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Kirchliches Handeln im Widerstreit
Maßstäbe christlicher Verantwortung
von Theodor Schober

Leer1. Kirchliches Handeln darf nicht auf Äußerungen oder Aktivitäten von Synoden, Bischöfen, Pfarrern, Amtsstellen und kirchlichen Werken eingeschränkt werden, so sehr deren primäre Verantwortung am Tage liegt. Alle Getauften repräsentieren durch ihr Verhalten auch kirchliches Handeln. Hier schlägt das Herz einer Kirche des Priestertums aller Glaubenden, das den qualitativen Unterschied zwischen „Geistlichen” und „Laien”, zwischen „Amtskirche” und der Spontaneität von gemeindlichen Gruppen vom neutestamentlichen Bild von Kirche und den allen Christen verheißenen Gnadengaben her ständig zu hinterfragen hat.

Leer2. In der Nachfolge Christi darf es nicht um kluge Ausgewogenheit um jeden Preis oder um wohlfeile Anpassung an modische und gängige Denkschemata gehen, denn die klare Bezeugung des göttlichen Willens und seiner großen Taten, wie wir sie im gemeinsamen Hören auf sein Wort verstehen, ist uns aufgetragen.

Leer3. Darum kann das ängstliche oder bequeme Schweigen von Christen zu Unrechts-Tatbeständen oder zu geistlichen Verführungen genauso verhängnisvoll sein wie die laute Intoleranz einer vorschnellen Parteinahme (sosehr ein gewagtes Schweigen auch Bekenntnis sein kann!). Gerade weil unsere Kirchen insgesamt im Dritten Reich ihre Probe wohl kaum bestanden haben (Stuttgarter Schuldbekenntnis). Damit wird dem klaren oder latenten Widerstand vieler Einzelner und dem Zeugnis der „Bekennenden Kirche” nichts abgestritten. Gerade weil sie ihre christliche Verantwortung weitgehend auf das innerkirchliche Leben und seinen Bestandsschutz konzentriert haben, sollte das Wahrnehmen öffentlicher Verantwortung heute bei aller notwendigen Kritik im Einzelfall vom Evangelium her grundsätzlich begrüßt werden. Das Beispiel der evangelischen Kirchen in der DDR, wo öffentliche Stellungnahmen ihren Preis kosten, kann uns lehren, nicht eine geschwätzige Kirche zu sein, die sich zu jedem Problem äußert, ohne damit einen theologischen oder seelsorgerlichen Beitrag zu leisten, aber genausowenig eine stumme Kirche zu werden, die sich nur um ihren Kult kümmert und die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens ausschließlich anderen überläßt - in einer Verkennung eschatologischer Hoffnung.

Leer4. Wer an der Straße baut, darf sich über Besserwisser nicht beklagen. Seit Martin Luther stoßen Sendbriefe, Denkschriften, Verlautbarungen der evangelischen Kirche nicht nur auf Anerkennung, sondern auch auf Kritik - meist aus verschiedenen, gegensätzlichen Richtungen. Wenn solches Anstößigwerden aus dem Gehorsam des Glaubens erwächst, ist es legitim, mit Paulus (1. Korinther 4,1-5) und Petrus (Apostelgeschichte 5,29) zu verstehen und auszuhalten. Luther: „Das Predigtamt ist kein Hofdiener und kein Bauernknecht, sondern Gottes Diener und Knecht, und sein Befehl geht über Herren und Knechte.”

Leer5. Grundsätzlich gibt es darüber keinen Streit in der Kirche. Aber der Teufel steckt meist im Detail.

