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Ärztliche Seelenführung
Vor 50 Jahren
von Hans-Dietrich Paus

LeerBeim Lesen von Jahresprogrammen der Einkehrhäuser und beim Zusammenstellen der Termine fällt mir immer die Vielzahl der verschiedenartigen Angebote auf, die unter den Stichworten „Meditation”, „Selbsterfahrung” oder auch „Ganzheitlichkeit” stehen. Wenn man dazu noch die Fülle der Angebote kirchlicher Träger und anderer Institute sieht, dann kann man den Eindruck haben, daß dies offenbar ein besonderes Kennzeichen unserer Zeit sei, angesichts der viel beklagten (aber auch tatsächlich vorhandenen) „Reizüberflutung” und seelischen Verkrüppelung nun verstärkt nach Wegen des Eins-Seins mit sich zu suchen. Dazu gehört sicherlich auch die Wiederentdeckung der religiösen Dimensionen.

LeerIm Rückblick ist es daher interessant, bereits in den „Evangelischen Jahresbriefen” 1938 im Artikel von Felicia Froboese davon zu lesen, wie sie das „Absterben des geistigen Lebens” des Menschen beschreibt. Unter der Überschrift „Ärztliche Seelenführung” weist sie dabei auf die von C. G. Jung wiederentdeckten „Grundgesetze seelischen Lebens” zur Wiedergewinnung des in der Tiefe der Seele Verborgenen hin.

LeerGerade auch manchem religiös motiviertem Kritiker an der Praxis bestimmter Meditationsformen kann die dort aufgenommene Erkenntnis C. G. Jungs entgegengehalten werden: Daß nämlich auch da, wo keine „geistlichen” Übungen im Wortsinn vollzogen werden, religiöse Inhalte wieder zu Bewußtsein kommen und am Ende zum „Heilsein” führen. Die folgenden Auszüge des Aufsatzes von Dr. Felicia Froboese sind dem Johannisbrief 1938 entnommen.


LeerÄrztliche Seelenführung beruht auf dem Wissen darum, daß das Ich-Bewußtsein des Menschen nur einen kleinen Teil der Totalität der Seele ausmacht, und daß der Mensch daher unvollständig ist und sich in einer Selbsttäuschung befindet, wenn er sein Ich für den kraftgeladenen Mittelpunkt seines Wesens hält, für den das Wort gilt: was ich will, das kann ich. Die Bemühungen der ärztlichen Seelenführung sind deshalb darauf gerichtet, den Menschen zu einer Begegnung mit dem „Nicht-Ich” zu führen, d. h., ihn die Wirkungen und Äußerungen des dunklen, ihm unbewußten Anteils seiner Seele erfahren zu lassen. In diesem dunklen, vom Bewußtsein nicht erhellten Raum der Seele...

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Leer... befinden sich nicht nur früher im Bewußtsein gewesene und dann lediglich vergessene oder verdrängte Inhalte, wie Freud es glaubte - sondern dieser unbewußte Seelenteil ist der Urgrund und Mutterschoß des Bewußtseins, aus dem dieses erst spät in der Entwicklung der Menschheit und des einzelnen emporgetaucht ist, einer kleinen Insel des Meeres vergleichbar. In diesem Urschoß ruhen daher auch alle Keime für noch nicht Bewußtes, aus dieser Tiefe kommen die schöpferischen Einfalle, es ist das Reich des Ungeborenen, das Reich der Bilder, das Reich der schöpferischen Phantasie. Anfangs ist das Ich-Bewußtsein schwach und dauernd in Gefahr, von den Wogen der Bilder überflutet zu werden -daher ist es (beim einzelnen wie in der Menschheitsentwicklung) nötig, daß es sich schützt, indem es sich abdichtet gegen die Flut.

LeerDieser Abdichtungsprozeß hat jedoch beim heutigen Menschen derartige Grade angenommen, daß jegliche Kommunikation mit jener schöpferisch befruchtenden Feuchtigkeit aufgehoben ist. Ein Austrocknungsprozeß hat eingesetzt. Die Seele befindet sich in einer Lage, wie ein Baum auf Sandboden, der durch eine undurchlässige Tonschicht gegen das Grundwasser isoliert ist. Die Nahrung suchenden Wurzeln stoßen gegen diese Schicht und finden keinen Weg. Dann verkümmert auch die Krone, und der Baum stirbt ab. Denn, wenn der Saftstrom von unten nicht nährt, versagt auch die Atmung der Blätter, d. h. der Stoffaustausch mit den Elementen der Luft, dem Element des Geistes. D. h., auf den Menschen übertragen, daß auch sein geistiges Leben abstirbt, wenn er gegen den Mutterboden, den dunklen Seelenanteil, isoliert ist. Die erste Sorge des Seelenarztes ist es daher, das bedrohte Leben der Seele wieder herzustellen, die Tonschicht abzuräumen oder durchzustoßen, damit ein Austausch wieder möglich wird...

