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Mein Kirchentag
von Alfred Schwab

LeerKein Kirchentagsbesucher konnte sich auch nur annähernd einen Überblick über das vielfältige Geschehen in Frankfurt verschaffen. Ich nahm nur einen winzigen Ausschnitt wahr. Aber dieses Wenige, intensiv erlebt, verdichtete sich zu dem Eindruck meines Kirchentages. Die Vielfalt fraß das Individuelle nicht auf, der einzelne konnte sich als Teil des Ganzen erfahren. Die über 100 000 Besucher waren nicht „Masse”; immer wieder: Gesichter, nachbarliche Gespräche, Berührung der Hände. Mein Kirchentag begann täglich um 8.00 Uhr mit der Ev. Messe in der Matthäuskirche. Eucharistiefeier in einer strengen, gestrafften Form mit musikalischen Elementen, die Helmut Schaffert eigens für die Tage geschaffen hatte. Rasch nimmt die Gemeinde die neue Melodie eines kanonartigen Kyrie auf; seine Weise begleitet mich den ganzen Tag. Nach der Kurzpredigt meditative Stille von vier Minuten. Da ist es wieder: die große Schar eins im Schweigen, jeder einzelne in persönlicher Zwiesprache mit Gott. An vier Stellen der großen Kirche werden Brot und Wein ausgeteilt. Sitzend, stehend, schreitend stimmen alle ein in den Jubel des Leitverses: „Die da wurzeln im Hause des Herren, sie blühen im Heiligtum Gottes.”

LeerNach dem Segen gehen die vielen schnell auseinander, um sich an anderen Orten zu neuen Gruppierungen bei der Bibelarbeit zu verbinden. Berühmte Ausleger locken Tausende von Zuhörern an. Manche Halle ist zu klein. Ich gehe in das Zentrum der Gehörlosen, um in meine neue Aufgabe hineinzufinden. Einige hundert Gehörlose haben sich zur Bibelarbeit in kleine Gruppen aufgeteilt. Bei uns legt Schwester Roswitha aus Berlin die biblischen Texte aus. Die Gehörlosen lesen von ihren Lippen ab und deuten ihre Gebärden. Ich vergesse ihre Worte nicht: „Gott wirft unsere Sünde in das tiefe Meer. An dem Meer steht ein Schild; darauf ist geschrieben: ‚ANGELN VERBOTEN!’” -Wo wurde mir je anschaulicher und befreiender Vergebung der Sünden zugesprochen?

LeerIn der Halle 9 stellen sich die evangelischen Bruder- und Schwesternschaften vor. Viele hundert Kirchentagsbesucher schauen herein, informieren sich über Wesen und Auftrag der einzelnen Kommunitäten, manche im Vorübergehen, manche in intensivem Gespräch. Eins bleibt in Erinnerung. Jemand beklagt die Dürre seiner Heimatgemeinde, in der die Seele verschmachtet. Man hat sich zu einer Notgemeinschaft zusammengeschlossen. Es gibt Spannungen zwischen den Gruppen. Einige erwägen den Übertritt in die Freikirche. Ich gebe weiter, was mir jemand, der in gleicher Not steckte, als empfangene Wegweisung aus dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen mitgeteilt hat: „Laßt beides miteinander wachsen bis zur Ernte!” Warnung vor den schnellen Lösungen, Mahnung zur Bescheidenheit, Ermutigung zur Geduld. Zuletzt bekennt der Besucher, er habe eigentlich nicht zum Kirchentag kommen wollen; man habe ihn gewarnt vor dem verwirrenden Vielerlei. Aber er sei froh, über die Bedenken hinweggegangen zu sein; er habe an vielen Stellen auf diesem Kirchentag Gottes Spuren festgestellt. - Dem konnte ich nur beipflichten.

Quatember 1987, S. 167

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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