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Wenn Leib und Seele Ballast abwerfen
von Wolfgang Teichert

LeerNach drei Tagen nahm sogar der Kameramann Glaubersalz. Das ist jenes bittere, in Wasser aufgelöste Mittel, das man immer zu trinken bekommt, wenn man zu fasten beginnt. Und Fasten sollte sein. Nicht einfach sieben Woche ohne, sondern radikal und in geeigneter Atmosphäre. Denn Fasten hat etwas mit Religion zu tun, nicht nur mit christlicher. Also wurde dieses Kloster ausgesucht zum Fasten und zum Filmen eines fast vergessenen, nun aber wiederentdeckten Brauches. Dreißig Teilnehmer waren ins Kloster Kirchberg zwischen Schwäbischer Alb und Schwarzwald gekommen. Kirchberg ist heute Sitz der Evangelischen Michaelsbruderschaft, einer Bewegung, die, vom neumärkischen Berneuchen ausgehend, die liturgische Gestalt des evangelischen Gottesdienstes reicher, tiefer, musikalischer machen wollte. Seit fast 25 Jahren bietet man in Kirchberg Fastenkurse an.

LeerDamals traf der Leiter des Klosters, Paul Rohleder, mit dem Überlinger Fastenarzt Otto Buchinger zusammen. Der hatte in seiner Klinik das Vollfasten lange erprobt. Rohleder sah die Chance, eine alte kirchliche Tradition wiederaufzunehmen. „Beten und fasten” heißen seitdem die vierzehntägigen Kurse, die sich neuerdings immer größerer Beliebtheit erfreuen, wie die Besucherzahlen erweisen.

LeerHausfrauen, ein Notar, ein Pfarrer, eine technische Angestellte und ein pensionierter Lehrer gehören zum diesjährigen Fastenkurs. Sie kommen einzeln im Kloster an, als wüßten sie, was sie hier erwartet: Einkehr, Stille, Reinigung des Körpers und der Seele: „Ich habe die Erwartung”, sagt eine jüngere Teilnehmerin zu Beginn, daß ich meinen Glauben hier vertiefen kann. Außerdem bin ich gerade dabei, meine Nahrung auf Vollwertkost umzustellen. Dies Fasten ist eine gute Vorbereitung.” So geht Praktisches und Religiöses recht unproblematisch zusammen. Eine junge Krankenschwester, die ich ebenfalls nach ihren Erwartungen frage, zieht nur einen kleinen Zettel aus der Tasche: „Nicht böse sein”, lese ich, „diese vierzehn Tage lang will ich gern schweigen.” Viermal am Tag, wie in einem katholischen Kloster, ruft eine kleine Glocke zum Gebet. Hans Mayr, der Leiter des Klosters, hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeweils zwanzig Minuten lang vor allem den Wechselgesang, die Gregorianik, einzuüben - ein für Neulinge und Gäste eher fremd wirkendes Unterfangen. Aber die „Altfaster” scheinen sich darauf zu freuen.

LeerDann taucht ein Mann in einem schwarzen Kapuzenrock auf, unschwer als katholischer Benediktinermönch zu erkennen. Was macht er in diesem evangelischen Kloster? „Bei uns”, so erklärt er lächelnd, „achtet man zwar die ehrwürdige Tradition des Fastens, aber sie ist im Kloster ein bißchen aus der Mode gekommen, so wie bei den Evangelischen die tägliche Bibellesung. Darum gehe ich hierher, um das Fasten und die tägliche Meditation zu leiten.” Anders als die Gebete in der Kapelle läßt die tägliche Meditation in der halbdunklen Krypta des Klosters die Teilnehmer in Ruhe. Sie bekommen von Pater Beda Müller einen Satz, meist einen alttestamentlichen Vers, aus den Psalmen vorgelesen, und dann sitzen sie eine Viertelstunde lang auf kleinen Schemeln in gerader Haltung. Pater Beda gibt freimütig zu, daß er dies bei Karlfried Graf Dürkheim gelernt hat, der seinerseits solche Übungen aus Japan von seiner Begegnung mit dem Zen-Buddhismus mitgebracht hat.

LeerFast jeder der dort unten im Kreis bei brennenden Kerzen Sitzenden wird zu Anfang vor allem mit den schwierigen Stationen seines eigenen Lebens konfrontiert oder überschwemmt. Aber alle sagen später, wie gut ihnen gerade dies schweigende Sitzen mit anderen zusammen getan hat. Trotz aller religiösen Übungen: Es beginnt mit dem Körper. Eingehend erläutert die Fastenärztin Herta Lüth, was sich im Körper in den Tagen des Fastens abspielen wird. Wie sich der Organismus nach zwei, drei Tagen umstellt auf Selbstversorgung, weil er von außen nichts Festes mehr bekommt. „Natürlich wird man auch abnehmen”, betont die Ärztin, „aber dieser Kurs ist keine Abmagerungskur.” Trotzdem steigt man am nächsten Tag bei ihr im Behandlungszimmer mit etwas gemischten Gefühlen auf die Waage: „82 Kilogramm”, trägt sie für mich ein und fügt hinzu: „Wohl etwas fett, Herr Pfarrer?”