LeerNun beobachtet der Arzt den Heilungsprozeß - so wenigstens ist C. G. Jung uns vorangegangen und hat dabei wichtigste Grundgesetze seelischen Lebens wieder entdeckt oder neu entdeckt. Er fand das Gesetz der gegenseitigen kompensatorischen Ergänzung des bewußten und des unbewußten Seelenanteils. D. h., daß jeder der beiden Anteile den andern zur Vollständigkeit ergänzt. So geschieht es, daß bei Menschen, in deren Bewußtsein die religiösen Symbole jede Kraft verloren haben, plötzlich aus dem Unbewußten, in Träumen oder Visionen, religiöse Inhalte ins Bewußtsein drängen und eine Erneuerung bewirken - allerdings dann meist in einer dem kirchlichen Dogma, der herrschenden Lehre, fremden Form. In der ärztlichen Seelenführung, wie Jung sie übt, gibt es keine geistlichen Übungen im strengen Sinne. Allerdings verlangt Jung von seinen Analysanden Alleinsein, Schweigen, Sich-Versenken, Einkehr, Besinnung. Er läßt sie meditieren - aber Inhalt der Meditation sind die aus dem Unbewußten - sei es nun in Träumen, Visionen oder sogenannten „unbewußten” Zeichnungen oder Malereien - aufgestiegenen Bilder und Worte.

LeerUnd das ist der grundsätzliche Unterschied gegenüber allen religiösen Meditationsübungen des Westens und Ostens, in denen der Inhalt gegeben wird und streng begrenzt ist auf das, was die Weisheit und die Erfahrung der Kirche als Hort der religiösen Tradition als heilsam erkannt hat. Wenn und solange ein Mensch das Heil in der von der Kirche gebotenen Form ergreifen kann, darf und soll und braucht er den Jungschen Weg nicht gehen, er wird auch gar nicht auf die Idee kommen, es zu tun. Denn der Weg in die Tiefen ist gefährlich und ungesichert - und nur diejenigen werden und müssen ihn unter Umständen gehen, denen alle andern Wege verschlossen sind.

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LeerWenn sie ihn aber gehen mit dem ganzen Ernst, den die seelische Not ihnen aufzwingt (und der darin zum Ausdruck kommt, daß über dem Eingang zu Jungs Hause die Worte stehen „vocatus atque invocatus Deus aderit”, „gerufen sowohl wie ungerufen wird Gott dabei sein”), so kann ihnen geschehen, daß der verloren gegangene Sinn ihnen begegnet gerade im Sinnlosen. Wenn das geschieht, niemand weiß das besser als Jung, so ist das „Gnade”, denn weder der noch so gute Wille des Arztes noch der des Patienten kann das erzwingen.

LeerDaß es diese Art von „Gnade” gibt auch im außerkirchlichen Raum, hat Jung tausendfältig erfahren. Aber wohl nur, weil er Gott immer anwesend weiß in seinem Sprechzimmer, weil er also immer in der „letzten Verantwortung” steht, kann seine Arbeit mit den Hilfesuchenden so „gesegnet” sein. Nicht er hilft, sondern etwas, was außerhalb seines und seines Patienten Willensbereiches liegt, jenseits der beiden Iche, läßt da, wo Gefahr ist, auch das Rettende wachsen. Wenn das geschieht, so wird erfahren, daß jenseits der Zone, wo das kleine Ich denkt und will und handelt, eine höhere oder tiefere Weisheit sinnvoll waltet...

LeerJedenfalls ist hier, im Unbewußten, der Ort, wo die Seele offen ist gegen das Über-Individuelle. Wo sie - mit andern Worten -eintaucht mit ihren Wurzeln in das kollektive Unbewußte, wo alle Religion ihren Ursprung hat, und wo religiöse Urerfahrung gemacht wird. Wenn der Theologe von der „Einwohnung Gottes” in der Seele spricht, so ist das Tor, durch das Gott einziehen kann, das Unbewußte, denn da ist die Seele offen, während das Ich überall abgekapselt ist durch feste Wände. Alle Erleuchtung, alle Offenbarung, von der in der Bibel die Rede ist und in den Biographien von Heiligen, Propheten und Bekehrten, geschieht in veränderten Bewußtseinszuständen, sei es nun in der Ekstase in Visionen oder einfach im Schlafe in Träumen - jedenfalls immer auf der der Welt und dem Bewußtsein abgekehrten Seite der Seele.

LeerEs wäre nun aber ein Irrtum zu denken, Jung wolle seine Patienten unbewußter machen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bemühungen ärztlicher Seelenführung gehen alle darauf, das Bewußtsein zu erweitern, um wesentliche Stücke des Unbewußten den Menschen bewußter zu machen, die Grenze nach dem Unbewußten zu durchlässig zu machen und sie ein Stück in das unbekannte Land vorzuschieben. Denn das ist der dem Menschen vorgeschriebene Weg, seitdem er vom Baume der Erkenntnis gegessen hat. Eine Rückkehr in das Paradies der Unschuld des Unbewußten, jenseits von Gut und Böse, gibt es nicht. Die Unschuld und die Frömmigkeit des Tieres, die darin besteht, ganz einfach das zu sein, wozu Gott es gemacht hat, muß vom Menschen auf der höheren Stufe bewußter Selbsterkenntnis und demütiger Annahme des erkannten „So-Seins” neu errungen und verwirklicht werden. Das wäre der Zustand seelischer Gesundheit im Sinne C. G. Jungs, das „Heilsein”, zu dem ärztliche Seelenführung verhelfen möchte.

Quatember 1988, S. 92-94

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-14
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