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Die lutherische Kirche und die Ostkirche
- Begegnungen und Distanz zwischen beiden Kirchen -
von Siegfried Röder

LeerIm Zeichen der ökumenischen Gesinnung gehen alle Kirchen aufeinander zu, um das gegenseitige Verständnis zu fördern. Die einzelnen Kirchen verkörpern eine Teilwahrheit, und jede kann von der anderen lernen. Die Wahrheitsfrage in den christlichen Kirchen ist letztlich eine Christusfrage. „Weil die Wahrheitsfrage”, so Steinwand, „für eine christliche Kirche in Christus ihren Grund und ihr Kriterium hat, so liegt darin bei der Begegnung oder in der Auseinandersetzung zwischen christlichen Kirchen etwas Trennendes uns Verbindendes.”

LeerIm Ringen um ein brüderliches Verhältnis zwischen den Kirchen können alle voneinander lernen. Zwischen der lutherischen und der Ostkirche gab es im Laufe der Jahrhunderte immer wieder fruchtbare Begegnungen. 1926 wurde in Moskau das 350jährige Bestehen der evangelisch-lutherischen Kirche in Rußland feierlich begangen. Im 16. Jahrhundert kamen auch lutherische Gebiete des Baltikums zu Rußland. Martin Luther widmet ein persönliches Schreiben „den auserwählten lieben Freunden Gottes, allen Christen zu Riga, Reval und Dorpat in Livland, meinen lieben Herren in Christo”. Seit 1809 gehörte auch das lutherische Finnland zu Rußland. Einige Zeit später strömten dann immer neue Wellen von deutschen Einwanderern nach Rußland hinein, die überwiegend der lutherischen Kirche angehörten. Das hatte zur Folge, daß im gesamten russischen Staatsgebiet eine lutherische Diaspora bestand. Ohne Polen und Finnland gab es 1918 in Rußland 539 Kirchspiele und 3 674 000 lutherische Christen, darunter 1 098 000 Deutsche.

LeerDiese Berührung der lutherischen Kirche mit der russisch-orthodoxen Kirche berechtigt zu der Frage: Was kann die lutherische Kirche von der Ostkirche lernen? Darauf ist - im Blick auf die damalige Zeit - zu antworten: nicht viel oder gar nichts. Die russisch-orthodoxe Kirche stand in besonderer Weise unter staatlichem Schutz, aber auch unter staatlicher Bevormundung. Die Verbindung von Altar und Thron war eine sehr enge. Natürlich stand die lutherische Kirche auch unter staatlichem Schutz, sie durfte aber keinerlei Missionstätigkeit ausüben. Ein orthodoxer Christ durfte auch nicht zur lutherischen Kirche übertreten (bis 1905). Die Kinder aus Mischehen gehörten zwangsweise der orthodoxen Kirche an. Es bestand für einen orthodoxen Christen überhaupt keine Möglichkeit, aus dieser Kirche auszutreten. Für den lutherischen Christen war die russisch-orthodoxe Kirche eine völlig fremde Welt, zu der man keinen Zugang fand.

LeerAls man 1840 mit falschen wirtschaftlichen Versprechungen Esten und Letten zum Übertritt in die russische Kirche aufforderte, erzeugten diese Maßnahmen in den Ostseeprovinzen eine Antipathie gegen die Ostkirche. Unumwunden kann gesagt werden, daß es der lutherischen Kirche völlig fernlag, von der orthodoxen etwas zu lernen. Die russische Theologie wurde von ihr völlig ignoriert, da die, seit Peter dem Großen, eigenartige Verbindung von Kirche und Staat zu einer Paralyse der Kirche führte. Versuche des Luthertums allerdings, Beziehungen zur Ostkirche anzuknüpfen, gab es bereits seit der Reformation, aber diese Bestrebungen wurden durch die Gegenreformation vereitelt und später durch die russische Regierung. Als 1917 die russische Kirche ein Martyrium erlebte und sich gegen die Gewalt mit aller Kraft wehrte, zeigte es sich, daß sie nicht „tot” war, wie die kommunistische Ideologie zu glauben meinte.