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LeerGegen die heute viel beklagte und leider oft nicht zu Unrecht kritisierte Moralisierung der biblischen Botschaft und gegen eine direkte Verpolitisierung des Protestantismus hilft nur die geist-gewirkte Überwindung einer heillosen Bibel-Vergessenheit oder gar Bibel-Verdrossenheit abendländischer Christen am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Für evangelische Gemeinden wirkt diese Gefahr tödlich. Denn sie gerade stehen und fallen mit ihrer Beheimatung in der Bibel. Unser oft lahmes, manchmal aber auch durch falsche Leidenschaften überhitztes Zeugnis als Christen in unserer Welt kann nur im beständigen hörbereiten und dann zur Sprache befähigendem Umgang mit der Bibel geheilt werden.

Leer6. Ausgangs- und Zielort, Überprüfungsstelle und Justierungs-Einrichtung für kirchliches Handeln, aber auch dessen zentraler Schwerpunkt ist und bleibt der Gottesdienst im Dreiklang von Gebet, Zeugnis und Dienst und mit seinen beiden gleichhohen Gipfeln Predigt und Sakramente. Wie sehr die auf Geistesgegenwart angewiesene viva vox evangelii, die lebendige Stimme des Evangeliums, als kostbarer Schatz reformatorischer Kirchen heute auch bedroht ist, zeigen die Sätze von Bischof von Keler:

Leer„Neben der Psychologie wird heute die Moral, die politische Moral, zu einer neuen Gesetzlichkeit. So droht die Mitte der Heiligen Schrift, Jesus Christus, in die Ferne zu entschwinden. Nicht seine Gottestat, sondern unsere angeblich rettenden Glaubenstaten erfüllen den Vordergrund. Christus wird vom sacramentum zum exemplum. Der Predigttext verliert seine Kraft, wenn er nur als Sprungbrett für den Kopfsprung in die jeweilige Tagespolitik und politische Überzeugung des Predigers dient... Der evangelische Gottesdienst steht und fällt mit dem Bibelbezug der Predigt. Die biblische Botschaft soll laut werden.”

LeerEs gehört zum Auftrag einer mündigen Gemeinde, mit ihren Dienern und Dienerinnen am Wort darüber zu wachen, daß die Unterscheidung (nicht Trennung!) der „beiden Reiche” und von „Gesetz und Evangelium” durchgehalten wird und die Kirche gerade auch in ihrer öffentlichen Verantwortung bei ihrer Sache bleibt. Luther: „Menschliche Freiheit besteht darin, daß sich die Gesetze ändern, die Menschen aber nicht. Christliche Freiheit besteht darin, daß sich die Menschen ändern, selbst wenn die Gesetze unverändert bleiben.” (Galater-Kommentar).

Leer7. Solche Verkündigung hat freilich Konsequenzen. Christlicher Glaube erweist sich darin, daß er in der Liebe „energisch” wird (Galater 5,6). Das ist Bibelarbeit mit den Händen! Martin Luther King: „Wer das Böse ohne Widerspruch hinnimmt, arbeitet in Wirklichkeit mit ihm zusammen.” Kirchliches Handeln muß sich darum mitten in der Welt - nicht zuletzt auch durch den Mund und die Arbeit christlicher Fachleute - bewähren, darf aber nie die falsche Hoffnung wecken, den Himmel auf Erden schaffen zu können. Obwohl Gott einmal „alles neu” machen wird, sind wir nicht der Verpflichtung entnommen, alles daran zu setzen, als seine gehorsamen Mitarbeiter und Signalgeber schon jetzt an der Veränderung der Verhältnisse zu arbeiten, uns also nicht mit den gegebenen Zuständen einfach abzufinden. Denn der Nachfolgeweg der Christen führt von der gläubigen Jenseits-Erschlosssenheit zur tapferen Diesseits-Entschlossenheit.

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Leer8. Dazu gehört auch das rechte Verhältnis zu Wissenschaften und Technik. Beide dürfen nicht zum Vormund der Bibel werden. Ihre Vergötzung ist genauso falsch wie ihre Verteufelung. Ihre Versuchungen und ihre Chancen liegen in den Menschen, die mit ihnen umgehen - also in uns selber. Beispiele: Computer-Gesellschaft, Gen-Technologie, Apparate-Medizin, Weltraum-Erforschung.

