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Anthroposophie und Christengemeinschaft
als Frage an die Evangelische Theologie und Kirche
von Adolf Köberle

1.

LeerAnthroposophie und Christengemeinschaft befinden sich seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, dem sie konzessionslos widerstanden hatten, in einem ständig sich steigernden Aufschwung. Die Anthroposophie imponiert durch ihre Leistungen in der Pädagogik, in der Pharmazeutik, in der Medizin und in der Landwirtschaft. Sie versucht sich auch in Malerei, Musik, Dichtung und Bühnenspiel, wenn darin auch ungleich weniger erfolgreich und überzeugend. Die Kultgemeinden, die die „Christengemeinschaft” in allen größeren Städten Deutschlands und darüber hinaus in Europa und in Amerika ins Leben gerufen hat, sind dem zahlenmäßigen Umfang nach zwar bescheiden geblieben. Da können die Neuapostolischen und die Zeugen Jehovas mit ganz anderen Zahlen aufwarten. Um so mehr wiegt das innere Gewicht der Mitglieder. Wir finden in ihren Reihen Männer und Frauen aller Berufe, Ärzte, Architekten, Naturwissenschaftler, Lehrer und Künstler.

LeerWenn eine Kirche wahrnehmen muß, daß ganze Stände im Begriff sind, aus ihrer Mitte auszuwandern, dann ist das ein Grund zu tiefer Sorge und Beunruhigung. Wir müssen uns fragen: Woher kommt es, daß sich Menschen von ausgeprägter religiöser Bereitschaft heute außerhalb der evangelischen Kirche eine neue Heimat für Gottesdienst, Seelsorge und Gebet suchen? Hängt es vielleicht zusammen mit Mangelkrankheiten und Ausfallerscheinungen in unseren eigenen Reihen, die wir auf dem Weg der Selbsterkenntnis bisher nicht oder nur unzureichend wahrgenommen haben, die uns aber deutlich vor Augen gerückt werden, wenn ernstzunehmende Zeitgenossen erklären: Wir sind bei euch nicht mehr satt geworden und haben uns darum anderwärts umgeschaut.

LeerSicherlich ist es nicht gut, solche hintergründigen Möglichkeiten überhaupt nicht zu bedenken und statt dessen nur mit Ablehnung und Verurteilung zu reagieren. Es ist immer die dankbarere Aufgabe festzustellen, wo der andere irrt, statt sich einzugestehen, wo es bei einem selbst mangelt und fehlt. Man kann leichten und reichen Lohn ernten, wenn man aufzeigt, was uns als evangelische Kirche von Anthroposophie und „Christengemeinschaft” trennt: ihre Christologie, ihr Gottesbegriff, ihre Art und Weise, Exegese zu treiben, ihre Synthese von Gnade und Reinkarnation. Aber die Gefahr bei solchem Vorgehen ist doch groß, daß wir in Selbstzufriedenheit verharren und alles beim alten bleibt.

LeerDarum sei im folgenden bei vollem Wissen, wie undankbar und heikel die Aufgabe ist, der Versuch unternommen, offen darüber zu sprechen, inwiefern die gegenwärtige Abwanderung zur Anthroposophie und „Christengemeinschaft” zusammenhängt mit einer Vielzahl von Verkümmerungen im Protestantismus der Gegenwart.

2.

LeerIn den fünfziger Jahren wurde im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland eine eigene Kommission gebildet, die eine Denkschrift über das Thema „Kirche und Anthroposophie” auszuarbeiten hatte. Eine ihrer Feststellungen lautete: „Das Evangelium ist in der protestantischen Frömmigkeit in erschreckendem Ausmaß moralisiert und gesetzlich verengt.” In der Tat, wir haben das Christsein viel zu einseitig identifiziert mit dem Lebensstil eines kleinbürgerlichen Mittelstandes. Wer sich dazu schickt und fügt, gilt als guter Kirchenchrist. Ahnen wir, was wir damit für ein Unheil angerichtet haben? Wie mancher vital und künstlerisch empfindende Mensch mag dadurch aus der Kirche verscheucht worden sein!