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Leer1927 begründete der Rigasche Pastor D. Schabert die Baltische Rußlandarbeit, die den Hungernden in Rußland helfen sollte, sich aber auch in geistlicher Hilfe bewährte. Es entstand eine große Jugendarbeit, deren Leiter Eduard Steinwand war. Gemeinsame Konferenzen orthodoxer Priester und lutherischer Pastoren ergriffen die Initiative, um in einer schlimmen Zeit das Wort Gottes zu retten. Probst von zur Mühlen schreibt (Die evangelische Diaspora, November 1940): „Unvergeßlich ist mir eine von der Baltischen Rußlandarbeit in Narva veranstaltete Konferenz, auf der lutherische und orthodoxe Geistliche in brüderlicher Gemeinschaft tagten. Hätte man in der Ära der Russifizierung gesagt, ich würde einmal vor der orthodoxen Geistlichkeit in russischer Sprache einen Vortrag halten zum Ausdruck des gemeinsamen Glaubens an den einen Herrn Jesus Christus, so hätte ich über eine so phantastische Prophezeiung nur gelacht. In Narva aber geschah es.” Eduard Steinwand meint über seine Arbeit, er sei dadurch ein besserer Lutheraner geworden und die russischen Geistlichen bessere orthodoxe Christen.

LeerWas kann aber die lutherische Kirche von der Ostkirche lernen? Schon aus der Kriti Leerk, die von seiten der russischen geübt wird, kann sie lernen. Einiges sei hervorgehoben: Schon Stefan Jaworskij kritisierte zur Zeit Peter des Großen, daß die lutherische Kirche sich auf die Bibel stütze und die Tradition verwerfe. Alexander Sturdza (1804-1860) meint, die Gemeinde Christi wird zuwenig herausgestellt. Aleksej Chomjakov (1804-1860) schließt aus der Verwerfung der Tradition: „In einem konsequenten Protestantismus müßte jeder Christ ein gelehrter Theologe sein. Der Protestantismus als Institution lebt nur von seiner Inkonsequenz so wie ein Sohn, der in Feindschaft von zu Hause fortgegangen ist, noch eine Weile vom Gelde lebt, das er von dort mitgenommen hat. Aber das Kapital braucht sich auf.” Daher wird einfach behauptet, der Protestantismus sei in seiner Einseitigkeit keine Kirche, sondern eine Häresie. Schon Pjotr Tschaadajew (1794-1856) sagt: „Die protestantische Kirche ist in der Tat eine unsichtbare Kirche, sie ist unsichtbar wie alles Nichtexistierende.” Sergej Bulgakow (1871-1944) bemängelt, daß im Protestantismus die Theologieprofessoren die höchste und einzige Autorität sind. Diese Art von Theologie sei zu gelehrt und der Protestantismus nichts weiter als eine „Professorenreligion”.

LeerDie lutherische Kirche könnte von der Ostkirche lernen, aber wie lernt man etwas, was aus einer Glaubensspaltung erfolgt? Eine Begegnung beider Kirchen würde eine Selbstkritik auf beiden Seiten voraussetzen, die einfach nicht gegeben war. Auf orthodoxer Seite bestand kaum einmal die Bereitschaft, die eigenen Grenzen zu erkennen. Man muß von einem einseitigen Charakter der Beziehungen sprechen, da nur die evangelische Seite bereit ist, von der Orthodoxie zu lernen. Die Orthodoxie meint allerdings, den wahren Glauben und den nationalen Gedanken zu hüten, was vom Protestantismus nicht gesagt werden kann. Glaubensfragen der Orthodoxie werden nicht nur von der Schrift, sondern von der Liturgie bestimmt, da diese ein „gebetetes Dogma” ist. Grundlage der ostkirchlichen Anthropologie ist die Kreatürlichkeit des Menschen und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Das Wesen des Menschen wird von beiden bestimmt: Der Mensch ist da, weil Gott ist, und der Mensch ist ein erschaffener Gott durch die Gnade (Bulgakow). Die Ostkirche lehnt es ab, den Menschen als etwas Minderwertiges zu betrachten, während das „westliche” Christentum den Menschen lediglich als ein der Erlösung bedürftiges, nicht aber als ein schöpferisches Wesen angesehen hat.