LeerTheologie ist keine Lehrmeisterin der Naturwissenschaften, sondern das geistliche Programm, das aus der Fülle des biblischen Zeugnisses des Alten und Neuen Testaments Herkunft und Zukunft der Welt und alles Lebens erkennbar macht und an die daraus erwachsende Verantwortung jedes Menschen für sich und seine Umwelt erinnert. Es ist legitim, wenn sich die Kirche dort zu Wort meldet, wo die Würde des Menschen und die Heiligkeit des Lebens gefährdet sind.

Leer9. Die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses steht vor allem dort auf dem Prüfstand, wo christliche Überzeugung und berufliche „Zwänge” gegen einander zu stehen scheinen. Beispiele:
das Dilemma des „C” in der Tagespolitik;
das Freund-Feind-Denken im Wahlkampf;
strategisch/taktische „Notwendigkeiten” im Gegensatz zur Wahrheit;
Inflation des Gewissens aufgrund von Parteidisziplin;
wirtschaftliche Vorgaben (Waffenproduktion und -export) zur Erhaltung der Arbeitsplätze;
Nicht-Aufarbeiten der NS-Vergangenheit;
Umgang mit dem Mammon im privaten und Partei-Leben.
Leer10. Christliche Verantwortung muß sich auch auf den Lebensstil auswirken. Denn sie ist keine kultische, politische oder zweckdienliche Prothese, die man abschnallen könnte, wenn das Privatleben beginnt. An der Bereitschaft zum Teilen - Zeit, Geld, Lebensraum, bezahlte Arbeit, Wissen - zeigt sich gelebter Glaube.

Leer11. Das bedeutet keine Uniformierung der Stile und keine Dämpfung originaler Prägungen. Pluralität in Frömmigkeitsformen und Lebensplanungen gehört zum Reichtum gottgeschaffener Kreativität. Wer daraus freilich ein pluralistisches Prinzip macht und das Abbröckeln bibelbezogener Normen fälschlicherweise als Befreiung des Menschen verkauft, trägt zur Verwirrung in der Kirche und zu einer Verstärkung der ohnehin vorhandenen moralischen Unempfindlichkeit unserer Gesellschaft bei. Die Freiheit, zu der Jesus uns befreit hat, entspringt an seinem Kreuz. Ihre Proklamation ist das Proprium der Kirche. Daß sich daraus auch Konsequenzen ergeben, die sich in bestimmten Formen einer Befreiungstheologie niederschlagen, ist legitim. Nur darf Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden. Wo die Bekenntnis-Frage aus dem Reichtum kirchlicher Tradition als unnötiger Ballast von gestern mißverstanden wird, verfault der Kern des Christseins, auch wenn die Schale noch eine Zeitlang ansehnlich bleibt. Dann bekäme Georg Huntermann recht: „Die Sorge, im Abseits zu stehen, als Feind der Veränderung gebrandmarkt zu werden, wird zum Motor der Säkularisierung.”

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Leer12. Daraus folgt nicht, daß zum Beispiel in ethischen Fragen unter Christen stets ein Konsens bestehen muß. Ihn unter dem gemeinsamen Hören des Evangeliums zu suchen und dabei auf den Anderen - auch außerhalb der Kirche - zu hören, ist die eine Seite. Kommt ein Konsens aber nicht zustande, erweist sich christliche Verantwortung nicht zuletzt darin, wie dann der eigene Standpunkt glaubwürdig und werbend vertreten wird, ohne den Andersdenkenden zu verunglimpfen oder gar zu verketzern.