LeerObwohl die lutherischen Bekenntnisschriften erfüllt sind von der klaren Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium, werden doch immer noch zahlreiche Normierungen als gesetzlich verpflichtend ausgegeben. Das sieht dann so aus:

LeerWer bekehrt ist, raucht nicht, besucht kein Schauspiel, keine Oper, liest keine Romane! Wie schwer tut sich ein „Weltkind”, das von Gottes Wort und Geist ergriffen worden ist, von einer also zensierenden Gemeinde angenommen und ernst genommen zu werden. Kein Wunder, wenn es Menschen gibt, die erklären: Wir ersticken in dieser Luft der moralischen Bevorschriftung und des pharisäischen Richtgeistes, wir möchten frei atmen dürfen im Licht der Sonne Gottes, frei von Angst und Freudlosigkeit. Wenn es uns doch gelingen dürfte, die Erlösung vom gesetzlichen Befangensein unseren Gemeinden und Gemeinschaften in Freiheit zu vermitteln! Dann möchte wohl mancher hinzukommen, der bisher in der Kirche nur eine Art Sittenpolizei zu sehen vermochte.

3.

LeerEine zweite These der Denkschrift lautet: Die Verkündigung des Evangeliums beschränkt sich weithin auf erbauliche Pflege der Gemütskräfte, statt den Menschen in der Ganzheit seines Wesens anzusprechen und zu ergreifen. Der Protestantismus ist seit dem 18. Jahrhundert auf zwei Gleisen gefahren. Soweit ihn die mittelalterliche Mystik durch den Mittlerdienst von Johann Arndt und Gerhard Tersteegen beeinflußt hat, wandte er sich einer intensiven Seelenpflege zu. Insofern die Kantische Philosophie durch die einflußreiche Schule von Albrecht Ritschl wirksam wurde, kam es zu einer respektablen Durchackerung des menschlichen Willens. Wir wollen gewiß nicht gering achten, wie viel auf diese Weise geschichtsmächtig erreicht worden ist. Aber wir dürfen nicht übersehen, daß darüber andere Bereiche des Lebens in verhängnisvoller Weise vernachlässigt worden sind. Das gilt sowohl von dem leiblichen Leben wie von dem geistigen Vollzug des Denkens. Der fromme Seelenmonismus in der Färbung einer platonisch-christlichen Mystik war völlig außerstande, die leibhaftigen Vorgänge achtungsvoll zu würdigen. Das Gott wohlgefällige Verhalten hatte sich in erster Linie darin zu erweisen, daß man die sinnlichen Kräfte der Natur mied. Wo sich die christliche Existenz auf der Grundlage der „praktischen Vernunft” aufbaute, war es dabei um nichts besser gestellt. Denn das idealistische Denken unter der Führung von Kant, Schiller und Fichte war ebenfalls von dem Dualismus bestimmt, der den Geist hoch über die Naturgegebenheiten stellte.

LeerWohl hielt man dem Dogma zu lieb daran fest, daß das ewige Wort in Jesus Christus Fleisch geworden sei. Aber im Grund kam man über eine Personwerdung des Logos in Gestalt von Wortmitteilung und Existenzanspruch nicht hinaus. Dabei bezeugt doch das mysterium incarnationis, daß Gott sich seiner ganzen Schöpfung in Liebe und Treue zugewandt hat. Das Osterereignis durfte wohl dem Glauben den Durchbruch in die Freiheit vermitteln, aber für das Schicksal unseres Leibes, für die Heilung und Heiligung der Schöpfung hatte es rein nichts zu bedeuten.

