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Seht, welch ein Mensch!
von Jürgen Boeckh

Predigt vom 22. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1987 in Frankfurt am Main
von Dr. theol. Jürgen Boeckh, Ältester der Evangelischen Michaelsbruderschaft,
zur Eucharistiefeier am Sonnabend, dem 20. Juni in der Matthäuskirche:


LeerAls Losung über dem ganzen Kirchentag steht der Satz „Seht welch ein Mensch!” Und am Ende des Abschnittes aus dem Johannes-Evangelium, den wir eben gehört haben, stehen die Worte: „Ich habe den Herrn gesehen.” „Seht welch ein Mensch!” Das ist die Feststellung eines Politikers, eines Mannes der großen Welt. Da schwingt Mitleid mit, aber vielleicht auch Bewunderung. Auf jeden Fall ist ihm dieser merkwürdige Mensch sympathischer als die Buchgelehrten und die fremden Priester. Erst recht ist dieser Mensch ihm sympathischer als die schreiende Masse, die ihn als Revolutionär verleumdet, als sie erkennt, daß die angebliche Gotteslästerung dem skeptischen Römer gleichgültig ist. „Seht welch ein Mensch!” Das ist, auch wenn Sympathie mitspielt, vom Standpunkt des Beobachters aus gesprochen; eines Beobachters, der schließlich schuldig wird, weil er wider besseres Wissen diesen Menschen, Jesus aus Nazareth, preisgibt.

LeerGanz anders jene Frau Maria aus Magdala. Sie ist - im Blick auf Jesus -nicht nur eine Beobachterin. Er hat ihrem Leben eine neue Wendung gegeben. „Sieben Dämonen” hatte er ausgetrieben aus ihr. Sie war in irgendeiner Weise - oder in vielfacher Weise - unfrei gewesen, süchtig, abhängig. Diese Frau ist im Gespräch mit ihm, auch nachdem er tot ist. Wenigstens seinem Leichnam möchte sie noch einen Liebesdienst erweisen. Aber noch einmal bekommt ihr Leben eine neue Wendung. Die erste Wendung führte zu Jesus hin. Alle Liebe, die sie einst vielleicht vielen Männern geschenkt hatte, war nun auf ihn gerichtet. Und mit dieser Liebe wollte sie ihn festhalten, und selbst sein Leichnam sollte ihr Halt geben - so wie viele Menschen bei uns immer wieder auf den Friedhof gehen, als ob sie den Menschen, der ihnen alles bedeutet, zurückholen könnten. Aber eben das geht nicht. Es geht auch nicht im Blick auf Jesus. Die merkwürdigen Worte „Rühre mich nicht an!” verstehen wir besser, wenn wir sagen: „Halte mich nicht fest!” Nicht ein nur erinnerter, ein historischer Jesus kann - nach seinem Tode am Kreuz - unser Gegenüber, unser Meister und Herr sein, sondern nur der Auferstandene, der heute lebt, nicht nur in Büchern (und wenn es heilige Schriften wären), sondern in dem einen Gott, der war und ist und sein wird.

LeerAuf der Herfahrt nach Frankfurt habe ich im Zug den Bericht einer Frau gelesen, deren Lebensweg typisch ist für viele, die Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre geboren wurden: Ende der sechziger Jahre Studentenbewegung, Faszination durch die rote Utopie; dann der Weg nach innen: Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung (auf Kosten anderer) unter friedlichen Therapeuten; und schließlich Baghwan: „Im Bann des Guru.” Was mir schon während des Lesens dieses Berichtes auffiel, war dies: Immer stand diese Frau unter einem Gruppenzwang. Und aus dieser Erkenntnis bekennt sie dann auch am Schluß ihres Berichtes: „Ich will versuchen, Leid zu verstehen und durch das Verstehen aufzuheben oder zumindest zu mildern. Ich will auf der Basis individueller Wahrheit wirken. Wo stehe ich jetzt als Mitdreißigerin? Jesus hat seinen eigenen Weg mit mir.”

LeerJesus hat mit dieser neuen Maria Magdalena, die befreit wurde von drei verschiedenen Gruppenteufeln, ebenso seinen eigenen Weg, wie mit der Maria Magdalena, von der uns das Evangelium berichtet. Er hat mit jedem von uns seinen eigenen Weg. Darum kommen wir nicht herum, auch nicht in einer christlichen Gruppe oder Bruderschaft und erst recht nicht in einer Kirchentagsmenge. Auch heute erfahren Menschen - oft nach Tränen und Ratlosigkeit, nach Suchen und Erstaunen: „Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt; ich bin dem Herrn begegnet, und das erwartet er von mir.” Amen.

Quatember 1987, S. 150-151

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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