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LeerObwohl es fast nichts zu essen gibt, erscheinen alle Teilnehmer pünktlich zu den Mahlzeiten im kleinen Eßsaal des Klosters. Da wird mittags aus einer großen Kanne eingeschenkt: Gemüsebrühe, etwas fade, weil ohne Salz gekocht. Man darf allerdings mit Muskatnuß würzen und mit Petersilie wegen der Vitamine. Mir gegenüber sitzt einer, der hat seine Brühe bereits ausgetrunken, noch ehe ich meine ersten Schlucke genommen habe. Er hat lange in Brasilien gearbeitet: „Wenn ich daran denke, daß die Leute in Brasilien monate- und jahrelang von so wenig leben wie ich in vierzehn Tagen, dann wird mir ganz anders”, bemerkt er kopfschüttelnd. Er hat seinen Teelöffel Honig bereits morgens in die zwei Tassen Früchtetee gesenkt. Abends gibt es dann je ein Glas warmen Fruchtsaft und ein Glas Buttermilch. Das ist die gesamte Nahrung, zehn Tage lang. Zwischen den Mahlzeiten kann man noch Mineralwasser trinken: Ein bis zwei Liter pro Tag, gut gegen aufkommende Hungergefühle. Bereits nach fünf Tagen ändert sich die Stimmung. Zwar treten die meisten immer noch etwas leise auf, aber ihre Gesichter sind straffer geworden, sie teilen sich jetzt ihren Nachbarn bei Tisch mehr mit. Fasten löst offenbar die Zunge. Man begibt sich auf ausgedehnte, von der Fastenärztin ausdrücklich angeordnete Spaziergänge in die waldreiche Umgebung von Kirchberg. Manche nutzen die Zeit, um im Schnee Skilanglauf zu machen. Dabei treffe ich auch Doris. „Ich habe nicht nur Pfunde abgenommen”, meint sie, „sondern auch seelischen Ballast abgeworfen.”

LeerWie man das macht? Sie berichtet von den Kleingruppen, die täglich eine Fastengeschichte aus dem Alten oder Neuen Testament lesen. Wir befinden uns im Württemberger Land, wo man noch mit der Bibellesung groß geworden ist. Auffällig ist, wie zum Beispiel eine Bäckersfrau zu Beginn der Gruppensitzung wie selbstverständlich ein Gebet spricht. Keine frommen Formeln, sondern Worte, die sehr genau die Stimmung beschwören, die gerade unter den sechs oder sieben Teilnehmern herrscht.

LeerMit wenigen Sätzen stellt sie, die sonst Semmeln verkauft, Konzentration und Aufmerksamkeit her. Zu meiner Überraschung und zunächst voller Abwehr entdecke ich, daß ich ihr gern zuhöre. Der „Hunger für die Seele” geht in die zweite Woche. Inzwischen kennt man einander. Viele fühlen sich freier, so, als könnten sie immer so weiterleben. Das ist natürlich nicht möglich. Ein Fastenkurs ist - entgegen aller Erwartung - recht teuer. Über sechshundert Mark müssen die Teilnehmer für diese vierzehn Tage bezahlen. Ärztliche Betreuung, geistliche Leitung, vor allem aber Unterkunft und die Arbeit der Küche kosten Geld. Große Mengen von Gemüse müssen täglich von Hand geputzt und verarbeitet werden. Gegen Ende der Zeit fiebern dann doch einige dem „Fastenbrechen” entgegen. Am zehnten Tag wirkt der Eßsaal verändert. Weiße Tischdecken und kleine Gestecke mit brennenden Kerzen erwarten die Fastenden. Die setzen sich schweigend, trinken zunächst die gewohnte, etwas fade Brühe, aber dann wird der Wagen mit heißen, prallen Bratäpfeln hereingerollt: Erste feste Nahrung nach zehn Tagen Flüssigkost! Meine Nachbarin, eine kleinere Frau, nimmt den Teller mit dem Apfel in die Hände, führt ihn nach oben und zieht den Duft durch die Nase ein.

LeerNach vierzehn Tagen geht man auseinander, gereinigt an Körper und Seele, nicht ohne am Abend zuvor noch ein Fest zu feiern: „Fasten gibt Veranlassung zum Frohsinn”, hat Kirchenvater Basilius einst notiert, und seinen fastenunwilligen Zeitgenossen soll er zugerufen haben: „Du aber, zu sehr in Genußsucht gefangen, verdirbst dir, ohne es zu wissen, den Appetit für die Leckerbissen und bringst dich mit deiner Genußsucht um den Genuß. Denn das Mahl ist nach dem Fasten angenehmer, sowohl für die Reichen, die üppig tafeln, wie für jene, die frugal und einfach speisen.” Übrigens: Die Waage zeigte am Ende nur noch 76 Kilogramm.

Aus dem Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt Nr. 11/1987

Quatember 1987, S. 110-112

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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