LeerAuch Anthroposophie und Christengemeinschaft erreichen nicht das biblische Verständnis von Natur und Geist. Die Heilige Schrift beginnt ja mit dem Satz: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.” Damit wird Gott bezeugt als der schöpferische Ursprung in sichtbaren und unsichtbaren Bereichen. Aus seiner Machtwirkung gehen hervor Bios und Logos, Stoff und Geist, Sinnlichkeit und Vernunft. Von all seinen Werken wird gesagt, sie seien im Anfang sehr gut gewesen.

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LeerWer Rudolf Steiners „Geheimwissenschaft im Umriß” (Leipzig, 1920) kennt, wird belehrt, daß die Schöpfung ursprünglich als reiner Geist begonnen habe. Die Verdichtung zur Vermaterialisierung hin habe sich erst nach und nach über viele Zwischenstufen vollzogen. Den tiefsten Zustand der Verdichtung und Verhärtung hatte die Abwärtsentwicklung zur Zeit Jesu erreicht. Mit dem Golgatha-Ereignis setzt eine Weltenwende ein, die aus der Vergröberung der stofflichen Erscheinungswelt herausführt zu einem erlösten reinen Geistsein. Mag sich die „Christengemeinschaft” noch so wehren gegen den Vorwurf des Gnostizismus, an dieser Stelle ist die Verwandtschaft der anthroposophischen Kosmosophie mit den gnostischen Emanationsprozessen für jeden Sachkundigen mit Händen zu greifen.

LeerUnd doch, Anthroposophie und „Christengemeinschaft” haben selbst mit dieser unbiblischen Auffassung vom Wesen und Wert der Natur immer noch einen gewaltigen Vorsprung vor einer Theologie und Kirche, die über Natur, Leib und Leben kaum nachdenkt und den Vollzug des Glaubens auf personale Existenzverwirklichung, auf Seelenandacht und sittliche Pflichterfüllung einschränkt. Wie es auch immer um die metaphysische Deutung von Geist und Natur im Weltbild der Anthroposophie bestellt sein mag, das eine ist nicht zu bestreiten, daß man dort um die Heimholung der Natur in Liebe, Ehrfurcht und Sorge bemüht ist. Das Kind bekommt in der Waldorf-Schule seine Bastelarbeit, es lernt, mit Holz und Lehm umzugehen, um ein Empfinden dafür zu bekommen, wie Geist und Natur einander durchdringen können. Man hilft dem drüsengestörten, zurückgebliebenen Kind durch die Heileurhythmie, in dem gehemmten Leibesleben schlummernde Kräfte zu erwecken.

4.

LeerDie Reduktion des Christseins auf Innerlichkeit und Charakterbildung hat nicht nur dazu geführt, den Bereich der Natur und der Leiblichkeit auszuklammern, es wurde gleichzeitig auch das Denken sich selbst überlassen. Von einem protestantischen Akademiker kann man in weitem Umfang sagen, er ist im Herzen ein Christ, im Kopf aber ein Heide. Die Ehe wird in Ehren gehalten, den Armen steht man bei mit einer Gabe der Liebe, in seinen Worten ist man wahrhaftig und verabscheut die Lüge. Mit diesem anerkennenswerten Ethos aber huldigt man gleichzeitig irgendeinem mechanistischen oder pantheistischen Weltbild, wie es einem während des Studiums an der Universität vermittelt worden ist.