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LeerDer Mensch ist die Ikone Gottes, und deshalb ist seine Bestimmung die Vergottung (das Urbild Gottes in sich zur Darstellung zu bringen), und zu seinem Wesen als Persönlichkeit gehört das Schöpferische. Im Gegensatz zu politischen Ideologien ist für Gott die Persönlichkeit nicht Mittel, sondern Ziel. Die Persönlichkeit ist nie abgeschlossen. Sie erschafft sich im Laufe eines ganzen menschlichen Lebens (Steinwand); niemand hat das Recht, auf seine Persönlichkeit zu verzichten. Das Wesen des Menschen besteht in der persönlichen Freiheit, denn, wie Nikolei Berdjajew (1874-1948) sagt, Gott braucht die Freiheit des Menschen. Nicht die Sünde, das Böse, sondern die Freiheit des Menschen zum Guten und Bösen kann das geschichtliche Dasein vergiften. Nur wenn alle Kirchen bedingungslos anerkennen, daß die Liebe der Schlüssel zum Wesen des Menschen ist, kann ein christliches Zusammenleben in Ost und West möglich sein.

LeerDaher steht die östliche christliche Anthropologie dem reinen Humanismus näher als die Anthropologie des christlichen Westens. So ist Gastfreundschaft ein Ausdruck der Freude über den Menschen; der Osterkuß ist eine Freude über den Miterlösten. Zwar ist der Mensch ein Ebenbild Gottes, doch ist er ins Netz des Bösen verstrickt. Der Mensch ist gut und schlecht zugleich! Um im Leben zu bestehen, müssen wir aber nicht die Sünden, sondern zuallererst das Gute im Menschen sehen. Die russische Literatur ist so beispielhaft dafür, daß sie vom kirchlich religiösen Bild des Menschen nicht gelöst werden kann. Bei Dostojewskij ist die Freude am Mitmenschen auch der Schlüssel zum Wesen des Menschen. Doch gibt es auch bei ihm Menschen, die das Ebenbild Gottes zerstören: Der Großinquisitor; Smerdjakow, der Selbstmord verübt; Iwan Karamasow, der Empörer gegen Gott; sowie Stawrogin und Kirilow in den „Dämonen”.

LeerNach der Orthodoxie kommt das Böse aus dem Herzen. Die Irrtümer der katholischen und protestantischen Theologie sehen die orthodoxen Theologen in der unklaren Erfassung der finsteren Geistigkeit. Mit dem Protestantismus und Katholizismus ist sich jedoch die Orthodoxie einig, daß der Mensch ein Ganzes bleibt, aber von einer Zwiespältigkeit erfüllt ist. Die Erbsünde bedeutet keinen Verlust des Ebenbildes Gottes, und die Erlösung des einzelnen Menschen und der Menschheit kann nur im Bewußtsein der Sündhaftigkeit beginnen. Vor allem aber verlangt sie von allen Christen mehr Demut, die allein zu Gott führt. Nur die Demut kann erkennen, wie wir an der „Erbsünde” beteiligt sind. Und die Wahrheit über den Menschen wird nicht durch ihn selbst erkannt, sondern durch die „Schau der Liebe” (Steinwand). Der Mensch bleibt ein „gebrochenes” Wesen, bis die Erbsünde aufgehoben wird. Daraus resultiert auch die Gebrochenheit des Gewissens und die „Freiheit der Wahl”, die den Menschen zur Absonderung, zum Aufstand gegen Gott führt. Es ist gleichzeitig eine Freiheit zum Guten und Bösen. Die orthodoxe Kirche lehrt, daß die Überwindung der Selbstheit zur Erkenntnis der Wahrheit führt, die den Menschen frei macht.

LeerDazu gehört aber Demut (smirenije), die man nur in der Kirche findet. Nicht die weltliche Selbstsucht, sondern die Freiheit für Gott weist den Weg zur Freiheit für den Nächsten. Wer dies erfassen will, müsse den Weg der orthodoxen Erfahrung wählen. Leben in der Kirche, der Kirchlichkeit, die undefinierbar ist, brauche keine Dogmatik, sondern eine naive Hingabe. Daß man im Protestantismus die Spannung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche empfindet, ist für die Orthodoxie ein Fehler der Christologie, weil die Kirche als gottmenschlicher Organismus zerstört wird. Vor dem Credo betet der Diakon: „Laßt uns einander lieben, damit wir einträchtig bekennen mögen den Vater, Sohn und Heiligen Geist.”

Quatember 1987, S. 229-232

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-15
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