat nicht die Fülle des sakramentalen Fundaments. (GW. V. S. 78 f.) Durch den Dialog, z. B. mit dem Buddhismus, kann es sich wieder mit dem mystischen Element verbinden, das ebenso wie das ethische Element im Sakramentalen begründet ist.

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2.  Die zweite Verankerung des Tillichschen Denkens ist seine  a p o p h a t i s c h e  oder negative  T h e o l o g i e . Bekanntlich charakterisiert diese die östliche Orthodoxie ebenso wie die ganze mystische christliche Theologie, für die Gott jenseits aller Ausdrucksmöglichkeit ist, so daß man nur in negativer Weise (via negativa) von ihm reden kann, um zu sagen, was er nicht ist. Es ist sicher, daß die apophatische Theologie in einer gewissen Spannung zur sakramentalen Theologie steht, die ihrerseits eine Partizipation Gottes an der Welt durch Vermittlung des schöpferischen und erlösenden Logos aussagt; die sakramentale Theologie ruht deshalb auf dem Mythos und dem Kultus, in denen das als sakramental verstandene Heilige sich ausdrückt und in symbolischer Weise (via analogiae) gefeiert wird. Tillich ist sich der Spannung zwischen dem Sakramentalen und dem Mystischen voll bewußt, aber diese Spannung erscheint ihm als konstitutiv für das Christentum.

LeerWeil die Berneuchener Bewegung bei der Gründung der Evangelischen Michaelsbruderschaft sich in eine Richtung zu entwickeln schien, die einseitig das sakramentale Element und also den Mythos und den Kultus auf Kosten des mystischen und des ethischen Elements betonte, distanzierte sich Tillich von ihr (U. Reetz, a. a. O., S. 77 ff.). Wie es auch um diese Kritik bestellt sein mag, die nicht die ursprüngliche Inspiration dieser Bewegung meint, sondern die Entwicklung, die sie zu nehmen schien und die sie zuzeiten wirklich nahm, verleugnet Tillich nicht die sakramentale Theologie, sondern bezieht sie auf das mystische Element, durch die sie vor jeder sakramentalistischen Erstarrung bewahrt bleibt. „Gott ist über Gott.” Tillich nimmt diese Aussage aus „Der Mut zum Sein” in „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen” wieder auf und präzisiert, daß dieser Gedanke in der gesamten patristischen Theologie stillschweigend Inbegriffen ist. Die Aussage bedeutet, daß „das Göttliche alle endlichen Symbole, die für es gebraucht werden, transzendiert”. (GW. V. S. 95)

LeerSchon im Alten Testament vollzieht sich ein Prozeß der Entmythologisierung und der Entritualisierung, auf Grund dessen der Gott Israels über alle Götter erhoben wird. „Gott weigert sich,  G o t t  zu sein.” Die Kritik an der Religion im Namen der Religion gehört der Mystik an. „Der Grundbegriff der Mystik ist ‚Unmittelbarkeit’. Es gibt eine unmittelbare Teilhabe am göttlichen Urgrund, in der Erfahrung zu ihm werden alle endlichen Realitäten, alle Symbole des Göttlichen und alle Sakramente transzendiert, Kultus und Mythus versinken in dem Erleben des göttlichen Abgrundes.” (GW. V. S. 95)

LeerDie Spannung zwischen der sakramentalen Theologie und der apophatischen Theologie findet sich wieder in der Spannung zwischen der Ontologie und dem Personalismus, welche die Spannung ist zwischen der Aussage, daß Gott das Sein-Selbst ist und der Aussage, daß er der persönliche Gott ist. Infolge dieser Spannung geht es nicht darum, zwischen dem Symbol des Gottesreichs und dem Symbol des Nirwana zu wählen; ersteres ist ein soziales, politisches und personalistisches Symbol, das zweite ist ein ontologisches Symbol. Beide ergänzen einander, weil die Negation der verabsolutierten Bedeutung des Symbols des Gottesreichs in diesem Symbol selbst mitgegeben ist. Deus semper major (Gott ist immer größer), können wir mit der großen theologischen Tradition sagen. Der Theismus ruft einen A-theismus hervor, die Idolatrie ruft einen Bildersturm hervor. Aber die apophatische Theologie ihrerseits kann nicht verabsolutiert werden. Tillich warnt ausdrücklich vor dem „Verlust von Kultur und Mythos”, die einen „Verlust der Offenbarungserfahrung” bedeutet, auf die die Religion gegründet ist, und er präzisiert:

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Leer„Was in der Offenbarung gegeben ist, muß sich manifestieren, um sich zu erhalten, und das bedeutet, daß es des mythischen und kultischen Ausdrucks bedarf.” (GW. V. S. 82 f., 96)

LeerDie Spannung zwischen der sakramentalen Grundlage jeder Religion und insbesondere des Christentums und dem mystischen Element ist unaufgebbar. Sie allein ermöglicht den Dialog zwischen den Religionen und macht ihn notwendig. Er ist möglich und notwendig, weil, während „Religion als Religion nicht untergehen kann”, doch auch wahr ist, daß „eine partikulare Religion nur so lange am Leben bleiben kann, wie sie sich selbst als Religion transzendiert. So wird auch das Christentum Träger der religiösen Antwort bleiben, solange es die Kraft hat, seine Partikularität zu durchbrechen” (GW. V. S. 98). Wir können im Sinn Tillichs hinzufügen: ohne damit die Partikularität zu leugnen, aber in der Erinnerung daran, daß der erlösende Logos, also Christus Jesus, auch der schöpferische Logos ist.

3.  Die als sakramental und apophatisch gekennzeichnete Theologie Tillichs ist eine Theologie der Rekapitulierung im Sinn der Aussage von Eph. 1,10: „Gott rekapituliert alle Dinge in Christus”, das heißt, er gibt ihnen Christus zum Haupt. Irenäus von Lyon ist im besonderen ein Theologe der (griech.:) anakephalaiósis, der (lat.:) recapitulatio. Eine Theologie der Rekapitulation ist nicht eine Theologie der vollendeten Synthese in der Art Hegels. Wir haben zwei Spannungen festgestellt, die nach Tillich für die Religion konstitutiv sind: die Spannung zwischen dem mythischen (sakramentalen) Element und dem revolutionären (ethischen) Element und die Spannung zwischen dem sakramentalen und dem mystischen, apophatischen Element. Diese Spannungen bleiben bestehen und lösen sich nicht in irgendeiner Synthese auf, die sich in der Geschichte ereignen würde. Sie charakterisieren die Religion und ganz zentral das Christentum als ein Werden, das sie nach vorn orientiert und das eine dynamische Kraft der Geschichte ist.

LeerSogar wenn die Rekapitulation als eine „Aufhebung” definiert werden kann, und zwar im dreifachen Sinn dieses Hegelschen Ausdrucks - als Negation, Bestätigung und Übersteigung -, als die Aufhebung jedes der drei erwähnten Elemente der vollgültigen Religion durch die beiden anderen, bleibt Tillich doch mehr Schellingianer als Hegelianer. Für Schelling gibt es nämlich in der Geschichte keine Synthese, sondern nur dynamische Spannungen. Die Religion in der Geschichte wird durch die Dialektik zwischen den drei Polen charakterisiert und nicht durch ihre Synthese. Aus diesem Grund ruft Tillich das Christentum nicht zu einer Bekehrungskampagne gegenüber den Religionen auf, sondern zum Dialog mit ihnen. (GW. V. S. 97)

LeerAber ein Dialog, der in der sakramentalen Wirklichkeit und in der Liturgie wurzelt, ist mehr und anders als, was man gemeinhin „Dialog” nennen mag. Ein wahrer Dialog ist keine Demission, sondern ein Sich-Unterstellen unter „das, was uns unbedingt angeht”, d. i. unter den Schöpfer und den Erlöser, Christus; so wird der Dialog zu einem Annehmen des andern in einem gemeinsamen Suchen und in einem gemeinsamen Annehmen des (ganz) Anderen.

Quatember 1987, S. 77-93

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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