LeerRudolf Bultmann konnte sich nicht genug tun in der Polemik gegen eine christliche Gesamtschau der Wirklichkeit. Der bloße Versuch einer evangelischen Weltdeutung galt ihm bereits als eine Flucht aus der Existenzentscheidung. Es werde damit eine zuschauerhafte Betrachtung eingenommen und der geschichtliche Vollzug des Glaubens von Grund aus verfehlt. Bedenkenlos konnte der Marburger Theologe erklären: Wenn ein Mensch sich in den praktischen Entscheidungen des Lebens in wagendem Vertrauen zu Gott hinkehrt, dann kann er in seinem wissenschaftlichen Forschen denken, wie er will. Die christliche Existenz wird davon nicht berührt. Die daraus sich ergebende Aufspaltung von Nachfolge und Denken aber muß unvermeidlich zu einer schizophrenen Zerrissenheit der Person führen. Demgegenüber ist das anthroposophische Weltgebäude von imponierender Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Da fügen sich alle Bereiche aus Natur- und Geisteswissenschaften zu einem lückenlosen Ganzen zusammen. Ein Wissenschaftsgebiet beleuchtet das andere. Man fühlt sich wie in einem großen Haus, wo alle Räume durch viele Türen miteinander verbunden sind. Die katholische Kirche hat ebenfalls den Mut, von ihren thomistischen Voraussetzungen her einen christlichen Universalismus aufzubauen. Die Leistungen der Görres-Gesellschaft und der Salzburger Hochschulwochen mögen dafür als Beispiele stehen. Erst recht unterwirft der Marxismus in totalitär regierten Staaten die Schulen und Hochschulen einer gesellschaftspolitischen und materialistischen Gesamtanschauung.

LeerWenn überall in weiter Welt das Denken einer religiösen oder politischen Deutung dient, ist es dann nicht absurd, wenn wir feststellen: Eine umfassende evangelische Schau der Weltwirklichkeit darf es nicht geben und braucht es nicht zu geben? Auch evangelisches Christentum will weltumspannend sein. Gewiß, evangelischer Universalismus wird anders aussehen als das anthroposophische und erst recht anders als das marxistische „Glasperlenspiel”. Aber auch wir müssen den Schritt wagen von der Pistis, dem Glauben, zu einer biblischen Gnosis, einer Erkenntnis, deren Ansätze sich in der paulinischen Briefliteratur ja bereits klar vorgezeichnet finden.

5.

LeerUnsere Zeit hat so Ungeheuerliches an Leid und Zerstörung durchlitten, daß sich immer mehr Menschen fragen, ob eine rationale Erklärung ausreicht, um all das Grauenvolle zu begreifen. Wie nahe läge es darum, eine Brücke zu schlagen zu den biblischen Aussagen von den kosmischen Mächten, die als Herrschaften, Fürstentümer und Gewalten auf der Seite des Lichtes und aus der Tiefe der Finsternis um das Herz des Menschen ringen! Was aber tut die protestantische Theologie der Gegenwart? Sie wendet allen Scharfsinn auf, um zu erweisen, daß es sich dabei um mythische Restvorstellungen aus dem antiken Weltbild handelt, die für uns keinerlei Verbindlichkeit mehr haben und die wir uminterpretieren müssen in neuzeitliche Denkformen, die dem Weltbild des technischen Zeitalters angemessen sind. Während die Menschheit von Teufeleien aller Art gequält wird, versichern wir treuherzig, daß es eine Obrigkeit und Machtherrschaft der Finsternis als eine außermenschliche, übermenschliche transzendente Realität nicht gibt. Wenn aber das Erschauern vor dem Fürsten dieser Welt und seiner Gewaltherrschaft dahinfällt, dann wird auch die Schutzmacht der Engel überflüssig, dann kann man auf die starken Helden Gottes verzichten und tut es auch bedenkenlos. Die Engel werden degradiert zu Kitschfiguren im Kinderschlafzimmer und zu immer willkommener Bereicherung der Weihnachtspoesie. Darüber hinaus haben sie für ein Leben im Kampf des Glaubens nichts zu bedeuten.

LeerIn der Anthroposophie und „Christengemeinschaft” begegnet uns eine weit aufgeschlossene Schau von den höheren Welten, von den angelischen und dämonischen Mächten, die auf das Leben des einzelnen und der Völker einwirken. Mag uns die Aufspaltung des Satanischen in zwei widergöttliche Prinzipien in Ahriman und Luzifer befremden, es ist jedenfalls ein starker dämonischer Realismus, der hier zu seinem Recht kommt. Mit welcher Hingabe wird in der „Christengemeinschaft” die Michaeliszeit im Kirchenjahr gefeiert, die vielen protestantischen Theologen und Christen kaum mehr zum Bewußtsein kommt!

