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Seht, welch ein Mensch!
von Sigisbert Kraft

Predigt vom 22. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1987 in Frankfurt am Main
von Dr. theol. Sigisbert Kraft, Bischof des Katholischen Bistums der Alt-Katholiken in Deutschland,
am Freitag, dem 19. Juni, beim Feierabendmahl in der Nikolaikirche


LeerHeute habe ich mich wieder an eine kleine Begebenheit erinnert, die lange zurückliegt: Einer zeigte voller Freude eine - wie ihm schien gelungene -Aufnahme, den Blick von der anderen Mainseite auf den Frankfurter Dom, die Brücke im Vordergrund. Dort saß ein Bettler. Einer der Betrachter deckte den Bettler mit der Hand ab und meinte: So ist es schöner! In meiner früheren Gemeinde kam eines Tages ein Fremder, verdreckt, übelriechend, den rechten Armstumpf in ein schmutziges Tuch gewickelt. Die Leute rückten zuerst von ihm ab, und es dauerte eine Zeit, bis er angenommen (und sogar gewaschen und versorgt) wurde. Wir decken den Geringsten der Brüder Jesu ab - und wir decken bei unseren sozialen Bemühungen oft den Herrn ab. Wir haben Probleme, die einen und den anderen so miteinander zu identifizieren, wie es im 25. Matthäus-Kapitel geschieht. Daß Pilatus uns Jesus als den letzten Menschen vor Augen stellt, daß wir ihn als den Schmerzensmann darstellen, führt uns noch nicht dazu, ihn auch in den Schmerzenslinien um uns wiederzuerkennen.

Dieser Tage ist mir ein Gedicht vor Augen gekommen, das Gudrun Reinboth unter der Überschrift ECCE HOMO geschrieben hat:
ECCE HOMO
Leerrußig blätternder putz
Leerüber der grauen schlucht
Leeraus brandmauern
Leerahnung von blau
Leervor dem gemäuer
Leerein blühender baum

blüten im herbst?
Leeraber sieh doch die zweige
Leersind nur gemalt

nur?
Leerwelch ungebrochene kraft
Leermenschlichen hoffens
Leerlebendiger ist mir
Leerals jeder wirkliche
Leerder überlebensbaum
Leerauf kahler mauer

sieh welch ein mensch -
ich möchte ihn kennen
den maler
Das Große, das Überzeugende, das einer im Werk den anderen überlassen hat, weckt den Wunsch, die „Sehn-sucht”, den Menschen zu kennen, von dem der „Überlebensbaum” herrührt.

Ecce homo, seht welch ein Mensch - das ist der Hinweis dieser Tage auf den, in dem Gottes Gedanke, Menschen nach seinem Bild und Gleichnis zu schaffen, am deutlichsten wird. Gott hat uns den Menschen überantwortet, in dem wir die Antwort auf alle Fragen finden, in dem wir ihn erkennen: Wer ihn sieht, sieht den Vater. Und er hat uns „ungebrochene Kraft menschlichen Hoffens” hinterlassen. Die beiden, die von Jerusalem nach Emmaus aufgebrochen sind, in ihrer Totalresignation auf dem Rückzug ins eigene Dorf, unter das eigene Dach, aus der Nachfolge, aus der Jüngergemeinschaft ins Privatissimum, dürfen erfahren, daß ihre Hoffnungslosigkeit aufgebrochen wird; sie erkennen ihn, da er das Brot bricht.

Wenn wir aus gemeinsamer Hoffnungslosigkeit kommen, wenn wir Wege suchen, die Aus-Wege sein können, dann ist weder die Not, noch die Hoffnung auf (Er-)Lösung, auf Befreiung konfessionell teilbar. Wie sollten wir dann noch das Mahl einander vorenthalten, in dem wir den erkennen, den Gott uns als unseren Herrn und Befreier geschickt hat? Einander vorenthalten - das geschieht nicht nur durch die kirchenrechtlichen Barrieren, sondern sicher auch im Beharren auf solchen Formen, die den einen verwehren, im Tun der anderen dieselbe Feier zu erkennen ... Wie kann dieses von ihm überkommene Mahl denen vorenthalten werden, die mit der Not einer zerbrochenen Ehe, einer fehlgelaufenen Biographie, mit ihrer Schuld fertigzuwerden suchen, wenn dieses Mahl doch zur Vergebung der Sünden, als Mahl des neuen Anfangs durch die Lebenskraft des Auferweckten geschenkt ist? Wie kann der eine Leib des einen Herrn denen vorenthalten werden, die in ihrer Ehe ein Fleisch geworden sind, aber verschiedenen Konfessionen zugehören?

Wer ihn am Brotbrechen erkennt, dem gehen auch die Augen auf für die Geringsten seiner Schwestern und Brüder. In der Kraft dieser Speise kann er sich ihnen zuwenden, sich ihnen schenken, so wie er den Herrn als den erfährt, der sich brechen und teilen und ganz verschenken lassen will. Und dann erfahren wir, wie er nicht nur hinter uns steht, in uns ist, sondern auch in den geringsten Schwestern und Brüdern vor uns. Seht, welch ein Mensch - in diesen Menschen.

Der Rückzug nur ins Eigene ist den Emmausjüngern und uns verwehrt. Nur auf dem Weg zu den Brüdern und Schwestern gibt er sich uns zu erkennen. Unsere Umkehr, wieder nach Jerusalem, vollzieht sich auf den Wegen zu den Menschen, zur neuen Gesellschaft, zu Gerechtigkeit und Frieden, zur Bewahrung der Schöpfung, in die ökumenische Zukunft. Aber diese Wege werden wiederum nur gangbar in der Kraft dieser Speise. Sie ist nicht „nur gemalt” wie der Baum im Gedicht, nicht nur Bild - sondern er selbst ist es, der sich uns schenkt:
Seht, welch ein Mensch, der sich uns hingibt,
damit wir uns einander verschenken können,
der sich uns im Brechen des Brotes
und in den Geringsten seiner Schwestern und Brüder
zu erkennen gibt,
der mitten unter uns lebt,
damit wir leben können.
Das ist so! (Auf hebräisch heißt das: Amen)
Quatember 1987, S. 147-149

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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