LeerWeder der einzelne Christ noch die Kirche als ganze haben auf jede ethische oder politische Frage immer eine einzige und allein richtige und zu jeder Zeit gültige Antwort, die unter dem Mandat Gottes für alle zu vertreten wäre. Beispiele: Wehrdienst, Überwindung der Apartheid, Atomkraft. Die Verkündigung der Kirche muß daher erkennen lassen, wo sie im Namen Gottes die unbezweifelbare Wahrheit proklamiert - zu gelegener und ungelegener Zeit - oder wo sie aus der Sicht der Verkündiger Denkanstöße, Warnungen oder Empfehlungen an Gemeinden, Politiker, Wissenschaftler und andere gibt, die zu deren Wahrnehmung christlicher Verantwortung beitragen können, auch wenn sie nicht immer deckungsgleich sein werden.

Leer13. Es gibt freilich Richtpunkte, die christliche Verantwortung auch bei unterschiedlicher Einzelentscheidung nie außer acht lassen darf, zum Beispiel:
die Würde jedes Menschen ohne Ansehen von Partei, Nation, Rasse, Religion, Leistung, moralischer Qualität;
die rechtzeitige Verhütung kriegerischer Konflikte angesichts einer atomaren Weltbedrohung (Friede ist mehr als Sicherheit!);
die Erhaltung und mögliche Sanierung der bedrohten Schöpfung;
familien- und kinderfreundliche Lebensmöglichkeiten;
mehr soziale Gerechtigkeit gerade für die Schwächsten: Wo liegen heute die relevanten sozialen Konflikte?
Das Dilemma der Sozialhilfe!
Wo gibt es wirkliche gelebte Solidarität mit den Arbeitslosen?
Sind wir sensibel für die Notruf-Säulen in der sozialen Landschaft, die Suchtkranken, Verzweifelten, Einsamen, Ausgegliederten?
LeerNicht nur soziale und gesetzliche Therapie an den Symptomen, sondern zupackende Beseitigung der Ursachen - auch auf die Gefahr hin, daß Widerstand bestimmter Interessengruppen laut wird!

LeerEs gehört zum kirchlichen Handeln, durch Verkündigung, Hauskreisarbeit, Erwachsenenbildung, soziale Dienste, die Eigenverantwortung der Betroffenen zu stärken und viele neue Verbündete für die schwächsten Glieder der Gesellschaft zu werben!

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Leer14. Die Mitarbeit an der Versöhnung - weltweit und hautnah - ist ein untrügliches Kennzeichen christlicher Verantwortung, auch wenn dabei kirchliches Handeln Streit entfacht. Beispiele:
Abbau der Vorurteile eines Schwarz-Weiß-Denkens (Ost/West und Nord/Süd);
Kampf gegen Feindbilder (Nicaragua, Zigeuner u. a.);
Brückenbau über uralte und neue Gräben (Konfessionalismus);
Mut zu neuen Denkmodellen im Blick auf eine bessere und gerechtere Weltgesellschaft, in der heute noch „U-topisches” morgen seinen topos, seinen Ort, finden kann, „wenn Gott den Zeiger stellt” (Luther).
LeerDazu gehört auch kirchliches Mitdenken durch Kammern, Denkschriften u. a. über eine neue Weltwirtschaftsordnung!

Leer15. In einer weltweiten Krise der Entmutigung ungezählter Menschen hat die Kirche ihren legitimen Platz in der Front der Ermutiger und sollte dabei keine Berührungsängste haben im Blick auf ungewohnte Partner. (DDR: Kirche = unabhängige Vertrauensinstanz!)

LeerDer Platz der Kirche ist nicht der Sessel der Priviligierten, sondern häufig der Platz zwischen allen Stühlen.

LeerWas die Kirche dabei einzubringen hat, ist freilich unverwechselbar und unverzichtbar:
Mut zum Leben, weil Gott es uns anvertraut hat;
Mut zum Leben, weil Schuld vergeben wird;
Mut zum Hoffen, weil unsere Probleme, Ängste, Lösungsversuche und Streitpunkte immer nur Vorletztes sind!
LeerAm Letzten gilt: ER KOMMT!

Quatember 1988, S. 64-69

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-14
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