LeerGewiß bewegt uns als evangelische Kirche die Frage und die Sorge, ob die breite Entfaltung der himmlischen Hierarchien in der Schau von Rudolf Steiner nicht dazu führt, das persönliche Kindesvertrauen zum Herzen Gottes zu verdrängen. Wir wollen die dienenden Schutzmächte ehren und lieben, aber sie sind doch nur der Saum der Herrlichkeit Gottes, sie sind Vorhöfe zum Allerheiligsten, sie sind das himmlische Hofgesinde. Was Paulus an die Gemeinde in Kolossae geschrieben hat, möchte man auch der „Christengemeinschaft” zurufen: Versäumt über dem Kultus der höheren Welten nicht die betende Verbundenheit mit dem Herrn der Herrlichkeit! Doch auch hier haben wir nicht nur zu fragen, sondern uns auch fragen zu lassen: Können wir es uns angesichts der gegenwärtigen dämonisierten Weltlage leisten, das satanische Reich als ontische Realität zu leugnen? Könnte es nicht sein, daß sich Menschen auch darum von unserer Kirche abwenden, weil sie ein rationales Zugeständnis nach dem anderen macht, weil sie nicht mehr imstande ist, die Abgründigkeit der Welt bis in ihre letzten Tiefen hinein wahrzunehmen?

6.

LeerRudolf Steiner hat sich in seinen „Evangelien-Zyklen” intensiv um das Neue Testament bemüht. Vieles an seiner Schriftauslegung berührt gesucht, fremdartig und willkürlich. Der schlichte Wortsinn des berichteten Geschehens genügt ihm fast an keiner Stelle. Immer müssen dahinter astrale und kosmische Geheimnisse zu lesen sein, um den erzählten Vorgang als sinnvoll erscheinen zu lassen. Dabei geht es ohne gewagte Künsteleien nicht ab. Und doch dürfen wir auch an dieser Stelle nicht nur den Richter spielen. Der neuzeitliche Protestantismus ist geprägt worden durch die Schriftauslegung der historisch-kritischen Forschung. Die großen Leistungen und Verdienste dieser Schule sind nicht zu bestreiten. Wir verdanken ihr den bestmöglichen Text zum Alten und Neuen Testament. Wir haben die zeitgeschichtliche Umwelt in farbiger Fülle gezeigt bekommen, und diese Orientierung hat wesentlich dazu beigetragen, die Sprache und Denkweise der biblischen Bücher aufzuschließen.

LeerAber die historisch-kritische Forschung hat uns nicht nur reich gemacht, sie hat uns auch arm gemacht. Sie hat viel zu sehr unsere modernen, abendländisch-westlichen, naturwissenschaftlichen Denkformen und Voraussetzungen an die Schrift herangetragen, hat sie daran geprüft und von daher kritisiert. Wie schwer tut sich unser abstraktes begriffliches Denken, die Bilderwelt der Johannes-Apokalypse zu verstehen! Wie fragwürdig wirkt die Gescheitheit eines Professors, der jede prophetische Zukunftschau darum ablehnt, weil ihm selber solche Fähigkeit gänzlich abgeht. Dabei könnte man wenigstens soviel von der Parapsychologie gelernt haben, daß die Vorausschau von noch nicht Geschehenem zu den bestbelegten Fähigkeiten übersinnlicher Erfahrung gehört. Ist wirklich eine völlig voraussetzungslose Wissenschaftsmethode der beste Schlüssel zum Verständnis der Heiligen Schrift? Wäre es nicht ungleich fruchtbarer, wenn die Erschließung der Schrift getragen wird von einem Leben in Gebet, Meditation, Gottesdienst und Nachfolge. In einer solchen Luft atmend, können uns ganz andere Einsichten aufgehen, als wenn wir von der hohen Warte religionswissenschaftlicher Vergleiche herab kühl bis ans Herz hinan die Erforschung biblischer Texte in Angriff nehmen.

