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Unter - und über der Regel zugleich
von Gerhard Steege

LeerEin Mönch besuchte einen Einsiedler. Als er ihn wieder verließ, bat er ihn: „Vergib mir, Vater, denn ich habe dich veranlaßt, die Regel deines Tagesablaufs zu durchbrechen. Der Alte entgegnete: „Meine Regel ist, dich zu erquicken und im Frieden zu entlassen.”

Weg und Wort der Väter, Nr. 19

LeerEs war zwar nicht selbstverständlich, daß Einsiedlermönche sich gegenseitig besuchten, aber es kam doch nicht ganz selten vor. Wenn es geschah, dann mit der Absicht, von dem anderen geistlich bestärkt zu werden. So auch dieser Mönch. Er wollte wohl einfach die Nähe des anderen erleben, um Kraft für seinen weiteren Weg zu erhalten. Und durch eben diese Teilhabe am Leben des anderen ging ihm auf, was er durch seinen Besuch dem anderen zugemutet hatte: Er mußte für den anderen eine Störung bedeuten, weil dieser seinen gewohnten Tagesablauf mit Gebet, Psalmen und Arbeit (für den Lebensunterhalt) um der Zuwendung zu seinem Gast willen hatte ändern müssen. Zweifellos hat ihn der Gastgeber in nichts merken lassen, daß er von der gewohnten Reihenfolge abgehen mußte. Aber sein Gast ist feinfühlig genug gewesen, das dennoch zu spüren. Das ist bereits ein bemerkenswertes Ergebnis dieser Gemeinschaftserfahrung. Aber das ist erst der Anfang.

LeerDas Gewicht der Anekdote liegt auf der Antwort des Einsiedlers: „Meine Regel ist, dich zu erquicken und im Frieden zu entlassen.” Er weist darauf hin, daß er wirklich nach einer Regel lebt. Und diese Regel wird schon sein Leben bestimmen, wenn er allein ist. Aber der Gast irrt, wenn er annimmt, diese Regel des Tagesablaufs sei für den Einsiedler oberstes Gesetz. Mit der Ankunft des Besuchers tritt ein anderes Gesetz in Kraft, das dem Einsiedler noch höher steht: „Dich zu erquicken und im Frieden zu entlassen.” Der Gast ist jetzt für ihn das und der Wichtigste. Vom Frieden, den Christus gibt, ist nicht die Rede, aber es ist selbstverständlich, daß dieser Friede gemeint ist, denn der Einsiedler lebt daraus und strahlt diesen Frieden Christi aus auf den, der zu ihm kommt.

LeerUnd heute? Besuche unter Christen geschehen häufig genug. Auch wenn wir unsere Gastfreundschaft im materiellen Aufwand nicht so „spartanisch” halten wie diese altkirchlichen Mönche, sondern für angemessene Bewirtung gern sorgen: Diese Einstellung, „dich zu erquicken und im Frieden zu entlassen” ist wie der innerste Kern der Gastfreundschaft von Christen (für Christen und Nichtchristen), zu dem Essen und Trinken und Behaglichkeit hinzukommen können, vielleicht auch Ausdruck dieses innersten Kerns sind, aber eben nicht die Atmosphäre der Gastfreundschaft ausmachen.

LeerDer Kern der Einstellung zum Gast hieße: Frieden weitergeben. Das setzt voraus, daß der Gastgeber, der Besuchte, selbst aus und im Frieden Christi lebt. Er hat ihn allerdings nicht als festen Besitz, immer verfügbar. Deshalb kann es auch Zeiten geben, in denen er aus diesem Frieden herausgefallen ist und ihn deshalb auch nicht weitergeben kann. Wie ein anderer Einsiedlermönch einmal zu einem Mönch sagte, der Hilfreiches hören wollte, weil er am Ende sei: „Ich bin selbst gefährdet - was sollte ich dir da sagen?” Keine Regel ohne Ausnahme. Aber die Ausnahme ist dann auch nicht die Regel.

LeerDer Friede Christi ist nicht schon die Lösung aller Probleme. Und: Den Frieden Christi weiterzugeben, heißt erst recht nicht, den Gast in allen oberflächlichen Dingen zufriedenzustellen. Dieser Friede ist wie ein Kraftfeld, in dem der Gastgeber lebt und an dem er seinen Besucher teilhaben läßt: Der Gast geht anders weg, als er gekommen ist, weil ihn die Kraft dieses Friedens berührt, vielleicht durchdrungen hat und nun für die nächste Wegstrecke die innere Ausrichtung gibt.

LeerDie Anekdote ist wie ein lebendiger Kommentar zur Aufforderung des Paulus: „Jeder von uns lebe so, daß er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur Auferbauung.” (Römer 15,2)

Quatember 1987, S. 102-103

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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