LeerIn dem Gutachten der Studienkommission für „Kirche und Anthroposophie” heißt es zuletzt: „Es ist eine offenkundige Tatsache, daß viele Menschen, auch evangelische Christen, durch ihr in unserer Kirche nicht befriedigtes Verlangen nach reellen kultischen Erfahrungen zu den verschiedensten Altären getrieben werden.” Damit wird die Frage angerührt, die das Leben unserer Kirche in der gegenwärtigen Weltenstunde unmittelbar berührt. Denn eine Gemeinde wird ja nicht vor allem davon geprägt, was in theologischen Kommentaren und Lehrbüchern zu lesen steht, sondern durch das, was im Gottesdienst allsonntäglich geschieht. Wilhelm Stählin hat mit Recht von einer „Verschulung des Protestantismus” gesprochen. Dieser Prozeß hat schon bei dem älteren Melanchthon eingesetzt und hat sich dann im Zeitalter der Orthodoxie immer weiter verfestigt. Demnach war der Gottesdienst vor allem dazu da, um die Hörer über die theologischen Richtigkeiten zu belehren, die für wahr zu halten sind. Der liberale Protestantismus fühlte sich von dieser trockenen Lehrhaftigkeit abgestoßen. Er entwickelte eine hohe Kunst der rednerischen Begabung, aber es wurde dadurch nur ein religiös interessiertes Publikum gesammelt, das sich um eine anziehende Kanzelredner-Persönlichkeit scharte.

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LeerDer junge Friedrich Rittelmeyer in seiner Nürnberger Zeit als Stadtpfarrer an der Heilig-Geist-Kirche verfügte über eine solche Schönheit der Sprache, über eine solche Kunst der Seelenführung, daß er selbst an einem Sommersonntagnachmittag, da das Nürnberger Bürgertum spazieren zu gehen pflegte, das Gotteshaus bis auf den letzten Platz füllte. Aber es ist doch bedeutsam, daß Rittelmeyer, dem das Kanzel-Echo bis an die Berliner Jahre hinein unverändert erhalten blieb, an dieser Art von Tätigkeit immer weniger Freude und Genüge fand und schließlich damit brach, um in der kultischen Bewegung der „Christengemeinschaft” ein Neues zu beginnen.

LeerEin Gemeindeaufbau auf dieser personalen Basis ist heute endgültig vorbei. Zunächst ist festzustellen, daß die rednerische Begabung ständig zurückgeht, daß die Zahl derer immer kleiner wird, denen das Wort in freisprechender, überströmender Weise zur Verfügung steht. Wie schwer tun sich unsere Kirchenleitungen, auch nur die wichtigsten Kanzeln in den Großstädten mit wortmächtigen Predigern zu besetzen! Dazu kommt die allgemeine Inflation der Worte durch das Massenangebot von Rede in Radio, Presse und politischer Propaganda. Das Wort ist billig geworden. Es ist schwer, den Wörtern noch Vollmacht einzuhauchen. Damit aber ist über die Kirche des Wortes eine ernste Krise hereingebrochen. Helfen kann uns angesichts dieser Lage nur eine Neugeburt des Gottesdienstes, in dem Wort und Zeichen, Fest und Feier, Ordnung und Spontaneität gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Ob Anthroposophie und „Christengemeinschaft” bereit sind, die kritischen Anfragen zu hören, die wir als evangelische Christen vorzubringen haben, steht nicht in unserer Macht. Wir jedenfalls wollen uns hüten vor jeder Art von Selbstzufriedenheit. Erschrockene Herzen, die unter der eigenen Unzu-liinglichkeit leiden, haben noch immer die größte Verheißung bei Gott.

Quatember 1987, S. 94-101

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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